Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Zwei Nummern vom Konzert im Schloßrestaurant hatten wir noch bei einer Tasse Kaffee gehört, da kam mein Schwager Fips durch die mit Studenten, Bürgern und Fremden reich besetzten Tische, um uns zu sagen, der Kühlmann stünde draußen und hielte seine Sonnenpferde kaum mehr im Zaum.

Kühlmann erwies sich, als wir heraustraten vors Parktor, als der Lenker der Droschke Nr. 1, der mir von dem im Wagen wartenden Ben und Willibald als ihr bewährter Leibkutscher vorgestellt wurde. Ein treuherziger, etwas zerknitterter Mann, der mit seinem einen zugekniffenen Auge mich an Hans Huckebein erinnerte.

Jetzt bekam Ev' ihren Platz rechts von mir im Fond, Ben und Willibald saßen uns gegenüber. Fips hatte den Bock erklettert, verschränkte parodistisch die Arme und stieß kerzengerade die Nase in die Luft wie ein mitfahrender herrschaftlicher Diener.

»Aber, Herr Doktor!« lachte Kühlmann und trieb seine Pferde an, die zwar keine Sonnenrösser waren, aber recht wackere, gut gehaltene Bergsteiger.

»Wer ist der Doktor?« fragte ich.

»Der Doktor – das ist jeder von uns,« sagte Ben ernst. »Der wackere Kühlmann lebt immer in der Zukunft, verstehst du. Deshalb kann man ihm auch vom Fünfzehnten an die Fahrten schuldig bleiben.«

»Verzeih, lieber Willibald,« sagte ich und zog schmerzvoll meinen linken Stiefel zurück, »aber das ist mein Fuß.«

»Gewiß,« nickte Willibald scheinheilig, »ich wußte das. Aber ich dachte, das sei jetzt die große Mode. Ben-Crassus, der in Modedingen Tonangebende macht's doch auch bei seinem Gegenüber?«

Ev' wurde rot und lachte. Die Wagenstimmung war sehr vergnügt, und ich dachte so bei mir: wenn jetzt die gute Frau Margarete Morgenthau wieder mit ihren Koffern vorbeiführe, sie würde einen gar seltsamen Begriff von der Erfüllung meiner Mission bekommen.

Geschichten und Witze wurden erzählt, dazwischen Belehrungen über Weg und Gegend eingestreut. Oben auf halber Berghöhe, wo der Wald so kühl und herrlich die breite Straße schattete und dann und wann mit lieber List an Biegungen einen überraschenden Blick ins Tal freigab, wurde der Vorschlag gemacht, zu singen. Erst sangen wir gemeinsam: und kein Gesangverein, der vor dem hohen Richterkollegium sein Preislied anstimmt, kann's ernster nehmen mit seiner Kunst, als wir an jenem sonnigen Frühsommernachmittag hoch überm Neckar.

Dann kamen die Solokantusse. Ben wurde dispensiert wegen seines hindernden Maulkorbes.

»Du hast's nicht nötig, schön zu singen, Crassus,« neckte Willibald, »du riechst dafür schön. Nach Jodoform. Das kann ich, als dein Nachbar, am besten beurteilen.«

Fips sang einige selbstverfaßte Verse zu Ehren der Jurisprudenz nach der Melodie der Lorelei. Willibald gab mit einem kräftigen Bariton, der Unterricht verdient hätte, ein Rodensteiner Lied zum besten. Ich sang mein Leiblied: »Wohlauf, die Luft geht frisch und rein,« von dem mir unter frohem Gelächter drei Verse geschenkt wurden. Kühlmann, der Leibkutscher, entledigte sich auf allgemeines Drängen eines Gesanges, der das Schicksal eines Hirtenmädchens und eines Schäfers etwas unklar behandelte. Auch über die Melodie war der Sänger nicht mit sich einig.

Zuletzt kam Ev'. Sie setzte den Hut ab und bog das Köpfchen zurück, daß ihr die Sonne zwischen den Zweigen durch helle Lichter ins Antlitz streuen konnte. Mit einer zarten Stimme, die selbst im Jubel des gewählten Liedes nicht ganz ohne leise Wehmut war, sang sie sich's vom jungen Herzen: »Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus . . .«

Zwei Stunden wohl und mehr fuhren wir so durch den herrlichen Laubwald und beruhigten unser Gewissen mit der schlau ausgegebenen Parole: der ehrenvoll blessierte Ben brauche durchaus Höhenluft, und körperliche Anstrengungen seien ihm noch verboten.

Ich erzählte Geschichten aus Bens Jugend und fand viel Anklang, denn er war ja ein origineller Bub gewesen. Als ich vermeldete, wie der vierjährige Ben einmal im Anblick eines Droschkenhalteplatzes auf dem Frankfurter Roßmarkt zur Mutter gesagt hatte: »Mama, meinst du nicht, daß ich Bauchelchesweh betomm', wenn ich so viel zu Fuß deh'?« war die Gesellschaft einig, daß sich sein Charakter durchaus in der Richtung dieses frühen Ausspruchs entwickelt habe.

Andere Kindergeschichten folgten. Schließlich sollte auch Kühlmann, der Leibkutscher, aus seiner Kinderstube erzählen. Aber er wehrte lachend ab: »Ei, meine Pferd' sind meine Kinder.«

»Na,« sagte Ben, »dann dirigieren Sie mal Ihre beiden vierbeinigen Töchter jetzt nach der Molkenkur!«

Auf der Plattform der Molkenkur, die den herrlichen Blick hinunter auf Schloß, Stadt und Fluß gewährt, waren schon viele Tische besetzt. Aber wir hatten Glück. Ein paar ältere Damen hatten gerade, erhitzt vom Wege, Platz genommen an einem der vordersten Tische, dicht am Geländer, da entdeckte die eine mit einem entsetzten Aufschrei, daß sie ihren Pompadour beim Aufstieg vom Arm verloren. Nun begaben sich die Drei eiligst auf die ziemlich aussichtslose Suche in aufgeregter Besprechung über die fluchwürdige Tücke solcher Pompadours und die bedauerliche Unachtsamkeit ihrer Trägerinnen.

So saßen wir an einem der vordersten Tische und genossen den vollen Rundblick.

»Was wird getrunken? Kaffee – Bier – Essig – Schokolade?«

»Warum nicht gleich Aqua clara et frigida?« grollte Fips.

»Das überlassen wir lieber Ben,« entschied Willibald.

Aber Ben zückte listig sein Glasröhrchen, das der Vorsorgliche mitgebracht hatte. »Ich werde diesen Kristallschlauch nicht durch Wasser entweihen! Ich schlage vor: wir brauen ein Böwlchen. Ev', du weißt hoffentlich nicht, was das ist?«

Ev' lachte. Das Lachen ließ vermuten, daß sie das Getränk kannte. Diese Vermutung wurde bestätigt durch die zweckmäßige Art, in der sie, als der Kellner den Mosel, das Selters, den Zucker und die Erdbeeren brachte, dem gewissenhaft mischenden Fips anmutig zur Hand ging.

Plötzlich sah ich Bens Augen, starr und erstaunt, auf einen Tisch in geringer Entfernung gerichtet: »Ja, Adi, ist das dort nicht –?«

Ich folgte der Richtung seines Blickes. Am Nebentisch saßen ein paar blutjunge Westfalenfüchse mit frischen Schmissen und tranken sich mit peinlicher Beachtung des Komments Ganze und Halbe übers Kreuz zu. Dann kam ein Tisch mit katholischen Geistlichen, die sich, emsig disputierend, an warmer Milch labten. Die hatten wohl kaum Bens Aufmerksamkeit in so hohem Maße erregt. Aber dort, am dritten Tisch, auf dem blanke Eisbecher und allerlei Kuchen standen, saß eine Gesellschaft, die von dem sonstigen Publikum durch eine gewisse fremde und betonte Eleganz abstach. Ein alter Herr in einem schwarzglänzenden Assyrerbart, den Panama in der Stirn, präsidierte. Neben ihm thronte die Gattin, deren vornehme Aufmachung sich noch nicht ganz von der Jugend trennen konnte, die einmal reizvoll gewesen sein mochte. Ein starkknochiger Hüne, flaumbärtig, den Saxoborussenstürmer nach hinten geschoben und einen leichten Verband auf der Stirn, sprach mit betontem Respekt in sie hinein, ohne daß die Professorin Zeichen besonderen Interesses gab. Von dem zweiten Jüngling, wohl dem Sohn des Ehepaars, sah ich zuerst nur das schmale goldene Armband am Handgelenk – und schon glaubt' ich ihn zu kennen. Meine Vermutung wurde zur Gewißheit, als ich ihm gegenüber in sehr schickem hellblauem Sommerkleid, auf dem dunklen Haar ein Florentinerhütchen mit Reiherstutz, Ruth Baddach erkannte.

Sie hatte mich auch gesehen und nickte lächelnd herüber. Dabei hob sie eine Schildpattlorgnette an langem Stiel zu den Augen und musterte unseren Tisch. Als sie Bens Wickelkopf gefunden hatte, wiegte sie den Kopf leicht, wie bedauernd, hin und her. Aber das Lächeln verschwand nicht aus ihren Zügen.

Wie auf Verabredung standen wir auf und steuerten hinüber, Ben und ich. Gerade hört' ich noch, wie Fips hinter mir sagte: »Eine Spinne muß mir immer in den Wein fallen. Da sitzt doch wahrhaftig der schöne Salomon, mein Handelsrecht!«

Ev' legte den Bowlenlöffel hin und sah uns nach, als wir hinübergingen.

Die Herrschaften, denen uns Ruth als liebe Frankfurter Freunde vorstellte, empfingen uns mit zurückhaltender Freundlichkeit. Der Professor wahrte die Distanz zwischen Lehrer und Studenten auch hoch über dem Auditorium. Die Gattin schien sich bei ihren eigenen Fragen genau so zu langweilen, wie bei unseren Antworten. Der Saxoborusse schüttelte Ben, die Mütze an den Leib gezogen, die Hand: »Wir kennen uns – sehr erfreut.« Und zu mir gewendet: »Freiherr von Buchecker.«

Aber ich hatte nicht viel Zeit über das Wunderliche der Situation und des studentischen Lebens nachzudenken, daß hier grimmige Duellgegner von vorgestern erlesene Höflichkeiten tauschten. Der galante junge Mann mit dem Armband erschöpfte sich in kühlen Zeremonien, Stuhlrücken, Verbeugungen, häufigem Lüften des Hutes und anderen Unternehmungen, deren Zweck ich nicht recht einsah. Ruth aber hielt durch ihre muntere Sicherheit das Gespräch zusammen. Bens Mensur und Befinden wurde nur gestreift, denn man wußte, der Professor war kein Freund von diesen ritterlichen Bräuchen. Auch genierte Herr von Bucheckers Gegenwart. Dagegen wurde die Schönheit der Aussicht hervorgehoben, besonders von der Frau Professorin in etwas wesenlosen Sätzen, die auch im Baedeker hinter zwei Sternchen hätten stehen können. Immerhin schien diese Anerkennung der Naturschönheit gerade von dieser Seite erfreulich, da die Dame der Gegend sprechend den Rücken drehte. Uns zu setzen lehnten wir dankend ab, da wir in Gesellschaft seien.

»Die Herren Tomasius und von Gollwitz, so weit ich sehe,« sagte Ruth. Und wieder hob sich der Schildpattstiel mit dem Silbermonogramm. Ich hatte, ohne es beschwören zu können, den Eindruck, daß der durch die Gläser verschärfte Blick, der an mir vorbei nach unserem Tische hinüberging, nicht gerade Fips oder Willibald verweilend musterte.

»Ja,« sagte Ben etwas verlegen, »meine Freunde und eine Verwandte – von Willibald.«

»Ich dachte mir's,« nickte Ruth kühl, »sie sieht ihm auch ein wenig ähnlich.«

Ben spürte die Bosheit. Willibald war nichts weniger als schön; und sein langes knochiges Gesicht hatte etwas von einem Pferd. Die Ähnlichkeit zwischen ihm und Ev' war von der Natur durchaus nicht vorgesehen und in Wahrheit nicht größer, als etwa die Ähnlichkeit der Hille Bobbe mit der Tizianschen Lavinia.

Der Professor erkundigte sich noch mit unbewegtem Gesicht nach dem Fortschreiten von Bens philosophischen Studien und freute sich zu hören, daß er hier den Doktor zu bauen gedenke. Dabei sah er nach der Uhr, als ob das mit dem Examen große Eile habe.

Theodorich hatte sich unterdessen mir gegenüber lobend über das Fruchteis, besonders über die Mischung Himbeer-Vanille, ausgesprochen und empfahl mir für denselben Genuß auch eine Konditorei in Mannheim. Da ich nicht nach Mannheim zu fahren gedachte und Fruchteis überhaupt nie esse, so ließ mein Dank vielleicht eine gewisse Herzlichkeit vermissen.

»Ich hab' dir noch zu danken für deinen letzten ausführlichen Brief, lieber Ben.« Ruth Baddach sagte das etwas lauter, als es mir just nötig schien. Vielleicht erweckte der Verband den Verdacht, daß Ben schwerhörig sei. Das trauliche »Du«, das die beiden aus ihrer Kinderfreundschaft beibehalten, schien den Professor und seine Gattin etwas zu befremden. Sie tauschten einen jener Blicke, durch die sich Eheleute, ohne zu ahnen, daß andere das verstehen, im geheimen mitzuteilen wünschen, daß sie sich doch sehr wundern müssen.

»Ich hab' dir nicht mehr geantwortet, weil ich ja wußte, daß ich dich bald hier sehe.«

»Famos.« Ben sagte das nicht mit der frischen Überzeugung, die er sonst seinem Lieblingswort verlieh. Vielleicht dämpfte Watte und Leinwand den Ton ein wenig. »Bleibst du lang hier?«

»Wenn mich die Tante nicht hinauswirft.«

Hier lächelte die Frau Professor das gefrorene Lächeln, das jeden Kraftausdruck anderer nachsichtig begleitete. Sie selber führte keine Kraftausdrücke. Der Professor aß, versonnen, sein Zitroneneis. Theodorich tauschte mit zwei durch die Tische lustwandelnden Rhenanen Verbeugungen, die einem Kaiser der Mandschudynastie beim Neujahrsempfang genügt haben müßten.

Ruth reihte in ihrer leichten, ein bißchen mokanten Art noch allerlei kurze Mitteilungen aus der Frankfurter Lokalchronik aneinander. Verlobungen, Kindstaufen, Todesfälle, Gastspiele am Schauspielhaus, Veränderungen an der Oper. Dann, mit einem Blick nach unserem Tisch, an dem Fips lauter, als vielleicht nötig, mit leeren Gläsern klapperte, streckte sie Ben den gelben dänischen Handschuh hin.

»Auf bald!« Und zu mir gewendet: »Den Philosophenweg nicht vergessen! Und den Pfiff aus Ihrer Lieblingsoper.«

Seit wann ist die »Jüdin« meine Lieblingsoper, dacht' ich, indem ich mich zum Abschied vor dem Ehepaar verbeugte.

Als wir an unseren Tisch zurückkehrten, erklärte Willibald von Gollwitz gerade vermittelst einiger Zündhölzer, Zahnstocher und von der Bowle ferngehaltener unreifer Erdbeeren auf einem Teller den Aufstand Arabi Paschas gegen die Europäer vor zwölf Jahren, den Vorstoß der Engländer auf Kairo und das Gefecht bei Tel-el-Kebir, bei dem ein Onkel Willibalds, der schon beim Bombardement von Alexandria verwundet worden war, wahrscheinlich gefallen, jedenfalls aber verschollen war.

Kam's nun daher, daß Willibald viele Verwandte hatte, die irgendwo bei irgendwas verschollen waren, und daß Ev' diese und ähnliche Geschichten, mit und ohne Situationsplan auf Obsttellern, schon öfter genossen; oder interessierte sie gerade hier oben auf der Molkenkur Arabi Pascha weniger, als anderes – jedenfalls sie sah zerstreut über den Gefechtsteller hin. Auch schien sie mir etwas blasser, als vorhin. So daß ich Bens besorgte Frage, ob ihr nicht wohl sei, verstehen konnte.

Nein, ihr war durchaus wohl. Aber sie meinte, wir sollten nicht so lange hier sitzenbleiben. Denn es werde kühl und auch wohl für Ben zu anstrengend. Auch werde der Wagen immer teurer, je länger er warten müsse; und der Kühlmann habe, wie sie wisse, heut abend noch eine Fuhre vom Schloßhotel nach dem Bahnhof.

Der Gründe waren viele; aber Fips widerlegte einen jeden mit schöner Beredsamkeit, während Willibald von Gollwitz mich unter Benützung der eben noch ägyptischen Zündhölzer und Zahnstocher über die große Reise Witzmanns ins Gebiet der Kongonebenflüsse und den Kassai abwärts bis zu seiner Mündung gründlichst unterhielt.

Wir waren mitten auf dem Kassai an sehr gefährlichen Stromschnellen mit einem für mich unaussprechbaren Namen, den Willibald aber, wie alles weitentfernte, mit spielerischer Sicherheit bewältigte, als die Gesellschaft des Professors Baddach aufbrach und grüßend an uns vorüberkam.

Jetzt hielten es Fips und Willibald für richtig, auch ihrerseits Ruth kurz zu begrüßen. So standen die drei einen Augenblick ganz in der Nähe unseres Tisches.

»Was wollte sie bloß damit –?« Willibald richtete diese Frage an Fips, während sie sich wieder setzten. »Sie sagt, sie freut sich, daß ich so hübsche Verwandte habe?«

Fips lachte, mit den Augen zwinkernd. Dann tippte er über den Tisch mit seinem Finger leicht auf Bens Hand und mit einer seitlichen Bewegung nach Ben hin äußerte er in pastoralem Ton: »Ev', meine geliebte Tochter, was hat dir der weise Fips Tomasius schon immer gesagt? Ehe der Hahn zum drittenmal krähte, wird er dich dreimal verleugnet haben!«

»Fips, du bist ein Kamel,« maulte Ben ärgerlich und warf ihm einen Kork an den Kopf.

»Das ist eine tätliche Beleidigung, die rotes Blut fordert,« meinte Ben düster. »Und deshalb komme ich dir meinen schäbigen Rest sine-sine auf dein ganz Spezielles!«

Ich merkte, daß Ev' diese Art der Unterhaltung nicht angenehm war. Ich wollte ablenken. »Mir scheint,« sagte ich, »dort von Mannheim her kommt ein Wetter.«

»Oh! Fips schien das leicht zu nehmen. »Sonntags kommen von Mannheim her noch viel unangenehmere Sachen. Nämlich die Bewohner, in Scharen.«

»Wir wollen gehen.« Ev' sah nach der Wetterwolke. Zum erstenmal fand ich in ihrem Gesichtchen eine weiche Wehmut, die ganz zu dem Unterton in ihrer Stimme paßte.

Wir brachen auf. Im Wagen bei der Rückfahrt disputierten Fips und Willibald über den Nutzen und Wert der kombinierten Rundreisebillette. Wir anderen schwiegen und genossen die Fahrt und die Landschaft. Auch an dem schönen Lied »Zwischen Frankreich und dem Böhmer Wald – da wachsen unsre Reben« beteiligte sich nur Fips und, aus dessen in die Form von Rippenstößen gekleidete Ermunterung, der Kutscher Kühlmann.

Ev' und ich spürten wohl den heraufziehenden Abend, der so viele Deutsche still und nachdenklich macht. Das Mädchen hatte wieder den Hut abgesetzt, und die Strahlen der zum Untergang sich neigenden Sonne fielen zwischen den Stämmen in ihr reiches blondes Haar. Ein goldener Glanz legte sich über ihre Stirne, und es schien, als ob sich das ernst gewordene Köpfchen senkte unter dieser Last, die ihr der Sommerabend wie einen Heiligenschein aufs Haupt legte.

. . . Als ich zu später Stunde im altertümlichen »Ritter« in meinem Bett lag, angenehm berührt von dem Gedanken, daß, wenn Ben recht hatte, schon Luther hier gewohnt und gut geschlafen, zog ich die Briefe hervor, die mir Ben gegeben. Elsbeth hatte mich beschworen, daß ich sie unbedingt lese, ehe ich sie persönlich zerreiße. Ich sollte das tun, damit ich mich überzeuge und das jederzeit beschwören könne, daß sie gänzlich harmlos und beträchtlich blöd gewesen seien.

Ich rückte das Licht dichter heran zur Lektüre. Als ich die Briefe aus dem Umschlag nahm, fielen mir zunächst ein paar zerknitterte Blumenblätter ins Bett. Das vermoderte Papier zeigte ein »J« als Monogramm. Elsbeth Tomasius – wo kam das »J« her? Aber jetzt sah ich, die Schrift war auch gar nicht Elsbeths Hand, die ich ganz gut kannte. Es waren überhaupt nicht Elsbeths Briefe. Es waren die ziemlich bewegten Briefe einer Frankfurter Dame, die ich auch kannte, und von der ich gar keine Ahnung hatte, daß sie einmal zu Ben . . . und daß Ben einmal zu ihr . . .

Schlimm war ja wohl auch diese Korrespondenz nicht gewesen. Und lag weit zurück. Aber immerhin, daß Ben noch gewelkte Herzenslenze da liegen hatte, die ich nicht kannte . . .

Ich stand nochmals auf und kehrte vorsichtig mit der Hand die getrockneten Blumenblätter aus dem Bett, in dem – vielleicht – schon Doktor Martin Luther geschlafen hatte.


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