Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Zweiunddreißigstes Kapitel

Ben schwieg. Die Erinnerung übermannte ihn. Er schluckte schwer und mühsam.

Dann nach einer Weile wandte er mir das erhitzte Gesicht zu und treuherzig mit einem fast verschämten Jungenlächeln sagte er: »Gelt, du verstehst mich?«

Mir war sehr seltsam zumute. Die Lebendigkeit seiner Erzählung, die mich alles miterleben ließ, hatte mich gepackt. Ich freute mich für ihn, und er tat mir leid zugleich. Und hinter all dem Mitgefühl und Miterleben lauerte die nüchterne, die praktische Frage: was nun?

Als ich vorsichtig nach seinen Plänen und Entschlüssen fragte und mich darauf gefaßt machte, Abenteuerliches zu hören, schüttelte Ben traurig den Kopf und sagte nur mit einer rührenden Einfachheit:

»Da ist nichts zu planen und nichts zu entschließen. Ev' hat mir, lieb und freundlich, aber mit einer alle Diskussion ausschließenden Bestimmtheit drei Dinge erklärt. Sie heiratet mich nicht – denn das hab' ich ihr natürlich angeboten. Sie behält das Kind. Und sie nimmt keinerlei Unterstützung von mir. Wenigstens nicht, solange das Geschäft des alten Korbmachers noch so gut geht.«

»Hm. Geht das kleine Korbgeschäft denn so gut?«

»Glänzend. Also, du mußt wissen, da ist eine Gärtnerei oder Blumenhandlung –«

»In Mannheim – ich weiß.«

»Sie hat dir's wohl erzählt damals? Ja, aber die Geschäftsverbindung hat sich noch beträchtlich ausgedehnt. Denk dir – das traf sich wirklich sehr gut – kurz nachdem der Sepp geboren war – er hat übrigens achteinhalb Pfund gewogen – fabelhaft, was? Wieviel hast du gewogen?«

»Ich weiß nicht.«

»Frau Morgenthau erzählt, ich hätte sieben und dreiviertel Pfund gewogen. Das ist schon was. Aber der Sepp noch über ein halbes Pfund mehr! Überhaupt das Kerlchen strotzt von Gesundheit . . . Ja, also kurz nach der Geburt kam ein Herr von der Firma persönlich nach Heidelberg und erhöhte die wöchentliche Bestellung um die Hälfte – du weißt, geflochtene Blumenkörbe mit Bandschleifen in einer wunderlichen Fasson, die der brave alte Ackerle erfunden hat. Mein Gott, ehrlich gesagt und unter uns, ich finde gar nicht so besonderes dran – aber die Mannheimer müssen ja rein versessen auf diese Körbe sein. Ich denke mir, in jeder besseren Mannheimer Haushaltung steht schon mindestens einer von den Körben. Fabelhaft anständige Leute diese Mannheimer übrigens. Die Firma hat freiwillig – der alte Ackerle ist viel zu bescheiden, zu fordern – den Preis pro Korb um zwanzig Prozent erhöht. Ich habe mit Ruth davon gesprochen –«

»Warum gerade mit Ruth?«

»Wie sonderbar du fragst – weil sie doch eigentlich meine beste und älteste Freundin ist. Man kann wirklich alles mit ihr besprechen – alles. Und Ruth sagt auch: in Frankfurt hat sie nie so was gehört, wie das mit der Mannheimer Firma, die von selbst . . . Ja, und noch eins, denk dir, der Mannheimer Herr hat – das könnte ja indiskret scheinen, aber er hat's fabelhaft taktvoll gemacht – hat also irgendwie erfahren, daß Ev' . . . oder vielmehr, daß der Sepp . . . nun eben, daß da ein Kindchen angekommen ist, zu dem – ist das nicht schändlich, daß ich's sagen muß, ich! – zu dem der Vater fehlt. Da hat er sofort einen größeren Vorschuß angeboten. Der natürlich glatt abgelehnt wurde. Denn die Leutchen leben in ganz geordneten Verhältnissen. Fast tut mir's leid – denn wenn sie mich brauchten, wenn ich helfen müßte, könnte, dürfte . . .«

»Und du hast ihr also die Ehe angeboten?«

»Natürlich. Aber da hat sie mir etwas Seltsames gesagt oder vielmehr, sie hat mich erinnert an etwas, das ich – ganz harmlos, wie man so spricht – einmal erzählt habe . . .«

Ich glaube, der Ben hat's so wörtlich gar nicht gesagt, nur scheu angedeutet. Aber ich habe plötzlich – wie mir oft mit großer Deutlichkeit Bilder der Vergangenheit vor Augen stehen – die blonde Ev' neben mir auf dem Schloßaltan gesehen, wie ihr Blick tief da unten an der dunkelroten Mauer der Heiliggeistkirche hinstreifend das kleine Lädchen mit den Weidenkörben und Korbgestellen suchte, das dem gewaltigen uralten Bau anklebte, wie ein warmes kleines Schwalbennest. Und ich habe ihre weiche Stimme wieder gehört, die zu mir oder zu sich selbst oder nur in den Sommermorgen hinunter sprach: »Das Mädel weiß, daß das nicht dauert. Weiß es ganz gut. Und will gar nicht, daß es nie aufhören soll. Denn so schön, wie's war – wie's noch ist – könnt's ja gar nicht dauern. Und das Mädel ist dem Ben viel zu gut, um nicht zu wissen, was einem Sommer in Heidelberg lieb ist und das Herz froh und leicht macht, das ist nicht mehr dasselbe in einem Winter in Frankfurt. Selbst der Goethe, wie er seine kleine Sesenheimer Friedrike in Straßburg wiedergesehen hat, in der großen Stadt . . . Der Ben hat mir's erzählt . . .«

Sie hat Wort gehalten, die kleine Ev'. Sie ist sich treu geblieben, so weh's getan haben mag. Ist ein Mensch aus einem Stück geblieben, wie ich sie damals sah, empfand und ein ganz klein wenig selber liebte.

Ich sah zu Ben hinüber. Er hatte, absichtslos, von einem der vielen Tischchen, die mit noch ungeordneten Erinnerungen herumstanden, ein paar Photographien aufgenommen. Jetzt unterbrach er sich plötzlich und reichte mir, ein Lächeln um die Mundwinkel, ein Blatt herüber. Eine sehr schicke junge Dame, überschlank, die beiden schmalen Hände, mit unzähligen Ringen geschmückt, kokett auf die Brust gelegt, lächelte mit einem vorgeneigten Köpfchen den Beschauer listig an. Zwischen den Vorderzähnen des amerikanisch geschnittenen Mundes saß eine glimmende Zigarette.

»Wer ist denn das?«

»Das ist Miß Schulz. Bürgerin von St. Louis, wo ihr Vater, der als Zapfjunge in München davonlief, einer der größten und reichsten Bierbrauer geworden ist.«

»Ach, das ist die junge Dame, mit der du im Frühjahr die Dresdener Galerie studiert hast?«

»Ja, sie kopiert ein bißchen. Nicht sehr talentvoll. Aber sie ist bildhübsch.«

»Das seh' ich. Hast du das Bild gemacht?«

»Ja. Mit meiner Krügerkamera. Ruth hat mir's vergrößert. Jetzt zur Überraschung, als ich aus Heidelberg zurückkam.«

»Als du . . . aus Heidelberg kamst . . . fandst du die Miß Schulz – als Präsent von Ruth?«

»Ja. Sie war eigentlich die erste, die mich hier begrüßt hat. Das tut wohl, wenn man so ein wenig zerrissen und zerbeult heimkommt. Das vergrößerte Bild meiner Dresdener Freundin stand auf meinem Tisch. Mit Blumen. Und ein paar sehr ulkigen Zeilen, die begannen: »Mein lieber Ben-Pascha! Auf dem Wege vom östlichen Serail zum Frankfurter Westen . . .«

Und wieder hatte ich eine erinnernde Vision. Ich sah Ruth neben mir sitzen auf der Bank im Buchenschatten des Philosophenwegs hoch überm Neckar. Ihr Sonnenschirm zeichnete ein verschlungenes Monogramm in den Sand, und sie sagte mit ihrer kühlen, stets gleichmäßigen Stimme: »Ich bin auch die Hand, die binden wird, ohne daß es weh tut; ohne daß mehr zerknickt wird, als eben nötig . . . Ich habe ihm nie die Sinne verwirrt – er kann mich heute und vielleicht immer – im einzelnen Fall »ruhig kommen, ruhig wandern« sehen. Aber als Ganzes und im ganzen braucht er mich. Braucht er jemand wie mich. Und das empfindet er erst wieder deutlich, seit er weiß, daß ich hier bin. Seit er nicht ausgeht und nicht aus dem Fenster sieht ohne den Nebengedanken, daß ich vor ihm auftauchen kann. Und mit mir das, was schließlich siegen wird und muß über das Naturkind und über Heidelberg; über das Volkslied, wenn Sie so wollen, und über das kleine Abenteuer, das Mondschein brauchte, Rosen und Ruinen.«

Nun war er wieder da. Konnte vielleicht nicht ausgehen, nicht aus dem Fenster sehen ohne den Nebengedanken, daß sie vor ihm auftauche.

»Du hast Ruth wohl schon gesehen, seit du hier bist?«

»Ich bin gestern lang bei ihr gewesen. Es war mein erster Besuch. Also ich habe das Gefühl, es versteht mich niemand so – oder doch so zu nehmen, wie sie. Verzeih, Adi – aber du bist glücklich verheiratet . . . Während sie . . .«

»Sie ist – unglücklich unverheiratet?«

Ben merkte die Spitze nicht, die ich, ohne zu wollen, geschliffen. Er nickte zustimmend. »Sie leidet wohl unter dem Vater, der seine späten Dummheiten macht. Hast du gehört, jetzt richtet er der Gigi Blondin einen Rennstall ein. Sie will partout in die Gesellschaft. Und was nicht durch die Salons geht, muß durch den Stall gehen. Es sind doch hier schon mehr Leute auf dem Weg in die Gesellschaft gekommen. Aber wie die Ruth das alles nimmt! Kühl ironisch und immer über der Situation.«

»Hast du deine Angelegenheiten mit ihr – ich meine, deine Heidelberger, nicht die Dresdener . . .«

»Ach, die Dresdener Angelegenheit ist doch gar keine . . . Das war so ein Abenteuerchen, wie man's mal hat, in Dresden im Grünen Gewölbe oder in Capri in der Blauen Grotte – gleichviel. Aber das andere – das war ein Erleben, ein Sichverankern mit Erinnerungen – und dann der Sepp! . . . Ruth meint, ob ich nicht juristische Rechte – an das Kind . . . Und du als Jurist, meint Ruth –«

»Das meint Ruth?« Ich stand dicht vor ihm, legte meine beiden Hände sanft auf seine Schultern und sah ihm tief in die Augen: »Und du, Ben?«

Eine leise Verlegenheit zuckte um seinen Mund. Hinter den Körnerleistchen rötete sich die Haut. »Du hast recht, Adi, ich will ein anständiger Kerl bleiben – soweit das bei meinem Talent zu Entgleisungen möglich ist. Und will dem tapferen Mädel nichts nehmen, auch wenn ich's könnte, was ihr gehört.«

»So ist's recht, Ben! Ich wußt's ja.«

»Wenn ich nur geben könnte – etwas geben, mehr geben, alles geben, was sie braucht.«

»Mir scheint, sie braucht jetzt – Ruhe des Herzens. Und du auch.«

»Ja, die brauch' ich. Und ich hab' auch schon den Weg dazu gefunden. Die Arbeit.«

Ich kannte dieses Aufleuchten in Bens Augen. Da flammte ein neues Projekt.

»Ob ich's allein schaffe, weiß ich nicht. Aber es will mir jemand helfen.«

»Ruth?«

»Ja.«

In diesem Augenblick trat Peter Pütz ein. Auf einem Silberteller, den er in mehreren Tempi von sich stieß, lagen zwei Visitenkarten: »Ruth Baddach« – »Anna Hayeck, geborene Zimmermann.«


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