Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Zehntes Kapitel

Unter den Papieren des Vaters, die mir die Mutter zu ordnen gab – ihren vom Weinen müden Augen hatte der Arzt das Lesen verboten – befand sich manches, das gewiß nicht für seinen Unterricht in den Instituten bestimmt war.

Ob er das, von dem er nicht viel reden durfte in seinem Beruf, sich selbst nur zur Rechenschaft hingeschrieben, ob es bestimmt war, einmal in seinem Alter, von dessen behaglicher Arbeit am Schreibtisch er oft geträumt hatte, in ein rückschauendes Werk aufgenommen zu werden, ich weiß es nicht.

Ich hielt und las die Blätter mit jener seltsamen Scheu, mit der ein Sohn den lang verwehrten Blick wirft in tiefste Seelenfalten des nie mehr heimkehrenden Mannes, dem er Leben und Pulsschlag dankt; und es war mir, als führe ich mit seinem verklärten Geist ein ungehemmtes Gespräch über zarte, verhüllte Dinge, die der Lebende nie berührt hatte.

Mitten unter allerlei Anmerkungen über Gelesenes und Erlebtes stand da zu lesen:

»Das Schönste, was Dichter in allen Sprachen gesagt, und das Dümmste, was Voreilige in allen Ländern gesündigt, hat denselben Kern und Antrieb: die Liebe. Erdichtete Romane und Schauspiele sind ohne sie so wenig denkbar, wie die Biographien unserer Ernstesten und Größten. Aber unser Herz bleibt ein Künstler. Es liebt die Rosen und fühlt sich von der Botanik gelangweilt. Es braucht die Liebe und wendet sich ärgerlich von der Wissenschaft ab, die sich mit ihrem Wesen beschäftigen möchte. Es hofft, frohlockt und leidet; aber es begnügt sich in den Angelegenheiten, die ihm die wichtigsten sein müßten, da sie ihm die gefährlichsten werden können; mit schön gebauten Sentenzen, mit bunten Gleichnissen, mit schillernden Wortspielen und mit den getrockneten Blüten der Erfahrung, die den herben Geruch aller toten Freuden ausströmen.«

Jede Zeile verriet: es war ein Literat, der das schrieb. Aber nicht nur ein Literat. Es war ein Schauender und Erlebender, dessen Anteilnahme an der Welt und ihrem Frühling über den Blick aus Schulstube und Studierzimmer weit hinausging.

Und auf einem anderen Blatt, nach Tinte und Format nicht aus derselben Zeit stammend, las ich dies, das wie ein Vorwort anhub zu einem nie geschriebenen Buche:

»Der Lebensroman der Männer, so verschieden er sich sonst abspielen mag, weist ein Kapitel auf, das im Erinnerungsbuche wenigstens das Motiv gemeinsam hat: die Liebe. Was ist schon alles über sie geschrieben worden! Wenn für jede Dummheit und jede Lüge, die ein Blindverliebter oder ein Blindverärgerter sich geleistet, eine goldene Leitersprosse gestiftet werden müßte, man könnte längst von der Erde zum Mond auf einer fertigen Leiter steigen! Das letzte Wort über sie wird nie gesprochen werden, solange sich der Hungrige und der Satte im Urteil über Ernährung, der Friedfertige und der Kampflustige in der Wertung des Waffenhandwerks nicht begegnen. Sie handelt lächelnd mit Lebenstränken und Giften, die keiner voneinander kennt. Sie läßt Toren für einen kurzen Frühlingstag weise scheinen, macht aus behutsamen Weisen voreilige Narren; und aus Trivialen lockt sie noch ein flüchtig aufblitzendes Fünkchen Poesie. Sie verändert dem von ihr Berührten das Weltbild, wandelt selbst Leid in süßen Selbstgenuß und läßt sich so wenig in Worte fangen, wie der Sonnenschein in die Mützen und Mausefallen der braven Schildbürger. Und wahrlich, wer ihrer heiteren Schöne sich freuend, die »Komödie« der Liebe dichten will, der unterscheidet sich nicht gar so viel von den guten Bürgern von Schilda! Das aber ist der Zauber der Liebe, ob wir sie erleben oder nachdichten: ein Schimmer von Größe liegt über allem, was sie angeht, und – wo sie schreitet, klingen aus Sang und Jubel und Hymnen und Schwärmerei für feine Ohren die leisen Schellchen der Narrheit mit . . . Der Himmel gebe meinen Söhnen ein starkes Herz gegen ihr Gift, ein dankbares Herz für ihren Zauber, ein hellhöriges Herz für die leise klingenden Schellchen, wenn sie einzieht und wenn sie vorüberfährt.«

Mir gegenüber, als ich dies las, saß Ben und schrieb, ohne aufzublicken, einen Brief.

»An wen schreibst du denn eine so lange Epistel, Ben?«

»Ich bin Ruth Baddach einen Brief schuldig. Sie ist bei ihren Verwandten in Heidelberg.«

»So. Sag mal, Ben, was schreibt ihr euch nun so, die Ruth Baddach und du?«

Ben kneift das Auge etwas zu, was ihm ein sehr listiges Ansehen gibt, und sagt trocken: »Siehst du, Adi, wenn wir dir das mitteilen wollten, würden wir's ja vielleicht dir schreiben.«

Pause. Er fühlt, daß er frech gewesen, und es tut ihm schon leid.

»Sie hat eine Fußwanderung gemacht den Neckar aufwärts nach Neckarsteinach, schreibt sie mir. Und dann sind sie mit dem Nachen zurückgefahren. Bei Mondschein. Da läßt man sich einfach so treiben, das muß famos sein.«

»Ben, ich glaube, du bist überhaupt sehr für das Einfach-sich-treiben-lassen?«

»Gott, warum nicht – wenn Mondschein ist.« Er lacht. Dann wird er plötzlich ernst und sagt wichtig: »Du, Adi, wenn du zufällig – ich meine, es könnt' ja sein, nicht wahr – wenn du zufällig Käthe Tomasius sehen solltest in diesen Tagen . . .«

Ich habe das Gefühl, daß ich rot werde, und ärgere mich darüber. Ich hatte allerdings vor, später Käthe Tomasius zufällig zu begegnen, wenn sie in ihre Gesangstunde gehen würde.

»Wie kommst du denn darauf, Ben, daß ich – –?«

»Nun, Frankfurt ist ja so groß nicht – und man begegnet sich leicht, wenn man sich nicht gerade absichtlich ausweicht.«

»Vielleicht will ich Käthe Tomasius ausweichen?«

»Du, dann mußt du nachher um Fünf nicht ausgehen – da hat sie nämlich Gesangstunde und kommt die Taunusanlage herunter . . .«

Da ich das ganz genau weiß, kann ich ihm die weitere Schilderung des Wegs bis zur Hochstraße schenken. »Du wolltest vorhin etwas anderes sagen, Ben?«

»Ja, also,« es kommt etwas verlegen Bittendes in seine blanken blauen Augen, »sag' ihr, bitte, nichts davon!«

»Von was?«

»Nun – daß Ruth Baddach und ich uns schreiben.«

»Nanu, Junge – du bist wohl größenwahnsinnig? Was soll das denn Fräulein Käthe interessieren?«

»Sie nicht, aber – sie erzählt's vielleicht weiter.«

»Wem denn?«

»Elsbeth.«

Jetzt ist er ganz rot geworden, übers ganze Gesicht bis an die Ohren. Wir lächeln uns etwas verlegen an über den Tisch, auf dem sein angefangener Brief liegt und die Blätter von des Vaters Hand.

Und unwillkürlich fällt mein Blick auf eine Stelle in des Vaters etwas wunderlich schnörkliger Schrift, in die man sich, wie in eine alte Klosterhandschrift, erst mühsam hineinlesen muß: »Der Himmel gebe meinen Söhnen ein starkes Herz gegen ihr Gift, ein dankbares Herz für ihren Zauber, ein hellhöriges Herz für die leise klingenden Schellchen, wenn sie einzieht, wenn sie vorüberfährt . . .«

Ich sehe Ben mit neuen Augen an.

Gewiß steht Harmloses in dem Brief, den er da schreibt, aber es ist kein Kinderbrief mehr. Ben hat, ohne es vielleicht zu wissen, sein Herz entdeckt. Sein Herz, das – aus seiner einen kleinen Bemerkung hab' ich's herausgehört – noch ängstlich zwischen zwei Frauen steht, wie Buridans berühmtes Eselchen zwischen den Heubündeln.

»Ich denke,« sag' ich nach einer Weile, »Ruth Baddach und Elsbeth Tomasius sind Freundinnen!«

»Aber ja, das sind sie auch. Aber sieh mal, ich meine . . . so Mädels, nicht wahr, sie können befreundet sein und doch . . . wie soll ich das sagen? . . . sieh mal so: es ist doch der einen lieber, wenn die andere nicht dasselbe zu Weihnachten bekommt.«

Ich lache: »Da hast du recht.«

Und er, des Beispiels froh, das er gefunden und hinter dem er die Knifflichkeit des eigenen Falls versteckt glaubt, redet sich in Eifer: »Wenn die eine eine goldene Uhr bekommt, nicht wahr, dann freut sich sicher die andere für sie. Dafür sind's Freundinnen. Und wenn die andere ein Abonnement für die Oper kriegt, freut sich wieder die eine. Aber wenn sie beide zufällig ganz denselben Hut bekommen, daß es aussieht, bald hat ihn die eine auf, bald die andere – dann . . .«

»Dafür sind's Freundinnen.«

»Na ja. Das hört eben mal wo auf, nicht?«

»Bei dem Hut?«

»Oder wo anders.«

»Und sag mal, lieber Ben, du, du bist wohl in diesem herrlichen Weihnachtsgleichnis – der neue Hut?«

»Ich bin – –« Ben will aufbrausen, bezwingt sich aber, rafft seine Papiere auf und sagt nur: »Ich bin mir zu gut, mich von dir hänseln zu lassen.«

Und er verschwindet hinauf in sein Zimmer, dort seinen Brief fertig zu schreiben.

Sonst ist er nicht empfindlich. Lacht gern und gutmütig über sich wie über andere. Wenn's ihn jetzt verletzte, daß ich ihn gegen das Fell strich, so bestätigt das meine Vermutung. Der kleine Ben, immer noch das Jungchen, das Nesthäkchen in unseren Augen, ist verliebt. Zum erstenmal verliebt.

In Ruth? In Elsbeth? Ich weiß es nicht – weiß er's? Wohl in beide . . .

Und mit den Blättern spielend, auf die der Vater – wer weiß: wann, warum und in welcher Stimmung – seine stillen Gedanken über die Liebe niedergeschrieben, wandle ich auf den Spuren des vom Zauberstäbchen des Allmächtigen zum erstenmal berührten Brüderleins.

Ich stelle vergleichend Elsbeth und Ruth nebeneinander.

Man kann kaum verschiedenere Typen finden. Elsbeth, mir vielleicht durch meine Gefühle für die ältere Schwester besonders empfohlen, ist das Urbild des frischen deutschen Mädels. Wunderschönes, hellblondes Haar auf einem lieben, kindlich gebliebenen Köpfchen. Ihre blauen Augen mit den langen goldseidigen Wimpern haben oft etwas Bittendes, Erschrecktes; als wollten sie sagen: »Tu mir nicht weh, du Welt da draußen –!« Sie ist eher klein, als groß für ihr Alter. Das hübscheste an ihr sind ihre weichen, grübchenreichen Hände mit den spitz zulaufenden rosigen Fingern. Man fühlt's, es sind keine faulen Hände, und sie werden Kranken wohltun . . . Ganz anders Ruth Baddach. Sie ist schlank und groß, und ihre Nackenlinie hat Stolz, wie der Blick ihrer dunklen, feuchtglänzenden Augen. Schwer und schwarz liegt der Knoten ihres reichen Haares. Ihre Haut hat einen blassen Elfenbeinglanz; gibt ihr etwas Fremdländisches. Sie wird nie rot. Wenn ihr etwas peinlich ist, werden ihre Augen klein, und die Flügel ihrer leichtgeschwingten schmalen Nase beben. Wenn sie lacht, fliegt ihre etwas kurze Oberlippe noch ein wenig zurück und läßt die starken weißen Vorderzähne aufleuchten. Ihre Augen lachen nicht mit. Ihre Augen strahlen Intelligenz einer klugen, kultivierten Rasse. Eine junge Judith, eine reifende Deborah. Alles an ihr ist ihrem Alter voraus, ihr Blick, ihr Gang, ihre Rede. Alles ist gebändigte, ihre Zeit erwartende Energie in dieser hübschen jungen Jüdin, die, wie viele ihrer Frankfurter Stammgenossinnen, stolz ist auf ihre Abstammung aus altem Tempeladel und auf die gepflegte Reinheit ihrer Rasse.

Und, unwillkürlich lächelnd, seh' ich Ben zwischen diesen beiden so grundverschiedenen Mädchen seinen ersten Blumenweg ins Land der Liebe gehen. Nur eine kann einmal die Siegerin sein – nicht sie selbst wohl, aber ihr Typ – die Blonde oder die Schwarze. Und ich nehme mir vor, unauffällig und ohne das Glück junger, aufblühender Seelen zu stören, den Bruder zu beobachten. On revient toujours . . . das heißt doch, als Erfahrungssatz, nichts anderes, als daß der reife Mann schließlich auch für den Lebensbund den Typ in der Vollendung sucht, nach dem er, da der Hauch erster Liebe ihm die Torenaugen sehend blies, mit zitternden jungen Händen haschte.


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