Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Vierunddreißigstes Kapitel

Ich hatte die stolze Freude, daß an diesen Vortrag, der mir bei der unzulänglichen Vorbereitung selbst etwas kühn schien, eine längere Diskussion geknüpft werden sollte.

Frau Hayeck, geborene Zimmermann, gab zunächst einige interessante Kriminalfälle aus ihrer Familienchronik zum besten; das heißt nach Auszeichnungen ihres Ahnherrn, des Nikolaus Zimmermann, der darüber schon mit dem Kammergerichtsprokurator Kornelius Lindheimer eine wertvolle Korrespondenz gehabt. Die mitgeteilten Fälle hatten nun zwar eigentlich mit meinem Thema gar nichts zu tun, gaben der Rednerin aber willkommene Gelegenheit, auf ihre ruhmvolle Blutsverwandtschaft mit der Anna Margarete Lindheimer hinzuweisen, die des Frankfurter Stadtschultheißen Eheweib und damit Goethes Großmutter wurde. Sie kam dann – warum, war zunächst nicht einzusehen – auf den Schneider Friedrich Georg Goethe zu sprechen und wies dem Weimarer Geheimrat in seinen späteren Jugenderinnerungen einen Irrtum nach, indem nämlich das Vermögen der Familie Goethe aus der Arbeit des Schneiders und nicht aus der Mitgift seiner Frau stammte. Die zweite Gattin dieses Schneiders aber war eine Witwe Karoline Schelhorn, die von ihrem ersten Mann den Weidenhof auf der Zeil geerbt hatte. Frau Hayeck, geborene Zimmermann, versprach, einige alte, allerdings angezweifelte Bilder und Pläne dieses Weidenhofs in der nächsten Sitzung der Literarischen Gesellschaft mitzubringen; worauf sich nach dem eisigen Schweigen, das dieser Ankündigung folgte, niemand so recht von Herzen freuen konnte. Mit der Bemerkung, daß sich auch noch ein nicht ganz leserlicher Brief der Karoline Goethe, verwitwete Schelhorn, geborene Walther, im Besitz ihrer Familie befinde, schloß sie ihre Mitteilungen, für die ihr Ben mit etwas sauersüßer Höflichkeit den Dank der jungen Gesellschaft aussprach.

Willibald von Gollwitz berichtete dann in, wie mir schien, etwas aufgeregten Sätzen über ein peruanisches Volkslied, das ihm ein betrunkener Matrose in einer Hafenkneipe von Tabalinga, an der Mündung des Amazonenstroms, mitgeteilt und das in jeder seiner grausigen Strophen ein anderes Verbrechen verherrlichte. Er erbot sich, dieses sehr merkwürdige Lied, das zweiunddreißig Verse hatte, in einer der nächsten Sitzungen vorzusingen. Heute habe er so viel Chinin schon geschluckt, daß sein Gedächtnis verwirrt und seine Stimme belegt sei.

Max Güldenring, so kurzsichtig, daß er sich bei dem servierenden Kellner anstatt bei Ben zum Wort meldete, vertrat dann die Ansicht, daß der geistige Kampf gegen das Verbrechertum nicht mit dicken Büchern oder gar Komödien geführt werden könne. Das Volk verlange Pointen. Weshalb das Epigramm, der Vierzeiler, ihm als die einzig geeignete Form erscheine, in der solcher Kampf mit Erfolg geführt werden könne. Worauf Otto Honneff, der schon während meines Vortrags die zweite Flasche Bordeaux angebrochen hatte, ohne sich zu erheben, die Frage einwarf, ob sich Max Güldenring nun solche Epigramme riesengroß an den Anschlagssäulen plakatiert denke oder in neckischen Geschenkbüchlein gesammelt, verteilt in den Kaschemmen und Verbrecherkellern?

Max Güldenring erwiderte gereizt, daß er die Art der Verwertung der von ihm vorgeschlagenen geistigen Waffen gerne besseren Propagandisten überlasse, aber denn doch hier bemerken müsse, daß er dem Alkoholmißbrauch in allererster Linie an dem erschreckenden Anwachsen der Kriminalität die Schuld gebe.

Otto Honneff schien von dem Alkoholmißbrauch für sich persönlich nichts zu befürchten. Denn er schenkte sich ein neues Glas ein und teilte dem neben ihm sitzenden Fips Tomasius mit überflüssiger Stimmstärke mit, daß zu einer Zeit, als Herr Max Güldenring zweifellos noch nicht stubenrein gewesen sei, bereits in der »Kölnischen Zeitung« gestanden habe, er, Otto Honneff, sei ein zarter und sinniger Lyriker, dem die Zukunft gehöre.

Diese an sich gewiß richtige Reminiszenz beschwor Peinliches herauf. Denn sie veranlaßte den unrasierten Lyriker Konrad Körber das Heringsskelett und die Pellkartoffelreste energisch beiseite zu schieben und sich über die Unzuständigkeit der Berufskritik zu äußern. Auf einen schüchternen Zwischenruf, daß dieses mit dem Vortragsthema, das zur Diskussion stehe, doch eigentlich nichts zu tun habe, wurde Herr Konrad Körber sehr böse. Er entgegnete zornfunkelnd, daß er erstens wisse, was er sage, und zweitens wisse, warum er's sage, und drittens der Ansicht sei, daß die Sünde eines mit kritischer Macht Ausgerüsteten ein gemeines Verbrechen wider den Heiligen Geist sei. Und er, Konrad Körber, stehe hier gewissermaßen für den Heiligen Geist.

Hier erkundigte sich ein weiterer Zwischenruf nach dem Beglaubigungsschreiben. Das war ja nun nicht schön. Immerhin gehörte die ganze Reizbarkeit des Lyrikers Konrad Körber dazu, gleich so ausfallend gegen Ben zu werden, der den Zwischenruf schon deshalb ganz bestimmt nicht gemacht haben konnte, weil er sich gerade an einer Schinkensemmel entsetzlich verschluckt hatte und, ins Taschentuch hustend, im Saalwinkel stand. Aber Konrad Körber redete sich in immer größere Wut und führte mit einer merkwürdigen Verachtung aller Interpunktionen und Atempausen etwa dieses aus. Es sei ja sehr schön und erfreulich, wenn man pekuniär so gestellt sei, daß man einen Verdienst weder auf dem Markt noch auf dem Parnaß zu suchen brauche. Aus solch verdienstloser Unabhängigkeit aber das gute Recht herzuleiten, andere zu bevormunden und, ohne Selbstschaffender oder auch nur überhaupt von irgendwelcher Bedeutung zu sein, an die Spitze eines kleinen Kreises Selbstschaffender zu treten, das müsse er als eine Kühnheit bezeichnen, die, um mit Schiller zu reden, »ohne Beispiel in dieser Welt Geschichten sei«. Er, Konrad Körber, habe zwar die Gründung dieser Gesellschaft brieflich – und zwar in einer Epistel, die er zu seinen schönsten Prosaarbeiten rechnen müsse – begrüßt, habe sogar, wenn er sich recht entsinne, mit einiger Begeisterung von dem guten und gesunden Grundgedanken des Unternehmens gesprochen. Diese Begeisterung aber sei durch nichts gerechtfertigt, und er nehme sie hiermit zurück. Was Selbstschaffende, wie er, von dieser heute aus der Taufe gehobenen sogenannten »Literarischen Gesellschaft« zu erwarten hätten, das hätte sich ja gewissermaßen symbolisch schon in einer in den Frankfurter Blättern erschienenen Vornotiz gezeigt, in der bei Aufzählung der Gründer des Unternehmens gerade sein Name Körber niederträchtigerweise in Körner verdreht worden sei; offensichtlich um ihn zu verletzen und um ihn durch Erinnerung an den talentarmen sogenannten Dichter von »Leyer und Schwert« vor dem kleinen Häuflein Gebildeter, auf das es ihm schließlich allein ankomme und von dem er keinen hier sehe, lächerlich zu machen. Dann habe man als ersten Redner dieser angeblich »literarischen« Gesellschaft einen Mann hinausgestellt, der zwar ein ganz braver Anwalt sein möge, aber von der Literatur, das dürfe er doch wohl sagen, einen Dreck verstehe. Ein Vortrag, wie der gehörte, möge in einen Anwaltverein von Treuenbrietzen oder in eine Vereinigung der Zahntechniker des Oderkreises passen, aber nicht in eine literarische Gesellschaft der Goethestadt, in der doch immerhin noch einige Lyriker von Bedeutung lebten, die er hier nicht nennen wolle. Der literarische Rechtsanwalt aber habe bei unverantwortlich leichtsinniger Behandlung seines Themas nicht einmal gewußt, daß er, Konrad Körber, erst im Vorjahre in einem Romanzenzyklus »Der Lustmord im Roggenfeld« das gewagte Problem der Verherrlichung oder Erklärung des Verbrechens aus Leidenschaft in einer Weise behandelt habe, die zwar zur Konfiskation des Luxusdruckes – denn nur um einen solchen habe es sich gehandelt – aber auch zur Anerkennung durch einen angesehenen Berliner Kritiker geführt habe. Was sei nach solch kläglichem Eröffnungsabend von den folgenden Zusammenkünften zu erwarten? Es gebe doch wahrlich näherliegende Dichter, als den alten Kümmeltürken mit dem unaussprechbaren Namen, und wenn Herr Mewes durchaus den auf seiner Balkanreise versäumten Osmanjeorden noch nachträglich auf seine Heldenbrust befestigen wolle, so möge er über den Kümmeltürken und seine ebenso türkischen Kollegen auf einer Rhapsodenfahrt durch den Balkan Vorträge verüben. Hier in Frankfurt lasse man sich genügen an türkischen Zigaretten für die emanzipierten Weiber und an türkischem Honig für die vernaschten Kinder. Für die türkischen Dichter aber danke man; danke ebenso energisch und herzlich, wie für die literarischen Rechtsanwälte als Festredner und für die blutigen Dilettanten als Führer in literarischen Bewegungen und als Gründer und Vorsitzende literarischer Gesellschaften.

Ich muß sagen, nach einem ersten tiefen Erstaunen, nach einer ersten kleinen, heißen Blutwelle, die zum Kopf stieg, war ich ganz ruhig. Ich war sogar so durch und durch objektiver Jurist, daß ich mit einem Bleistiftchen auf dem Zettel meiner Notizen mir mit kleinen Strichen anmerkte, wieviel aussichtsreiche Beleidigungsprozesse aus dieser Rede sich ergeben könnten. Gerade als ich, gewissenhaft hinhörend, das zweite Dutzend anbrach, griff vorn der merkwürdige Redner mit einem kurzen Aufschrei in die Luft, als wollte er einen uns anderen unsichtbaren Schmetterling fangen, wippte einmal vor und zurück und fiel, den Tisch mit dem Heringsskelett mitreißend, nach hinten um.

Die Damen Ruth und Frau Hayeck, geborene Zimmermann, eilten hilfreich hinzu und bemühten sich um den Bewußtlosen. Ben rief nach Wasser. Erwin Schuster zerstörte sich durch tragischen Griff in die gebrannten Locken die Frisur und bot das mimische Bild grauenvoller Bestürzung. Der Kellner lief ratlos hin und her, und seine Stiefel vollführten ein Gekrach, um Tote aufzuwecken.

Max Güldenring aber, der Epigrammatiker, der mit Konrad Körber befreundet war, soweit man das mit temperamentvollen Männern überhaupt sein kann, gab, feierlich an Honneffs Weinglas klopfend, die Erklärung ab, daß der durch seelische Erlebnisse in Abgründe gestürzte Dichter durch Absinth und Opium, Genüsse, denen er abwechselnd huldige, in seinen Nerven so heruntergebracht sei, daß er leider derartige Anfälle öfter habe. Diese Anfälle seien, wie er zugebe, schrecklich anzusehen, blieben aber gottlob ohne tiefere Einwirkung auf Gesundheit, Leben und Produktion des zukunftsreichen Poeten. Erst vor drei Tagen sei Konrad Körber im Palmengarten beim Mittagskonzert mit einem Skatkränzchen ihm unbekannter alter Damen am Nebentisch über den verfehlten Grand der einen in einen furchtbaren Disput geraten, der mit demselben Anfall geendet habe.

Ben ging, ein Glas Wasser und eine Serviette in der Hand, sehr erregt umher. Ihm kam vor, er war an dieser ganzen üblen Angelegenheit schuld. Er entschuldigte sich bald bei Honneff, den auch der Zusammenbruch des Redners nicht von seinem Rotwein aufgescheucht hatte, bald bei den Damen, bald bei mir. Dann wieder half er die beiden feuchten Schwämme füllen und wieder auswinden, die der Kellner nach viel ratlosem Umherlaufen gebracht hatte und die dem Patienten nun abwechselnd auf die merkwürdig niedrige Stirn gedrückt wurden. Schließlich, als der Odendichter die Augen wieder aufschlug und, als erstes Lebenszeichen nach einem Glas Sherry verlangte, gab Ben Anweisung, den Genesenden in der gewünschten Weise zu laben, dann aber möglichst rasch eine Droschke zu holen und in Begleitung Max Güldenrings, seines Freundes, den sich Erholenden in seine Wohnung zu fahren.

Als dieses geschehen war, ohne daß, was ich sehr befürchtete, der auferweckte Dichter nochmals das Wort ergriff, brachen wir andern alle ebenfalls auf. Ziemlich schweigsam und unfestlich gestimmt. Wobei es sich herausstellte, daß die Damen im Eifer ihres Samariterdienstes dem durch den Sherry gekräftigten, heimkehrenden Lyriker Konrad Körber Bens neuen seidegefütterten Paletot angezogen hatten. Für Ben blieb nur das abgeschabte, unansehnliche Sommermäntelchen des heimgekehrten Odendichters, das ihm über die Brust zu eng und überall zu kurz war, und dessen beide zerschlissene Seitentaschen weit und unschön abstanden, da in der einen eine Tüte mit getrockneten Pflaumen und in der anderen ein größeres Stück Räucherspeck sorglich verwahrt waren. Hineinschlüpfen mußte Ben in das Mäntelchen, denn es war eine recht kühle Nacht, und er trug den Frack. Aber das Bewußtsein, nun auch noch schlecht und lächerlich angezogen zu sein, brachte den armen Kerl ganz um sein Gleichgewicht.

Er ging, blaß und mit gesenktem Kopf, schweigend, zwischen uns, den Hut in der Stirn und die Hände in die Taschen von Körbers Mäntelchen zu Speck und Backpflaumen vergraben. So schritten, dacht' ich, vermutlich die Opfer Robespierres zum Karren, der sie zur Guillotine fahren sollte.


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