Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Wir traten wieder ins Wohnzimmer.

Willibald, der Welteroberer der Zukunft, saß auf einem Stuhl, Ev' gegenüber, und hielt ihr mit steif gespreizten Händen die schwarze Wolle, die sie auf einen Knäuel wickelte.

»Wir sind gleich fertig.« Willibald bewegte ruckweise den Kopf: »Ben, sei so gut – ich hab' die Arme nicht frei – schlag mir doch mal die Mücke tot – links auf meiner Stirn sitzt sie, ich spür' sie.«

Ben klappste vergnügt die Mücke. »Gestochen hat sie schon. Aber du bist gerächt. Das Biest starb wie der große Julius – am Standbild des Pompejus.«

»So,« Ev' verwahrte das letzte Endchen der Wolle. »Jetzt müssen die Herren sich aber sputen. Fips ist sehr pünktlich – wenn es gilt aufzuhören.«

Wir verabschiedeten uns und gingen.

Ich sah noch gerade, wie Ev' den bequemsten Sessel für Ben hausmütterlich heranschob und die Kissen mit flinken Händen zurechtklopfte.

In der Tür begegnete uns Hugo Hagedorn, wichtig und geräuschlos, mit einem sehr appetitlichen Schüsselchen Rührei und gehackten Schinken.

»Er hat brav gestanden auf der Mensur, der gute Ben,« rühmte Willibald mit herzlicher Anerkennung, als wir in die Plöck einbogen. »Aber natürlich so ein baumlanger Saxoborusse im vierten Semester, der zwölfmal in der Woche auf den Fechtboden läuft – kann etwas mehr.«

»Wer war es denn? Und was war der Grund zur Kontrahage?«

»Ach, blöd! Die Saxoborussen kamen vom S.-C.-Frühschoppen. Der zweite Chargierte, ein Freiherr von Buchecker . . .«

»Wie heißt der?«

Willibald von Gollwitz wiederholte den Namen. Mir fiel sofort mein Gespräch mit Ruth ein, in dem plötzlich dieser Freiherr von Buchecker aufgetaucht war. Das also war die geheimnisvolle Geschichte, auf die sie anspielte, und die ihr der patente Vetter Theodorich berichtet hatte!

»Ja, also dieser lange Pommer hatte – übrigens ganz gegen seine Gewohnheit, er verträgt unglaublich viel – einen gehörigen sitzen. Vor der Kunsthandlung von Edmund von König wartete Ev' auf Ben, der drinnen nach einem Zinnkrug fragte. Zinnkrüge sind seine Schwäche. Aber kaufen kann er nicht, nur fragen – Sie wissen, Ben-Crassus, der Triumvir, hat den Rütlischwur geleistet, nicht mehr zu verbrauchen als wir. Gerade als er – ohne Zinnkrug – herauskam, näherte sich, nicht mehr ganz zielsicher, der Saxoborusse der Kleinen und sagte, ein bißchen lallend, aber mit vollendeter Höflichkeit, den Stürmer vor den Bauch reißend und die Hacken zusammenklappend: »Meine verehrte Gnädige – ich habe Ihnen schon immer – immer mal sagen wollen – sagen wollen – daß Sie sehr reizend sind. Sehr. Hab' ich sagen wollen. Was hiermit – was hiermit erledigt ist.« Verbeugt sich, dreht sich um und geht.«

»Und daraufhin –?«

»Na natürlich. Ben hatte es doch gehört – und mußte ihn fordern. Beinah' wären krumme Säbel 'rausgekommen – na, dann wäre Ben jetzt Hackfleisch. Die Kleine war auch sehr erschrocken. Denn sie provoziert wirklich nicht.«

»Nein, nein. Und weil ein Angekneipter seiner Freundin, ganz respektvoll, gesagt hat, daß er sie »sehr niedlich« findet, hat Ben jetzt sieben Nadeln in der Temporalis, drei Nadeln über der Nase und vier Nadeln im Ohr?«

»Tja, aber ich glaube, er ist ganz zufrieden. Es ist ihm jedenfalls lieber, als daß der Saxoborusse die Nadeln hat – und die blonde Ev' dazu. Aber da kommt Fips, der Cäsar.«

Fips, der sich gerade beim Repetitor überzeugt hatte, daß er vom Kirchenrecht keine Ahnung hatte, war sichtlich erfreut, daß durch den Besuch seine trüben Examensgedanken eine andere Richtung erhielten. Und so war denn unser Mittagsmahl an einem kleinen Tisch im Hinterzimmerchen der engen, aber behaglichen Schermersschen Frühstücksstube recht gemütlich. Und da Vater Schermers persönlich für uns sorgte, und die drei ihren Rheinwein ausknobelnden Bruchsaler Dragoner vorn am Tisch uns nicht weiter genierten, so war die Stimmung bald vorzüglich; und ich genoß diese Stunde, die einen Nachmittag ohne Akten, ohne Telephongeklingel, ohne Mandantennöte eröffnen sollte.

Kurz vor drei Uhr brachen die beiden auf. Fips, mein Schwager, zum Wechselrechtkolleg, von dem er behauptete, auf leeren Magen mache es ihm übel und auf vollen Magen wirke es verdauungsstörend, so daß er sich überhaupt keine geeignete Zeit für dieses Kolleg vorstellen konnte. Gollwitz aber ging ins geographische Seminar des Professors Röder, der mit Hilfe von anderthalb Dutzend Studenten die vier anderen Weltteile als Kolonien Europas nach einem höchst eigensinnigen und wenig aussichtsreichen Programm aufteilte. Ev' kam mir schon am Wredeplatz entgegen. Sie hatte mich über den Platz wandern sehen. Der helle Hut mit den rosaangehauchten Möwenflügelchen saß frei und leicht auf ihrem beweglichen Köpfchen. Ihr Gang hatte etwas Müheloses, Federndes. Im Halsausschnitt trug sie ein goldenes Herz mit einer kleinen Perle darin. Hinter der Perle, dacht' ich, sitzt sicher ein Bild von Ben.

»Er schläft,« sagte sie vergnügt. »Eine Minute vorher hatte er mir schmollend versichert, es sei eine Ruppigkeit von mir, daß ich ihm gar keine Antworten gäbe, er schliefe ja doch nicht ein. Aber ich hab' mich beherrscht – das kann ich, wenn's sein muß – und weiter geschwiegen und ihm immer nur ganz ruhig und gleichmäßig die Hände auf den Knien gestreichelt. Plötzlich hat er die Augen zugehabt und hat doch geschlafen.«

Nun gingen wir nebeneinander her wie zwei alte Bekannte, wie zwei gute Kameraden. Ich hatte mir das anders gedacht. Die venezianischen Erinnerungen hatten mich in meinen Erwartungen mißtrauisch, in meinen Vorsätzen energisch, ja grausam gemacht. Ich hatte mir vorgenommen, Ben scharf ins Gewissen zu reden und das kleine Mädel, um das sich's handeln mußte, unsanft und sehr von oben herab zu behandeln. Und jetzt sagte eine Stimme neben mir, deren gütig streichelndem Ton wohl kein Männerherz standhielt:

»Ich bin so froh, daß Sie so vor sich hin lächeln, Herr Doktor. Da können Sie nichts Böses denken. Ich meine: nichts mir Feindliches. Ich habe so oft gedacht, was ich tue – Gott, wenn man's hier selber erlebt, ist's wirklich nicht so schlimm. Aber wenn's geschrieben und erzählt wird, da mag sich's bös anhören. Und neulich, wissen Sie, ist eine Dame hier gewesen, die wollte Ben besuchen. Eine alte Dame. Mein Onkel Hugo hat ihr alle Zimmer öffnen müssen, denn sie hat gesagt, sie ist eine gute Freundin der Familie. Und sie hat überall hineingeschaut – mein Gott, aufgeräumt war's ja und gewiß nicht unordentlich. Aber die vielen Bilder von mir, die herumstehen – Sie müssen nicht denken, daß ich eitel bin – ich find' wirklich nichts an mir. Aber dem Ben gefällt bald meine Nase, und er sagt: sie ist griechisch. Und dann gefallen ihm wieder die Augen, und er sagt, die Pallas Athene – denken Sie! ich Dummerchen und die Pallas Athene! – hat solche Eulenaugen gehabt. Und dann wieder entdeckt er, daß ich Haare habe wie eine Lady . . . wie heißt sie bloß – es soll ein berühmtes Bild im Louvre sein. Und immer muß dann der Fips mit seinem Apparat kommen. Der nimmt immer gleich ein Dutzend Platten – weil sich's dann besser entwickelt, sagt er – aber ich glaub' eher, weil die Hälfte davon doch immer nichts wird . . . Ja, und die Bilder hat die alte Dame doch sicher gesehen und vielleicht auch sonst das viele Gestickte und so allerlei . . .«

»Wie zum Beispiel Hutnadeln mit Rosenquarzknöpfen.«

»O je!« Der Seufzer war tief und ehrlich. »Ob ich's nicht geahnt und dem Ben gesagt hab'! Und –« Sie sah mich von der Seite an, ein bißchen ängstlich, aber doch auch schon hoffend. »Wegen der Hutnadel sind Sie gekommen?«

»Na, so ganz allein deswegen nicht. Ich wollte Heidelberg einmal kennenlernen – denn, so wunderbar das klingt, ich bin so nahe dabei zu Hause, hab' in Freiburg studiert, bin wie oft vorbeigefahren – und nun zum erstenmal hier. Aber allerdings, ich will ehrlich sein, Sie, liebes Fräulein, hab' ich auch kennen lernen wollen.«

»Ein Bruder vom Ben sagt »Fräulein« zu mir? Wissen Sie, das kommt mir jetzt zu unecht vor. Möchten Sie nit auch Ev' zu mir sagen?«

Das kam so treuherzig heraus, und je länger sie sprach, je freier und wärmer die Stimme wurde, desto badischer wurde der Dialekt. Teufel noch mal – Sitte hin, Moral her – das war ein lieber kleiner Kerl! Wenn ich jetzt die Frau Morgenthau hier gehabt hätte, ich hätte ihr einiges Unfreundliche gesagt. Wie konnte sie dieses nette Mädel . . . Das heißt, sie hatte ja gar nicht . . . Ich hatte . . . Oder ich hatte auch noch nicht . . . ich hatte nur vor . . . aber das hatt' ich nun auch nicht mehr vor . . . sondern ich wollte oder vielmehr ich mußte – denn es war meine Pflicht . . . Ach, du lieber Gott, was wollt' ich und mußt' ich eigentlich, weil's meine »Pflicht« war?!

Wir stiegen die breite Fahrstraße zum Schloß hinan. Sie zeigte mir die »Schwaben«-Kneipe und die Häuser einzelner Professoren. Zwei einfach gekleidete Spießbürger grüßten. Sie nickte freundlich.

»Freunde vom Vater,« sagte sie erklärend. Und als ob ich das erwarte und verlangen könne, sprach sie vom Vater. Instinktiv mochte sie fühlen, daß ich mir bei seiner Erwähnung versuchte, ein Bild von ihm zu machen; daß ich nicht ganz begriff, wie ein Mann, der doch einiges wissen mußte, seiner Tochter die Zügel so locker und frei ließ. Und alles, was sie mir erzählend, als ob ich sie gefragt hätte, vom Vater berichtete, war eine Verteidigung und ein Dank und eine große Liebe.

Er war der gute Vater, so gut. Als der Spitz neulich von einem Handkarren über die Pfote gefahren war, hatte der Vater vier Nächte in Kleidern, krumm liegend auf dem alten Sofa, geschlafen, war alle zwei Stunden aufgestanden und hatte dem armen Tier die kalten Umschläge erneuert. Daß sie ihn ablöse, hatte er nicht erlaubt. Sie solle rote Backen haben, solange sie jung sei, und solle die Zeit ihrer roten Backen genießen. Es sei ja wahr, der Vater liebe den badischen Wein ein wenig; aber man mußte wissen, wie das gekommen. Er habe mal eine gar böse Bitterkeit hinunterzuschlucken gehabt. Vor vielen Jahren, vor so vielen, daß sie sich's gar nicht entsinne, weil sie damals überhaupt noch nicht dagewesen sei, hab' er eine Passion für die Jagd gehabt. Aber die Jagd koste Geld und mit dem Geld sei's knapp gewesen. Und so sei er denn Sonntags als – na, ganz recht sei's ja freilich nicht gewesen, aber wer tut nie was anderes, als was recht ist? – sei er mit der Flinte den Neckar hinaufgefahren und habe ein bißchen geknallt. Geschädigt hab' er kaum jemand; denn er habe nie gut gesehen und nie ganz sicher geschossen. Aber das wichtige Herumlaufen mit der Büchse und das Losknallen in die Natur hab' ihm halt, wenn er sechs Tage über seinen Körben gesessen, gar so eine große Freude gemacht. Ja, und da sei oben am Neckar, da, wo der Fluß die scharfe Biegung macht, ein alter Kirchhof gelegen, kaum mehr benutzt. Nur ein paar ganz alte, übriggebliebene Leute hätten da zwischen den sinkenden Kreuzen und Steinen noch das Recht auf einen Platz gehabt. Aber die wilden Kaninchen hätten sich gern in dem Buschwerk und hinter den dicken Hecken herumgetummelt. Und eines Sonntagsvormittags, es sei neblicht gewesen und schon recht herbstlich, da sei halt der Vater wieder mal durch den alten Gottesacker gepirscht. Auf einmal hab' er was gehört und was zwischen den Hecken gesehen und hab' geglaubt: ein Karnickel. Und da hab' er halt hingehalten und geschossen. Aber den Schreck! Da sei ein Mensch, ganz schwarz, mit einer weißen Halskrause wild in die Luft gesprungen und habe mörderlich geschrien und furchtbar geschimpft. Es war der Vikar vom Herrn Pfarrer, der vor seiner ersten Sonntagspredigt sich zwischen den Grabsteinen erging. Der Vater habe dem geistlichen Herrn Schrotkörner in die linke Wade geschossen. Das hab' dann eine üble Sache gegeben und einen ärgerlichen Prozeß; und der Vater – man dürf' ihn nie mehr an die Zeit erinnern, und auf einen Kirchhof ging er auch nicht mehr – der Vater hab' ein paar Tag absitzen müssen. Das Gewehr hätten sie ihm weggenommen und dem Vikar mußte er die Kurkosten für Arzt und Pflaster mit dreiundsiebzig Mark achtzig Pfennigen zahlen. Die Familie Schopfloch aber hatte noch zwanzig Mark verlangt und bekommen, weil ein paar Schrotkörner ihr den alten Kranz aus Glasperlen zerschlagen hatten, der auf dem verwitterten Namen und unleserlichen Spruch des alten Peter Schopfloch gelegen hatte, von dem kein Mensch mehr wußte, wie er eigentlich mit den lebenden Schopflochs verwandt gewesen war. Und einen neuen Kranz sollen die Schopflochs gar nicht von dem Geld gekauft haben, sondern ein paar schwarze Minorkahennen, die aber dann gar kein Ei gelegt haben; und drei Wochen später hab' sie ein Marder totgebissen. Denn schließlich, eine Gerechtigkeit gab's doch; wenn auch nicht grad immer in den Anwaltsstuben und in den Gerichten.

Damals hab' der Vater sich die goldgelben badischen Landweine angewöhnt. Eine Weile sei's wohl schlimm gewesen, denn er brauchte wohl seine sechs, acht Viertelchen, bis er die üble Kaninchenjagd auf dem Friedhof vergessen hatte. Jetzt trinke er nur noch mäßig. Selten in der Kümmelspalterei und manchmal im »Silbernen Hirschen« sein Schöppchen mit dem Onkel Hugo. Und sie sei froh, daß die beiden sich so gut verstünden und allerlei miteinander reden könnten. Und was ihr besonders lieb sei: daß sie genau wisse, der Onkel Hugo spreche nur Gutes von Ben.

Übrigens, ob man eigentlich von Ben etwas anderes sprechen könne als nur Gutes? Sie glaube das nicht. Und ich gewiß auch nicht. Aber das eine solle ich ja nicht glauben, daß der Ben etwa ihretwegen Zeit vertrödele und nicht ganz fleißig sei. Da müßt' ich die anderen Studenten sehen. Da gäb's welche, die wüßten kaum, wo der Hörsaal sich befindet, in dem sie sechsstündige Kollegien belegt hätten; und am Semesterschluß hätten sie noch die Frechheit, zum Abtestieren zu den Professoren hinzugehen und zu sagen: sie seien fast immer dagewesen, und sie hätten hinter der Säule gesessen. Aber Ben habe in seinem Eifer sogar bei Professoren belegt, die – ja, wie solle sie das sagen, die ein bißchen komisch seien und gar nicht recht ernst genommen würden. Oh, solche gäb's auch. Die zeigten ihre Vorlesungen an und hielten sie nachher gar nicht ab. Das sei auch den meisten Studenten bekannt; und da man die Herren und ihre Themen, über die sie reden wollten, gar nicht zum Examen brauche, so ginge schon kein Mensch hin. Aber der gutmütige und so eifrige Ben sei sogar beim Professor von Töndersen in der Wohnung gewesen, der jedes Semester ein Kolleg über die Philosophie der Naturvölker anzeige und schon seit fünfzehn Jahren nie mehr lese. Und der Herr Professor von Töndersen, gar nicht gewöhnt, daß ihn jemand besuche, habe Ben, im warmen Bad sitzend, in der Wanne empfangen; und Ben habe des Professors Kleider erst vom Stuhl neben der Wanne nehmen müssen, um sich bescheiden dazu zu setzen. Und dem Professor Kalkborn, der über das »Eheproblem in der Kulturgeschichte« eine zweistündige Vorlesung anzeige, habe, während er mit Ben sprach, ein zahmer Kanarienvogel oben auf dem Kopf gesessen und ihm in den langen weißen Haaren herumgepickt. Dazwischen sei sich dann der Professor mit einem Tuch manchmal über den Kopf gefahren und habe gemeint – nein, das sei eigentlich nicht schön; aber warum solle sie's nicht sagen, der Professor hätte es ja auch gesagt – der Professor habe gemeint: bei Körnerfressern sei das nicht weiter schlimm. Und es beruhige ihn seelisch, daß der Vogel oben auf seinem Kopf sitze.

Die kleine Ev' hatte eine einfache, aber eine ungemein anmutige Art, zu erzählen. Immer mehr die Scheu verlierend, sprach sie in ihrem lieben, ein wenig breiten badischen Tonfall immer freier zu mir. Sprach, wie zu einem längst Bekannten, der nur zufällig gerade über diese Stadt und ihre Menschen nicht eben viel weiß. Und wie sie diese Stadt liebte! Wenn sie »Heidelberg« nannte, schillerte das Wort ordentlich von Stolz und Freude. An jeder Wegbiegung unterbrach sie ihre munteren Erzählungen, um mir, wie ein für mich eigens aufgebautes Geschenk, den Blick auf die Stadt durch Villen und blühende Bäume zu zeigen. Und welch ein Führer war sie auf dem Schloß! Wie sah sie alles, Baum, Weg und Architektur, mit den Augen der Liebe, und erklärte doch gleichzeitig mit der Gewissenhaftigkeit eines braven alten Kastellans. Es war erquicklich anzuhören, wie über diese roten Lippen die toten Jahreszahlen sprangen, und wie in dem warmen süddeutschen Tonfall die Namen der alten Kurfürsten, Burgfrauen und Ritter ein eigenes kräftiges Leben bekamen.

Als sie mich auf die Schönheit der Proportionen am Ruprechtsbau aufmerksam machte, fügte sie einfach hinzu: »Das hat mir aber der Ben erst gezeigt.« Und als sie mit mir, glücklich wie ein Kind, das schenken kann, auf die herrliche Terrasse hinaustrat, unter der Heidelberg sich breitet, wie ein liebes, deutsches Märchen, ein Stück Vergangenheit und ein beglückendes Gegenwartsbild zugleich, stand sie still und sagte: »Hier ist der Goethe gegangen mit der Marianne von Willemer.«

Ein wohliges Gefühl beschlich mich, als ich den jedem Frankfurter doppelt heiligen Namen von dem hübschen, jungen Munde kommen hörte. Nie war mir der stolze Name so feierlich, so lieb erklungen wie jetzt, da die kleine Badenserin ihn im Stolz auf ihre Heimat, die einst das Wunder im Genie gewirkt, und in Ehrfurcht vor dem toten Dichter, sprach: der Goethe.

Der herzliche Wunsch, unter den herrlich blühenden Kastanien eine Weile in dieser Stimmung zu bleiben, ließ mich den Ahnungslosen spielen. Ich fragte: »Ach, wirklich? Der Goethe ist hier gewesen – mit wem, sagten Sie?«

Und ohne zu argwöhnen, daß ich mir längst Bekanntes hier am Orte, wo das vor bald hundert Jahren zwei sonnige Herbsttage lebte, aus schlichter Erzählung wie ein köstlich Neues schlürfen wollte, machte sie sich eifrig ans Berichten.

»Mit der Marianne von Willemer, der Frau von einem Geheimrat von der Gerbermühle bei Frankfurt, war er hier. Die hat er sehr lieb gehabt. Er hat ja wohl viele lieb gehabt und viele ihn. Aber das hier war anders. Der Mann von ihr war dabei und die Tochter von dem Mann aus erster Ehe. Und ich glaube, er hat sie nie geküßt – aber wer weiß das schließlich, nicht wahr, wenn zwei sich lieben?«

»Gewiß, wer weiß das!«

»Aber nein« – sie brachte das rasch und eifrig vor, als täte ihr das Gesagte leid – »es würde gar nicht ins Ganze passen, wenn sie sich geküßt hätten. Er hat so wunderschöne Lieder auf diese Frau gemacht – und so ist es, das sagt der Ben, wie der Brautkranz der Ariadne, den der – der – ich glaub' ein griechischer Gott in die Sterne geworfen hat. Dort funkelt er jetzt noch durch die Nächte – wie die schönen, kleinen Lieder Goethes auf die Frau Marianne, die er hier zum letztenmal gesehen hat. Das weiß ich alles von Ben.«

Ich hatte meinen Bruder selten so lieb wie in diesem Augenblick. Ich hörte aus den treuherzigen Worten der Erzählerin, wie er eine junge Seele, die sich seiner Belehrung in lauschender Liebe öffnete, gefüllt hatte mit Sehnsucht nach Schönheit. Wie er seine vom Vater eingepflanzte ehrfürchtige Liebe zu dem großen Frankfurter und seinem reichen Leben, wie einen köstlichen Besitz, hier unter blühenden Bäumen, vielleicht in Mondnächten, wie sie jenem Septembertraum Goethes geleuchtet, geteilt hatte mit der Geliebten. Wie alles, was hier sein Herz schwellen und beben ließ, keinen reicheren, keinen reineren Ausdruck fand, als in der wehmütig vom herbstlichen Abschied überhauchten Poesie, die ein in Größe Alternder hier aus einer späten Leidenschaft geschöpft.

»Goethe muß doch schon bei Jahren gewesen sein damals,« sagte ich, fast ängstlich, daß sie das Thema schon verlassen könnte, und begierig, immer noch mehr zu hören mit dem Ton dieser lieben Stimme, hier, wo die Natur geweihter Erinnerung in Himmel, Wald, Strom und Berg den wundervollen ewigen Nahmen schuf.

»Alt –? Ja, ich meine, zwischen Sechzig und Siebzig schon. Aber ich denke manchmal, wenn man liebt, gibt's gar kein Alter. Alter ist doch auch nur ein Fehler, wie andere. Und wenn man jemand gern hat, so recht von Herzen, weil das Herz sagt: es ist der Rechte für dich oder – ja: oder das wär' der Rechte, wenn's sein dürfte . . . dann liebt man die Fehler mit. Und vielleicht ist's deshalb gewesen – ich weiß nicht, aber der Ben hat gemeint, vielleicht hab' ich gar nicht so unrecht – vielleicht ist's deshalb gewesen, daß der Goethe seine Heidelberger Liebe dann verkleidet hat in lauter Heimlichkeit. Aber das wissen Sie doch –?«

»Nein, nein,« ich drängte sie immer weiter und hing an ihren hübschen, jungen Augen.

»Er hat sich – ja, wie soll ich sagen – aus dem Osten das fremde Mäntelchen geborgt – das Kleid für seine Verse. Und für die ihren. Denn sie hat auch gedichtet. Sonst mag ich das gar nicht bei Frauen. Mir kommt's dann immer vor, sie haben Tinte an den Fingern. Nur die Droste-Hülshoff – kennen Sie die? – der Ben hat sie mir geschenkt, die kann ich gut leiden. Aber die Frau von Willemer hat gar kein Wesens von ihrem Dichten gemacht. Sie war richtig glücklich; und das richtige Glück braucht's nicht, daß die andern davon wissen. Sie war auch sicher arg stolz, aber gewiß nicht eitel. Sie hat nie jemand gesagt, daß ein paar von den Liedern gar nicht von Goethe sind, sondern von ihr. Aber das kennen Sie doch –

Ach, um deine feuchten Schwingen,
West, wie sehr ich dich beneide . . .«

Ganz leise hatte sie's in der Mendelssohnschen Komposition begonnen. Eine ungeschulte, aber reine und von scheuem Gefühl durchbebte Stimme trug die wohlbekannten schönen Worte, die damals die Heimgekehrte in Erinnerung und Sehnsucht dem großen Freunde zugesungen.

»Aber da kommen Leute –« Ev' brach ab und wurde rot, als ob sie jetzt erst inne würde, daß sie laut gesungen hatte.

Ich hätte die »Leute« kaltlächelnd vergiften können in diesem Augenblick. Es waren, alle in gleiche blaue Jacketts gekleidet und mit denselben breitrandigen Matrosenhüten auf ungleichen Köpfen, acht junge Damen. Pensionärinnen eines der vielen Pensionate da unten. Wohlerzogene Töchter guter Familien, man sah's. Zu Paaren trippelten sie vorbei, das Auge zu Boden gerichtet oder an uns vorbei weit hinaus in die Landschaft. Nur eine kleine Sommersprossige blinzelte mich durch eine Brille aus kurzsichtigen Äuglein an. Eine begleitende Lehrerin mit einer harten Männerstimme ließ sich im Vorübergehen vernehmen: »Das Brückenhaus ist im Jahre 1541 erbaut – Sie wissen aus unserem letzten Unterricht, das ist das Jahr, in dem Calvin seine reformatorische Tätigkeit in Genf begann. Ein Jahr später wurde das Inquisitionstribunal zu Rom eingesetzt.«

Blitzartig kam mir der Gedanke. Auch diese vertrocknete plattbusige Person belehrt hier, wie Ben belehrt hat. Aber wie anders ist Lehre und Lehre! Hier ein paar Namen und Jahreszahlen, willkürlich verbunden und in gleichgültige Gehirne gehämmert – dort ein sehnsuchtsvoll nachempfundenes Erlebnis in zwei aufblühenden Herzen.

»Sie sind gewiß musikalisch, Fräulein Ev'?«

»Ein bissel. Die Mutter soll hübsch gesungen haben. Der Vater erzählt's oft. Aber mein Gesang ist nicht weit her – nur gern sing' ich. Arg gern. Im Freien, nit in Stuben. Der Ben hat mir eine Laute geschenkt.«

»Ich hab' eine hängen sehen. So, die gehört Ihnen?«

»Ja –« sie lachte vergnügt, »das ist ein komisches Geschenk – ich krieg' sie, und er gibt sie nicht her aus der Wohnung.«

»Nanu, warum denn?«

»Ich weiß nicht recht, wie das ist – ich bin zu dumm dazu – aber das Instrument muß auf meine Stimme eingestimmt sein. Wenn ich vergnügt bin und lach', klingt nämlich die Laute allemal mit, und – wenn dann alles still ist, hört man den Ton von meinem Lachen noch eine ganze Weile aus den Saiten wie ein Echo. Immer leiser. Das macht sie nur bei mir. Wenn die andern lachen – kein Ton.«

»Vielleicht haben auch Instrumente eine Seele. Und wenn sie eine haben, dann kann ich die Laute, die gerade mit Ihnen lacht, sehr, sehr gut begreifen.«

»Wie meinen Sie jetzt das?« Sie sah mich treuherzig fragend an.

»Das war nämlich ein Kompliment, Fräulein Ev'.«

»O je, das müssen Sie mit mir nicht machen! Oder wenn Sie's machen – dann ganz dick auftragen, daß ich's auch begreif'. So vielleicht: »Ev', was hast du für einen wunderschönen Hut auf!« Oder: »Ev', was hast du doch für winzig kleine Füße!« Die kleinen Füße hab' ich nämlich wirklich. Das ist das einzige, worauf ich stolz sein könnte.«

Und stehenbleibend, den Rock ein ganz klein wenig hochnehmend, streckte sie ihr rechtes Füßchen im hellen Lederhalbschuh vor.

»Also, wahrhaftig – fabelhaft klein.«

»Gelt?« Sie zeigte vergnügt lachend ihre schönen Zähne. »Wie eine Chinesin, wie eine ganz vornehme, sagt der Fips immer zum Ulk. Dafür ist aber auch alles andere groß. Die Ohren und der Mund – der Vater sagt, wie ich geboren wurde, hätt' ich ausgeschaut wie ein gesottener Nußknacker.«

»Wenn das einmal gestimmt hat, dann hat sich's aber sehr zu seinem Vorteil verändert.«

»Jetzt hab' ich's aber gemerkt! Also – das war wieder ein Kompliment, gelt? Das ist lieb von Ihnen, daß Sie sich mit mir so eine Müh' geben. Sie sind überhaupt lieb.«

Sie streckte mir ohne jede Koketterie ihre Hand hin. Ein kleiner, aber geschmackvoller Ring saß daran, in einem Kreis von Perlchen ein winziges Kreuz von Rubinchen. Während ich ihre Hand einen Augenblick festhielt, betrachtete ich den Ring. »Hübsch! Vom Ben?«

»Was ich Nettes hab', ist alles vom Ben.« Das kam froh, ehrlich und stolz heraus. Und als ob sie fürchtete, mißverstanden zu werden, fügte sie rasch hinzu: »Aber haben Sie keine Angst, ich erlaub' nicht, daß er viel Geld für mich ausgibt.«

»Ich habe keine Angst, Ev'.« Mir kam zum Bewußtsein, daß ich mir zum erstenmal das »Fräulein« schenkte.

Auch sie hatte das wohl gemerkt. Eine ganz feine Röte stieg ihr in die Schläfen, und eine Weile war sie still. Dann lehnte sie sich über das Eisengeländer und sprach langsam, wie sich selber Rechenschaft gebend, hinunter in die geraden, sauberen Sträßchen der Stadt, ohne mich anzusehen.

»Ich würde gar nichts von ihm nehmen, aber ich will doch ein bißchen nett aussehen. Für ihn. Was ich mich aus den andern schon mach'! Nur den Ring und das Herz hier« – sie griff an den Hals – »das hab' ich mir gern schenken lassen. Denn ich wollt' ein Bild von ihm tragen – auch wenn er einmal nicht mehr hier ist. Nicht mehr hier und bei mir. Und einen Ring von ihm mit einem kleinen Kreuz drin darf ich nehmen, weil ich –« jetzt sah sie mich an, ernst, ein wenig traurig, aber mit guten blauen Augen – »weil ich den andern, den ohne Stein, nie von ihm nehme.«

Mir schlich ein wehes Gefühl durch die Herzgrube, aber ich schwieg.

Sie sah wieder hinunter auf den Marktplatz. Mir war's, als ob ihr Blick an der dunkelroten Mauer der Heiliggeistkirche das kleine Lädchen suche mit den Weidenkörben und Korbgestellen, das dem gewaltigen Bau anklebte wie ein armes, kleines Schwalbennest. Ihre Stimme hatte ein wenig an Glanz und Kraft verloren, als sie jetzt fortfuhr:

»Wenn Sie, Herr Doktor, nur deshalb gekommen sind – nein, nein, ich bin gar nicht bös. Sie haben eine Mutter zu Haus, die will höher hinaus mit ihren Söhnen. Sie hat doch recht, die alte Frau. Und 's wär' ja auch schad' um den Ben. Aber sehen Sie, wenn Sie heimkommen und sprechen mit ihr – dann, dann sagen Sie ihr nichts Böses von mir, ja? Sagen Sie ihr, das ist alles nicht, was wir geglaubt und gefürchtet haben. Das Mädel weiß, daß das nicht dauert. Weiß es ganz gut. Und will gar nicht, daß es nie aufhören soll. Denn so schön, wie's war – wie's noch ist – könnt's ja gar nicht dauern. Und das Mädel ist dem Ben viel zu gut, um nicht zu wissen, was einen Sommer in Heidelberg lieb ist und das Herz froh und leicht macht, das ist nicht mehr dasselbe in einem Winter in Frankfurt. Selbst der Goethe, wie er seine kleine Sesenheimer Friederike in Straßburg wiedergesehen hat, in der großen Stadt . . . Der Ben hat mir's erzählt. Und er hat vielleicht gar nicht gewußt, was er mir damit erzählt hat. Aber das wollt' ich auch gar nicht sagen. Bloß das können Sie noch Ihrer Frau Mutter sagen: das Mädel hat einen Vater, einen alten Mann, der es braucht und von dem's nicht weggeht. Und den Vater ließ es auch nie und von niemand über die Achsel ansehen. Denn alles, was schön ist, verdankt's ihm. Das Leben. Und alles, was es glücklich macht, hat er ihr gegönnt. Sogar – den Sommer mit dem Ben. Leicht ist ihm das nicht gefallen. Ganz gewiß nicht. Und leichter wird's mir nicht fallen, wenn's einmal zu End ist – im September vielleicht, wo der Goethe die Marianne hier zum letztenmal gesehen hat – aber das ist dumm, gelt, und überheblich. Vielleicht auch erst im Oktober – oder nach seinem Examen. Aber eben einmal doch und – wie bald! Aber bis dahin – bis dahin – das wär' lieb, arg lieb, wenn Sie das Ihrer Frau Mutter sagen wollten, sagen könnten – bis dahin hätt' er vielleicht doch in schlechtere Händ' kommen können, der Ben. Ihr Ben und – heut noch – meiner.«

Da nahm ich ihre beiden Hände und sah ihr in die blauen Augen, in denen es feucht schimmerte, und sagte mit einer Überzeugung, die ein Anwalt, der viel plädieren muß, selten aufbringt: »Das sag' ich meiner Mutter. Verlassen Sie sich drauf! Und ich sag' ihr mehr. Ich sag' ihr, wenn ich zehn Jahre jünger wäre und in Heidelberg studierte, und dieses Mädel lief' mir über den Weg – ich selber – ich –«

»Sind Sie jetzt sehr bös« – durch kleine Tränchen blitzte munter der Schalk – »sind Sie jetzt sehr bös, Herr Adolf, wenn ich Ihnen sag': der Ben ist mir lieber?«

Ich war ihr nicht bös. Aber so wahr ich ein sterblicher Mensch bin und doch stolz auf meine sogenannten Grundsätze, in diesem Augenblick hätt' ich auf der Heidelberger Schloßterrasse am liebsten den Kopf dieses herzigen Mädels zwischen meine beiden Hände genommen und hätte sie fest und lang auf den roten Mund geküßt. Und hätte mir, weiß Gott, kein Gewissen draus gemacht, nicht als Ehemann und nicht als Rechtsanwalt und zweiter Vorsitzender des Anwaltvereins und schon gar nicht als Weltbürger. Denn ich hätte geglaubt, gefühlt, gewußt, daß ich nur einer süßen deutschen Jugend huldige; daß ich nur in einen Kuß legen möchte, was ich nicht so recht in Worten sagen und wünschen kann: daß der liebe Gott unserem deutschen Land auch in Zukunft so viel reine und liebe und geradeaus blühende Jugend schenken möge, wie diese!

Und da kam die vertrocknete, plattbusige Lehrerin mit ihren Pensionärinnen zurück und sagte, als sie vorüberging, mit ihrer harten Männerstimme:

»Die Schloßkapelle ist um 1346 erbaut. Das war die Zeit, in der das mittelalterliche Rittertum zerfiel und das Schießpulver erfunden wurde . . .«


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