Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Fünfzehntes Kapitel

Am Morgen darauf begegnete ich auf dem Gang zum Gericht am Uhrtürmchen des Bockenheimer Tors Ruth Baddach.

Sie war wirklich hübsch geworden und sah stolz und vornehm aus. Als ich höflich grüßend vorbei wollte, sprach sie mich an.

»Ich habe auf Sie gewartet, Herr Doktor.«

»Hier? Auf mich?«

»Ich weiß, daß Sie heute um halb zehn Uhr Termin haben.«

»Ja, woher denn?«

»Ich habe mich, ohne meinen Namen zu nennen, auf Ihrem Bureau erkundigt.«

»Sehr schmeichelhaft –«

»Das soll es natürlich nicht sein. Nur: sehr einfach. Ich begleite Sie ein Stück, darf ich, Sie haben ja Eile. Und wenn ich Sie aufhalte, hören Sie mir doch nicht zu.«

Und wir gingen zusammen, gut Schritt haltend, über die Zeil, auf der um diese Stunde das geschäftliche Treiben erwachte. Spaziergänger aus der Gesellschaft waren kaum zu begegnen.

»Wollen Sie einen Prozeß führen, liebes Fräulein?«

»O nein!« Sie lachte; und ich sah wieder ihre Oberlippe die langen weißen Zähne freigeben. »Prozesse überlass' ich meinem Vater. Der hat eine kleine Leidenschaft dafür. Ein Prozeß muß immer »schweben«. Ich nenne ihn schon den »schwebenden Kommerzienrat«. Aber Sie wissen ja selbst . . .«

Ich wußte allerdings. Der Kommerzienrat war ein erfreulicher Klient von mir. Als Besitzer von drei Häusern im Osten in der Nähe des Zoologischen Gartens, eines Geschäftshauses in der Fahrgasse und zweier neuer Etagenhäuser im vornehmen Westen, fehlte es ihm nie an Gelegenheit, »sich nichts gefallen zu lassen«, wie er das ausdrückte. Gegen Arme und Bedrückte gutmütig, hatte er die Neigung, Wohlsituierten gegenüber auf dem Buchstaben der von ihm entworfenen, sehr knifflichen Kontrakte zu bestehen. Und er konnte am selben Tage einem armen Teufel, der ihm zwei Jahre die Ateliermiete schuldig geblieben war, klaglos »rücken« lassen und mit einem südamerikanischen Konsul um eine Tapete, eine Türklinke oder einen im Kontrakt nicht erlaubten Foxterrier in die zweite Instanz gehen.

»Mit was kann ich Ihnen also dienen, mein liebes Fräulein?«

»Mir – dienen? Das ist auch nicht ganz der Zweck meines ungewohnten Morgengangs. Sonst liege ich nämlich um diese Zeit noch tief, tief in den Federn – ich lese abends lang . . .«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.«

»Das tu' ich auch nicht. Ich erscheine nur nicht gerne anders, wie ich bin. Und ich brauche nicht so viel Schlaf, wie es scheinen könnte, wenn Sie mal hören, daß ich gewöhnlich erst um zehn Uhr aufstehe.«

»Um zehn Uhr? Aber Sie haben doch mehrfach, als Ben noch da war, mit ihm morgens um acht auf dem Forsthaus gefrühstückt?«

»Ja – damals . . . Da sind wir auch geritten.«

»Freilich. Das könnten Sie aber doch noch

»Ich könnte – ja. Aber – vielleicht langweilt's mich. Ich kenne jeden Reitweg durch den Stadtwald und jedes Huhn auf dem Forsthaus und der Schweinstiege . . . Aber Sie erwähnten Ben. Seinetwegen geh' ich hier mit Ihnen.«

»Seinetwegen?« Unwillkürlich blieb ich stehen.

Sie trat an die immer geschmackvolle Auslage des Ströhleinschen Geschäfts und schien die hübschen, teuren Luxusgegestände aufmerksam zu mustern, während sie langsam vor sich hin sprach:

»Ich hab' einen Brief von Ben. Aus Verona.«

»Ist etwas – passiert?«

»Passiert? Nein, nein. Der Brief ist sogar sehr vergnügt. Aber –«

»Kommt der – Monte Rosa drin vor?«

»Auch.« Sie lächelte wieder ihr verständnisvolles Lächeln. »Überhaupt viel Berge, viel Geographie. Rundblicke. Ein bißchen verdächtige Rundblicke von Türmen und so.«

»Nun schließlich, Rundblicke, liebes Fräulein Ruth, von sicheren Türmen aus genossen, scheinen mir noch keine direkte Gefahr. Türme sind überhaupt nur für Lebensmüde gefährlich. Sie werden mir zugeben, von dieser traurigen Gilde ist Ben weit entfernt.«

»Sehr weit. Er genießt und freut sich des Genusses.«

»Den wir ihm alle doch gönnen –?« Ich sah sie scharf beobachtend an.

Ihre feinen Nasenflügel zitterten ein wenig. Es kam etwas Hochmütiges in ihre Augen; aber sie war dadurch eher schöner, denn der Hochmut stand diesem linienschönen, kühlen Kopf. Ich dachte, eine orientalische Gemme müßte dieses Profil zeigen, das irgendwann, zur Zeit der Richter vielleicht, als Baruch oder Gideon das Schwert führte, in Israel schon eine Rolle gespielt.

»Ich möchte nicht mißverstanden werden,« sagte sie, »wenn ich indiskret erscheine. Ben ist gleichaltrig mit mir – Sie entsinnen sich vielleicht, daß unsere Bekanntschaft eigentlich eine Bekanntschaft unserer Ammen war. Wir wurden, ein paar Tage alt, um die Promenaden spazieren getragen, beide im Steckkissen.«

»Des Ihrigen erinnere ich mich sogar noch. Es waren Valenciennesspitzen dran – zu Hause bei uns wurde mit Begeisterung von unseren Damen von diesem Kissen gesprochen.«

»Wirklich mit Begeisterung?« Sie streifte mich mit einem prüfenden Blick von der Seite. Dann sagte sie kühl referierend: »Meine gute Mutter protzte gern ein bißchen. Sie hat kurz gelebt und vielleicht eine wehmütige Ahnung gehabt, daß sie ihren Reichtum nicht lange genießen werde. Und dieser Reichtum war ihr neu. Sie stammte aus sehr kleinen Verhältnissen. Mein Vater hat sie, als Tochter eines Schuldners in Fürth, kennengelernt und sich – es war wohl das erste und einzige Mal in seinem Leben – sofort in sie verliebt. Und da mein Vater gewohnt ist, rasch zu kaufen, was ihm gefällt, war sie sechs Wochen später seine Frau. Ein Jahr später lag ich in den von Ihnen ironisierten Valenciennesspitzen.«

»Ich habe mir nicht erlaubt, zu spotten.«

»Sie hätten's ruhig tun können. Hätte meine Mutter ihre erwachsene Tochter erlebt, so hätte sich diese kleine Schwäche gegeben. Sie wäre verdorrt unter meinem Hohn. Man hat, aber man redet nicht davon.«

»In Frankfurt nicht immer das Übliche –«

»Nein, leider. Aber es sind wirklich nicht nur die Glaubensgenossen meines Vaters – ich bin mit zwölf Jahren getauft – die . . .«

»Aber nein, das mein' ich auch nicht. Es ist mehr noch ein Rest des Trotzes der alten freien Reichsstadt – der verblichenen Senatorenherrlichkeit – ein wenig sogar des Gefühls landsmännischer Zugehörigkeit zu Goethe –«

»– und zu den Rothschilds! Das Volk hier in seiner Sprache, die am Main so lieb und fast hübsch klingt und draußen in der Welt gleich ein bißchen gewöhnlich wird, sagt in seiner treffenden Derbheit: Dick duhn is mei Lewe – Gott kennt mei Umständ'!«

»Verzeihung,« ich sah heimlich auf die Uhr, »aber wir nahen uns dem Gericht, dem Tummelplatz meiner Pflichten, und entfernen uns von Verona.«

»– dem Tummelplatz von Bens Vergnügungen. Sie haben recht. Ich wollte nur noch sagen – meine Freundschaft zu Ben ist fest und ehrlich.«

»Ich weiß. Er schätzt Sie sehr.«

»Das ist sehr richtig ausgedrückt. Er – schätzt mich. Schätzt mich sehr.« Ihre Stimme war nicht so ganz sicher, als sie das sagte. »Schätzt mich so sehr, daß er mich zuweilen sogar, arglos vergnügt, in sein Herz sehen läßt.«

»Ein etwas närrisches, aber ein gütiges, warmes Herz.«

»Vielleicht zu gütig für die Welt und die Zeit. Es muß für Männer, wenn sie nicht Geschäftsleute sind, wie mein unter Zahlen großwerdender Vater, der erst rechnet, dann handelt, und dann erst redet – ich meine, es muß Momente geben, in denen sie von unserem großen Landsmann lernen und seinem köstlichsten Wort.«

»Und welches ist das köstlichste Wort Goethes?«

»Ach nein. Diesmal vom alten Amschel Rothschild. Mein Vater erzählt die Geschichte gern, wie den alten Baron – oder war er's noch nicht – ein redegewandter Schnorrer hart bedrängte mit Aufzählung ganz schrecklicher Unglücksfälle, die ihn betroffen. Da zog der alte Amschel schließlich, dicke Tränen in den Augen, die Perlenklingelschnur und sagte zu dem eintretenden Diener mit bewegter Stimme: »Moritz, schmeiß den Kerl raus – er bricht mir das Herz!«

Ich kannte die Geschichte, da sie mir mein Klient, der Kommerzienrat, fast jedesmal erzählte, wenn er mich konsultierte. Aber ich fand ihre Beziehung zu Ben nicht ohne weiteres.

»Sie spielen auf die große Gutherzigkeit meines Bruders an? Ist Ihnen da vielleicht ein Fall bekannt geworden, der . . .«

»Ich tue etwas Ungewöhnliches, ich weiß das.«

Sie warf stolz und energisch den Kopf zurück und jedes Wort, das sie jetzt sprach, kam überlegt und entschlossen heraus. Wie reif ist dieses noch nicht einundzwanzigjährige Mädchen, dacht' ich, eine fertige Frau.

»Wir Frauen sind älter, als die Männer, die mit uns im selben Jahr und Monat geboren sind.« Es war, als ob sie in meinem Schädel die Gedanken ablesen könne. »Und wenn wir die gleichaltrigen und doch viel jüngeren Männer schätzen, so dürfen wir ein bißchen für sie mitdenken. Besonders wenn sie rasch Italien auskosten wollen, und wir ruhig hier in unserem alten Frankfurt sitzen.«

»Hat Ben Ihnen irgendwelche Geständnisse gemacht?« Ihre Vorbereitungen beunruhigten mich mehr, als ich gestehen wollte.

»Wenn ich ihn hier hätte, wüßt' ich alles. Als er ging, liebte er Elsbeth Tomasius, Ihre niedliche Schwägerin.«

»Noch immer?«

»Wieder. Damals nach der verunglückten Korrespondenz schien es ja vorbei. Er zürnte ihr ernstlich, daß sie seine gemütvollen Briefe so unvorsichtig herumliegen ließ. Na ja, sehr geistreich war das ja auch nicht. Entweder man korrespondiert – oder man korrespondiert nicht. Aber die leichtsinnige Zuziehung Dritter ist auf alle Fälle zu vermeiden . . . Als sie dann zurückkam, vielleicht noch hübscher, jedenfalls reifer, als sie gegangen war, und ein wenig vom Parfüm der französischen Schweiz umwittert, da ist wohl die alte Neigung rasch wieder erwacht. Aber Ihr Herr Schwiegervater war auf der Hut. Die berühmten Spaziergänge nach dem Kompaß wurden eingestellt oder nur in großer Gesellschaft unternommen. Ben trauerte, sehnte sich und hoffte. Er hat mich noch beim Abschied gebeten – aber nein, das gehört nicht hierher.«

»Erscheine ich Ihnen sehr unbescheiden, Fräulein Ruth, wenn ich Sie bitte, jetzt zu dem zu kommen, was hierher gehört?«

»Nein. Sie scheinen mir sogar sehr bescheiden. Das ist er übrigens auch. Ein kleiner, nicht unschöner Familienfehler, an dem wir Baddachs nicht leiden. Also – Bens Vertrauen zu mir in seinen Briefen ging nicht so weit, wie sein mündliches. Er hat eben mit Briefen üble Erfahrungen gemacht. Immerhin hat er mich – im vorletzten – gefragt, ob ich nicht auch den Namen »Teresina« entzückend finde? Ob nicht eine Welt von Zärtlichkeit und Anmut im Wohllaut dieses Namens läge? An einer späteren Stelle hat er dann gemeint, daß der Romane stets schon bei der Namengebung von Städten, Flüssen, Menschen mit einer fabelhaften Sicherheit im symbolischen Wohlklang das Wesen des zu Bezeichnenden erschöpfe.«

»Dann wäre also nach dieser Theorie eine gewisse Teresina – zärtlich und anmutig?«

»Das ist anzunehmen. Und ist ihm zu gönnen.«

»Wieso – ihm zu gönnen?«

»Nun – er reist offenbar mit ihr.« Diese Mitteilung kam nicht bösartig, anklagend oder gar zornig denunzierend hervor. Ruth Baddach blieb von einer erstaunlichen schlichten Sachlichkeit. Mir war's fast, als ob ich mit ihrem Vater rede. Aber das Sachliche beunruhigte mich doch sehr.

»Er – reist mit ihr? Hat er Ihnen das auch geschrieben?«

»Nein. Hätte er's geschrieben – so wäre das – vielleicht, sicher weiß ich's nicht – ein Grund gewesen, Sie heute morgen nicht auf Ihrem Gerichtsgang abzufassen. Denn dann wäre die Bitte um Diskretion stillschweigende Voraussetzung. Aber so . . . In seinem letzten Brief, den ich gestern erhielt, taucht der Name Teresina wieder auf. Und dann – ja, dann hat mit derselben Post mein Vater einen Brief von Ben bekommen.«

»Ihr Herr Vater?«

»Ja. Ich glaube den ersten. Ich erkannte die Handschrift. Der Stempel »Verona«, wie bei dem meinen. Ich habe nichts gesagt, daß ich den Brief bei der Post auf dem Frühstückstisch liegen sah. Der Vater hat nichts gesagt, daß er ihn bekam. Bloß am Abend, in der Pause des »Lohengrin«, hat er plötzlich gefragt: »Hast du Nachricht von Ben? Wie gefällt ihm Italien?« Ich berichtete von den Rundblicken. Mein Vater hörte lächelnd zu und nickte: »Brav, brav! Wenn er sich auf Aussichtstürme beschränkt – das Billett für den Turm kostet fünfundzwanzig Centesimi? wenn er nobel ist, einen halben Lire für den Kustoden – so reist er billig.« Und nach einer Weile: »Sammelt er eigentlich was, dein Freund Ben? Ich meine, hat er Interesse an Münzen, alten Bildern – oder so was?« – »Ich glaube, er sammelt Autographen.« – »Hm« – Ich kenne meinen Vater. Wenn er »Hm« sagt, glaubt er nie, was er gehört hat. Und wieder nach einer Pause, der Vorhang hob sich schon zum dritten Akt: »Das kann teuer werden.«

»Ja, glauben Sie denn, daß Ben in Italien alte Handschriften und –«

»Nein. Ich glaube –«

Wir standen vor dem Gericht. Sie sah mich ruhig lächelnd an mit einer konventionellen Höflichkeit, die mir als geschickte Maske für die beiden grüßend vorbeikommenden Kollegen bestimmt schien. Und ich dachte wieder nicht ohne Bewunderung: Wie fertig, wie reif ist dieses kluge, schöne Mädchen.

»Ich glaube,« sagte sie, »daß er mit der zärtlichen und anmutigen Teresina reist, und daß diese Begleitung viel Geld kostet.«

»Sie meinen, er hat Ihren Herrn Vater angepumpt?«

»Sagen wir: er hat Ihre Frau Mutter nicht beunruhigen wollen. Das war zartfühlend und auch nicht dumm. Sein Vermögen liegt zum Teil auf Vaters Bank. In drei Monaten hat er das Verfügungsrecht. Er wird in dem Brief, den ich nicht kenne, meinem Vater geschrieben haben: »Könnten Sie mir nicht a conto« . . . Und so.«

»Glauben Sie, daß es sich um große Summen . . .«

»Da kann ich nichts glauben. Ich kenne weder die Fülle der Anmut noch den Grad der Zärtlichkeit dieser Teresina. Weiß von ihr selbst nichts, als den Namen. Aber ich kenne Ben mit seinem raketenstreuenden Idealismus. Wenn er liebt – erzieht er. Und die Erziehung einer Teresina dürfte Geld kosten. Und wenn er liebt, denkt er – Sie wissen das selbst von jenem Besuch des Rates Tomasius – gleich ans Heiraten . . .«

»Großer Gott! Er wird doch nicht . . .« Aber dann mußte ich in der Erinnerung lächeln. »Damals freilich – war ich's dann, der geheiratet hat.«

»Damals, das ist richtig. Aber Sie sind jetzt nicht in Verona. Und sind schon verheiratet – glücklich, wie ich weiß – und können die Schwester der Teresina nicht noch dazu heiraten.«

»Nein, nein, gewiß nicht.« Mir kam der Schweiß, obschon der Frühlingsmorgen kühl und bedeckt war.

»Und der Vater der Teresina – wenn sie einen hat und kennt – ist ein Südländer, wohl kaum ein Principe oder Nobile, eher . . . Na, das bleibt Vermutung. Aber er stellt sich vielleicht der Angelegenheit gegenüber nicht auf den Standpunkt des Rates Tomasius, der den Heiratsgedanken weit von sich wies. Ben gibt dort unten Geld aus; er wird auch erzählt oder angedeutet haben, daß er vermögend ist und –«

»Allgütiger – das sind ja schreckliche Perspektiven! Aber der Bengel muß sich doch selbst sagen –«

»Was verliebte junge Leute »sich selbst sagen« – das ist gewiß viel, aber niemals das Vernünftige. Ben sieht nur die Siebzehnjährige  –«

»Ist sie erst siebzehn, die Teresina?«

»Ich weiß nicht – ich nehme das an. Und er sieht ihr sicher sehr originelles Figürchen auf dem noch nie geschauten Hintergrund blühender Mandelbäume, blauer Seen, dunkler Lorbeergebüsche. Er glaubt vielleicht, daß er diesen Frühling und diese Landschaft mitheiratet. Hofft, daß die siebzehnjährige Teresina niemals siebenundzwanzig wird oder gar siebenunddreißig und dann schon längst verblüht ist, eine dicke Matrone mit fettigen Fingern, wie kleine Fleischwürste, mit speckigem Hals, Korallen in den fleischigen Ohren und einen schwarzen Bartansatz in den Mundwinkeln. Er vermag nicht vorauszusehen, daß alle Erziehung nichts genützt hat, daß die Signora den ganzen Tag Konfekt ißt und bestenfalls französische Romane liest; daß sie nie Deutsch lernt und das heimische Italienisch längst mit gequetschter fetter Stimme spricht. Daß im Salon keine Mandoline liegt, aber ein zerrissenes Korsett und ein seidener Unterrock; daß die ganze Wirtschaft aus dem Leim geht und eine verrückte Pleite übrigbleibt . . .«

Dem Ernst des Tatsächlichen zum Trotz und meine schlimmen Vermutungen besiegend, stieg mir jetzt doch ein Lächeln auf. Die kluge Kühle dieser Frühreifen war vom Temperament durchbrochen. Eine Leidenschaft malte. Und hinter aller Freundschaft und Teilnahme und Vorsicht blitzte, grell und unverkennbar, die weibliche Eifersucht auf. Ruth liebte Ben, den sie kannte, und haßte Teresina, die sie nie gesehen.

»Ich danke Ihnen, mein liebes Fräulein Ruth – danke Ihnen sehr.«

»Sie werden mich nicht verraten?«

»Was denken Sie! Bestimmt nicht.«

»Und – was werden Sie tun?«

»Zunächst meinen Prozeß da oben verlieren – denn, unter uns Verschworenen, die Sache meines Klienten steht oberfaul. Dann – zu meiner Mutter gehen und ihr sagen: ein lieber Kollege von mir, der nicht genannt sein möchte, hat vor ein paar Tagen in Mailand und Verona unseren Ben getroffen. Der gute Junge scheint etwas heftig und unvorsichtig zu genießen. Laßt uns im Familienrat erwägen, was zu geschehen hat.«

»Und wenn etwas geschieht –?«

»Erfahren Sie's!«

»Aber nichts –« Zum erstenmal, seit wir zusammen gingen und sprachen, klang etwas wie eine weiche Bitte aus ihrer Rede. Ihre hübschen dunklen Augen unterstrichen, fest in den meinen liegend, jedes Wort, »aber nichts – was ihm weh tut?«

»Gewiß nicht. Denn ich liebe ihn, den Ben, wie –« Beinah' hätte ich gesagt: »wie Sie,« aber ich hatte die forensisch geschulte Zunge noch in der Gewalt und vollendete den herzlich begonnenen Satz etwas nüchtern: »Wie man eben seinen Bruder liebt, nicht wahr?«

Ein Händedruck. Wir schieden.

Zehn Minuten später nannte der Kollege Meyer III den von mir vertretenen und in meinem letzten Schriftsatz als kindlich reinen Biedermann und Typ des treudeutschen Kaufmanns geschilderten Lederhändler »einen der Krebsschäden des südwestdeutschen Lederhandels« und stellte unter Beweis, daß er in Rußland mehrfach vorbestraft sei und in Deutschland mit beiden Ärmeln bereits das Zuchthaus gestreift habe.

Die Aussprache mit der Mutter am Abend, bei der auch Tante Tüßchen unglücklicherweise zugegen war, wurde durch der Letztgenannten lebhafte Phantasie und Neigung, immer das Schlimmste zu erwarten, beträchtlich verwirrt.

Schon bei den ersten Andeutungen, daß eine Frau im Spiele und Ben vielleicht zu größeren Aufwendungen veranlaßt sei, sah Tante Tüßchen das Vermögen Bens zertrümmert, ihn selbst, katholisch geworden, in Abhängigkeit von einer italienischen Verwandtschaft, deren vornehmste Mitglieder noch Abruzzenräuber und Wegelagerer der Campagna waren. Als sie in ihren Ausführungen so weit ging, Bens Leben von dieser schrecklichen »Familie Teresina«, wie sie in Verkennung des weiblichen Vornamens die Sippe nannte, für ernstlich bedroht zu erklären, beschwor mich die Mutter, noch in dieser Stunde abzureisen, um Ben zu retten und, möglichst unvermählt, heimzubringen.

Ich beruhigte die aufgeregten Frauen. Ben konnte sowenig an sein Vermögen, da er noch drei Monate von der Großjährigkeit entfernt war, wie ohne Papiere in Italien oder sonstwo eine rechtsgültige Ehe schließen.

»Aber umgebracht werden könnte er,« beharrte Tante Tüßchen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Dazu braucht er keine Großjährigkeit und keine Papiere.«

Das war ja nun richtig. Aber ich machte sie darauf aufmerksam, daß von solch schrecklichen Verbrechen doch niemand etwas habe, und daß sie diesem Fräulein Teresina, das sie nicht kenne, solche Dinge wirklich nicht nachsagen dürfe.

»Du kennst sie aber auch nicht,« schluchzte die Mutter. »Wenn du nicht reisest – reise ich. O Gott, und ich kann das Reisen so schlecht vertragen!«

»Beruhige dich nur, Mama, wenn's wirklich nötig sein sollte, bin ich ja schließlich bereit. Aber bedenke doch – das kostet wieder viel Geld und –«

»Aber jede Stunde, die der Junge da unten allein ist – oder mit der Familie Teresina zusammen, kostet's viel mehr Geld.«

»Mehr, wie er bei sich hat, kann er ja zunächst nicht . . .«

»Oh, sag das nicht – er wird Geld leihen von Wucherern –« Tante Tüßchen fand diesen unerfreulichen Ausweg.

»Die werden sich hüten, einem deutschen jungen Kerl, der –«

»So wird er spielen. Monte Carlo ist ja ganz dicht bei Verona –«

»Nanu!«

»Weit ist's nicht. Und dann wird er versuchen, das Verschleuderte wieder einzubringen. Und wird dublieren und immer wieder dublieren – bis er gar nichts mehr hat. Der Ärmste! Und dann wird er – aber ich will das nicht ausdenken! Kennt ihr den Selbstmörderfriedhof von Monte Carlo? Da liegen sie reihenweise, die armen Teufel, reihenweise . . . Landschaftlich sehr schön – aber was hat ein Toter von der Landschaft?«

»Nu hör' schon auf!« Ich war ärgerlich. Diese Unglücksunkerei machte mich auch schon nervös.

Ich dachte nach. Hörte nur noch, wie Tante Tüßchen, schmerzlich bewegt, anmerkte: »Ich hab's euch aber gleich gesagt: laßt ihn nicht so weit reisen!«

Das war nun genau das Gegenteil von dem, was sie gesagt und geraten hatte. Aber Tante Tüßchen spielte überhaupt in der Familie gern die Rolle einer Kassandra. Freilich nicht einer Kassandra, die das Unangenehme genau so kommen sah, wie es nachher eintraf, sondern einer nicht ganz so talentvollen Seherin, die allemal nachher, wenn Unangenehmes passiert war, sich einbildete, dieses restlos vorausgesehen zu haben.

Das praktische Ergebnis der erregten Beratungen aber war dies. Es wurde telegraphisch – mit Rückantwort – bei meinem Schwager Kurt angefragt, ob er nicht auf Kosten der Familie die Reise übernehmen wolle. Begründung sollte ihm auf der Durchreise in Frankfurt mitgeteilt werden. Wir dachten bei diesem Vorschlag daran, daß sein Freund, der Erbprinz, ja gerade auch in Italien war und nach Mathildens Brief mit der Scala verhandelte, und daß somit vielleicht diese Reise auch noch mit dienstlichen und höfischen Pflichten zu verquicken war, was möglicherweise auch die Kosten etwas verringert hätte. Die Antwort, die, leider nachts um drei Uhr, an mich kam und Käthe sehr erschreckte, lautete: »Kurt gestern Mandeln herausgeschnitten. Umständen nach wohl. Reise unmöglich. Was ist denn mit Ben los? Tausend Grüße Malthilde.«

Also blieb nichts übrig. Ich mußte fahren. Und fuhr.


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