Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Zweiundvierzigstes Kapitel

Wenn ich an jene Tage denke, sehe ich Berlin von bleigrauem Himmel überdacht, von scheußlichem kaltem Novemberregen durchpeitscht. Sehe, daß verklatschte Männer mißmutig die Hüte festhalten und die glänzenden Schirme balancieren gegen den böigen Wind. Sehe die fliegenden Blumenhändler, fröstelnd, in den Schutz der Häusermauern geflüchtet. Ihren riesigen Chrysanthemen hat das Wetter bös mitgespielt. Andere Blumen haben sie kaum mehr feilzubieten. Die schwarzen Beeren von Schlehdorn und Hollerbusch, die rotleuchtenden Früchte von Spargelkraut und Eberesche müssen das Blühende ersetzen.

Käthe hat in ihrer stillen, genügsamen und immer frohen Art mit Schlehdorn, Hollerbusch und Eberesche alle Vasen unserer Wohnung gefüllt. Die bunt gefärbten Zweige der Platane leuchten von Schreibtisch und Truhe. In den altmodischen Öfen knistert das Feuer durchs harzige Holz. Und der Regen fegt und klatscht an die Scheiben und glänzt von allen Dächern.

Herbst, deutscher Herbst.

Und doch hat meine Wohnung nie so viel Besuch gesehen wie in jenen unwirtlichen Tagen. Es war, als hätte eine treibende Unruhe alle Menschen erfaßt und zwänge sie, einander aufzusuchen und mit gleichgültigen Gesprächen, an denen das Herz keinen Anteil hat, zu betäuben, vergessen zu machen, was sie in Wahrheit beschäftigte, schreckte, ängstigte.

Auch mein Schwager Fips Tomasius kam, die Sache eines Frankfurter Klienten persönlich im Handelsministerium zu vertreten, ein paar Tage nach Berlin, wohnte bei mir und studierte nach erledigten Konferenzen die Riesenprogramme, Riesenversprechungen, Riesenreklamen der Theater, Konzerte und Singspielhallen, um dann doch wieder jeden Abend unsere sichere Gesellschaft im behaglichen Wohnzimmer dem nassen Gang durch das Hundewetter zu zweifelhaftem Kunstgenuß vorzuziehen. Tommy Schupp machte mir einen freundschaftlichen Besuch, brachte viel herzliche Grüße aus Frankfurt von Leuten, die ich gar nicht kannte; erzählte sprudelnd selbsterlebte Schnurren aus Rom, London und Madrid, von denen ich die meisten aus anderen Städten und anderen Jahrhunderten schon vernommen hatte; zückte schließlich mitleidlos sein Preisverzeichnis und verließ mich mit einer Bestellung, die eigentlich meine Verhältnisse und meinen Durst überstieg.

Das Ehepaar von Wüllich, Ottokar und Berta, besann sich auf die »zwar recht entfernte, aber höchst scharmante« Verwandtschaft und machte uns, den Jüngeren, plötzlich Besuch. Wobei ich den Major beinahe nicht wiedererkannt hätte. Er trug jetzt, offenbar als schmerzhafte Konzession an den wunderwirkenden Zirrusbalsam, eine etwas unwahrscheinliche Perücke, die ihm vorn eine braune Locke tief in die gerötete Denkerstirn legte und hinten am Halse abstand, als gedenke sie sich langsam, aber unaufhaltsam nach oben aufzurollen. Auch Frau Berta war durchaus nicht jünger und schöner geworden und just keine wandelnde Reklame zu nennen für die vielen der Verjüngung gewidmeten Salben und Tinkturen, die der schönheitfrohe Gatte in seiner Fabrik zur Freude der Menschheit herstellte. Ein Hörrohr, das die recht entfernte, aber höchst scharmante Verwandte zum Verkehr mit der Umwelt benutzte, war nicht geeignet, die wechselseitigen Mitteilungen zu erleichtern. Nachdem sich die beiden ausführlich über das böse Wetter, die nicht minder unerfreuliche Politik und den vom Abonnentenstandpunkt bedauerlichen Spielplan der Königlichen Bühnen ausgesprochen, auch die Erinnerung an Schwester Mathildens fernliegende Hochzeit, mit bewunderungswürdigem Gedächtnis die Speisefolge rekonstruierend, dankbar aufgefrischt, schilderten sie die Reize ihres selbstgebauten Landhauses am Wannsee, das wir bald zu besuchen versprechen mußten. Nur der neuangelegte Garten lag nach ihren Angaben noch im argen, da sie leider, auf Willibalds von Gollwitz Anraten, an sich verdienstvolle Versuche mit lauter afrikanischen Nutz- und Ziersträuchern gemacht hatten, die allem Kunst- und Naturdung zum Trotz nicht angingen und den ganzen hübsch gedachten Park in eine öde Wüstenei von dürrem, dornigem Gestrüpp verwandelten. Die Herrschaften waren demgemäß schlecht zu sprechen auf diesen Freund Bens, verweilten aber dann um so freundlicher und ausführlicher bei Ben selbst, seiner Persönlichkeit und seinen Qualitäten als Leiter seiner literarischen und künstlerischen Unternehmungen. Und langsam und immer klarer dämmerte mir der Zweck dieses überraschenden Besuches auf.

Vorsichtig vorfühlend, suchten die Wüllichs zu erfahren, ob Ben nicht etwa, auf künstlerischen oder menschlichen Gebieten enttäuscht, wie es in letzter Zeit manchmal scheine, seine so enthusiastisch begonnene, mit den Wüllichschen Unternehmungen so eng verknüpfte Tätigkeit aufgeben wolle und am Ende beabsichtige, den vielgeschäftigen Herrn Tobias Moscheles auf seinen Direktionssessel zu setzen. Es schienen da noch geheime Vermutungen privater oder gesellschaftlicher Art mit im Spiele zu sein; denn jedesmal, wenn ich antwortete oder Käthe in voller Harmlosigkeit etwas äußerte, tauschten Berta und Ottokar von Wüllich einen langen und bedeutsamen Blick, der in Frage, Zustimmung oder Bedauern sich auf früher gepflogene Gespräche zu beziehen schien. Die Unterhaltung über dieses Thema wurde recht erschwert durch den Umstand, daß Frau Berta von Wüllich, die bestrebt war, den lebhaftesten Anteil daran zu nehmen, anstatt »Ben« immer »Denn« verstand, was die Konstruktion unserer Antworten verwirrte, und für »Moscheles« zunächst meist »Moschus« hörte; ein Parfüm, das ihr mit Recht zuwider war und das hier auch keinen Sinn gab.

Auch der Dichter Honneff beehrte uns mit seinem unerwarteten Besuch in diesen Tagen. Der alte Herr war zunächst etwas abgespannt, da er erst in der falschen Etage längere Zeit mit einer Steuerrätin, die er für Käthe nahm, anstrengende Konversation gemacht hatte. Erst als er sich die Frage erlaubte, ob er nicht auch einmal den Gatten sprechen könnte, ergab sich der Irrtum; denn der Steuerrat war nicht mehr zu sprechen, da er bereits vor zehn Jahren in Osnabrück an einem Gallenleiden verstorben war. Nun war der Lyriker doch noch richtig bei uns gelandet, frischte etwas trockene Erinnerungen an das Goethehaus und etwas feuchtere an den »Prinzen von Arkadien« auf, verbreitete sich über längst verblaßte Frankfurter Theatersterne, widmete dem verstorbenen Senator Buck ein anerkennendes Wort, grub den braven Pfarrer Knospe aus, um die Länge seiner Predigten zu tadeln und die Kürze seines Lebensabends zu beklagen, und mißbilligte in gereizter Begründung die Art, in der ihm Tommy Schupp kürzlich, auf die alte Freundschaft mit dem Vater bauend, drei Dutzend Flaschen Erdener Treppchen, durchaus nicht zum Freundschaftspreis, angedreht; wofür er, Honneff, sich aber zunächst durch Nichtbezahlung rächen werde. Dann schalt er auf die reizlose Umgebung Berlins, die einem nur die Stiefel mit Sand fülle und das Herz leer lasse. Von diesem abschreckenden Beispiel norddeutscher Landschaften kam er auf das empfehlenswerte Venedig zu sprechen, dessen Stadtväter, wie er jüngst gelesen, sich ärgerlich dagegen wehrten, daß ihre Stadt nicht »vorwärts schreiten«, nicht »wachsen« dürfe mit der Zeit, nur immer ein Prunkstück bleiben solle für Fremde, für schönheitsdurstige Wanderer, ein schweigendes Paradies für Träumer, die das ewige Meer lieben und die Erinnerungen an eine große, stolze Vergangenheit. Und die weisen Stadtväter, die an Stelle des gefürchteten »Consiglio dei dieci« getreten, verlangten – und als Honneff das vermeldete, wurde er krebsrot vor Zorn – gepflasterte Chausseen statt der Kanäle, elektrische Bahnen statt der schwarzen Gondeln, Taxameter auf die Straßen und eine bequeme Brücke hinüber zum Festland, das jetzt auf der schmalen Ponte sulla Laguna nur die Eisenbahn erreicht. »Und die verbohrten Stadtväter von Venedig,« schloß Honneff seine erzürnte Einmischung in die verwirrte Kommunalpolitik der Lagunenstadt, »werden recht behalten, werden ihren Willen durchsetzen. Und den Träumern unter den zweibeinigen Säugetieren wird wieder ein geliebter Winkel der Erde verschüttet sein! Altmodische Menschen, wie Ihr Bruder Ben und ich, werden überhaupt nicht mehr wissen, wohin sie auswandern sollen, wenn ihnen dies verrückte Berlin, das ihnen heut schon am Halse steht, mal über den Kopf wächst.«

Ich hakte lachend ein und meinte, so bald werde der Fluchtgedanke ja keinen der Herren überwältigen. Aber mir war's nicht sehr ums Lachen. Ben hatte in letzter Zeit mit solcher Sehnsucht von seiner kleinen Besitzung in Morcote gesprochen, die niemand kannte außer ihm, und die ihm, der sonst so gern mit anderen teilte, darum doppelt lieb schien. »Wie Egmont zu Klärchen, möcht' ich mich hinschleichen aus all dem Berliner Kram zu meinem geliebten Morcote,« hatte er gesagt. In seinem Bureau aber war er nicht mehr so pünktlich, nicht mehr so regelmäßig erschienen. Oft wenn ich zu Stunden, die er sonst immer bei der Arbeit dort verbrachte, anläutete, antwortete das Fräulein bedauernd, der Herr Doktor sei heute noch nicht erschienen . . . es sei auch ungewiß, ob er . . . und ob ich vielleicht wünsche, mit Herrn Moscheles . . .? Ich wünschte nicht.

Aber Herr Moscheles wünschte. Gerade als ich Honneff, der bei einer Tasse Tee, einem Kirsch und einer Zigarre lebendiger, frischer, sozusagen gegenwärtiger geworden war, ein bißchen über Ben ausholen wollte; gerade als der alte Herr mit einem Lächeln im Auge, das er sonst nur zur Illumination der Erinnerungen an Venedig, den Baron Schwarzschild und alte Rheinweine spendierte, von dem Bruder sprach und seine nie versiegende Güte »viel zu sauber für diese dreckige Welt« nannte, ließ sich Tobias Moscheles melden.

Was zur Folge hatte, daß Honneff seinen Kirsch hinunterstürzte, als habe er Trangeschmack im Munde. Meine Frau empfahl sich herzlich, weil sie nicht stören wolle. Sie konnte Moscheles nicht leiden. Sanft und gütig von Natur, drückte sie ihre Antipathie niemals in Worten aus, sondern war nur stets bestrebt, wortlos und freundlich, beträchtliche Entfernungen zwischen sich und den minder von ihr Geschätzten zu legen. Sie zankte sich nie mit jemand – am wenigsten mit mir – und schalt nie auf einen Menschen. Aber es gab Leute, mit denen fuhr sie nicht in der Elektrischen und saß nicht in ihrer Nähe im Theater oder Konzert. Ging lieber zu Fuß durch den Regen nach Haus. Sie wollte nicht stören.

Moscheles hatte sich zu diesem Besuch mit einem Smoking geschmückt; und ich dachte, ob es wohl noch derselbe war, den er bei jener pietätvollen Feier in Gotha getragen. Er war sichtlich befremdet, den Redaktionskollegen Otto Honneff hier zu finden, den er im Bureau mit jenem zweifelhaften Respekt behandelte, als habe er eine ägyptische Pharaonenmumie vor sich und nicht einen ehemals bekannten Lyriker. Und es muß gesagt werden, daß ihm Honneff diese Verehrung mit gründlichster Abneigung vergalt.

»Da ist ja auch unser hochverehrter Achtundvierziger – welche unverhoffte Freude,« sagte Moscheles nach einer mir gewidmeten, aus Devotion und Herzlichkeit ohne Anmut gemischten Begrüßung. »Hoffentlich haben Sie warme Strümpfe an, werter Kollege – keine nassen Füße? Sie müssen uns noch ein Weilchen erhalten bleiben. Wir erwarten noch das Reifste von Ihrem geschätzten Alter – Trilogie der Leidenschaft – Karlsbader Elegie – Vielleicht sollten Sie mal im Sommer oder lieber schon im Lenz zur Anregung ein bißchen nach Karlsbad gehen?«

Honneff kündigte an, daß er nicht nach Karlsbad gehen werde; empfahl aber Moscheles diese Reise. Er verstärkte dabei den Ton seiner Stimme so sehr, daß in einem der deutschen Sprache Unkundigen vielleicht die irrige Ansicht hätte aufkommen können, daß in Karlsbad der Pfeffer wachse.

»Doch schon etwas rauhes Organ – unser lieber Honneff,« bedauerte Moscheles herzlich. »Sie sollten sich in acht nehmen bei dem Wetter! Mit der Luftröhre fängt's allemal an.« Moscheles hätte vielleicht noch erzählt, wie's weitergeht und endet; aber da gewahrte er die Flasche mit Kirsch. »Wenn Ihr Vorrat mal zu Ende geht von dem Kirsch da, Herr Doktor – was zahlen Sie dafür? – ich kann Ihnen einen Schwarzwälder besorgen – also prima-primissima – und was werden Sie anlegen dafür? Er kostet die Hälfte von dem, was Sie denken.«

Da ich über die Angelegenheit gar nichts dachte, so hätte Moscheles ein schlechtes Geschäft bei dieser Besorgung gemacht. Ich ging nicht weiter auf das verlockende Angebot ein; auch nicht, als er es auf russischen Karawanentee ausdehnte. Ich goß ihm ein Schnäpschen ins Glas und sagte höflich:

»Und was verschafft mir das unverhoffte Vergnügen?«

»Vergnügen –? Sehr gütig. Meinerseits – und auf Honneffs Seite, nicht wahr, werter Kollege? Aber der Herr Doktor hat ganz recht – ich hätte etwas zu sprechen . . . Aber nein, Sie können ja schließlich dabei sein, lieber Honneff.«

»Ich hatte gar nicht vor, aufzubrechen,« sagte der liebe Honneff und sah Moscheles sehr unlieb an.

»Wissen Sie, wer heut mit mir telephoniert hat?« Moscheles zeigte sich bekümmert darüber, daß ich das kaum raten würde. »Der Major von Wüllich. Ich dacht' schon, der wird mir wieder erzählen, daß ihn die neue Perücke drückt – ich hab' sie ihm besorgt. Sie war eigentlich für den Schauspieler Bröderich im »Volksfeind«. Aber dem Bröderich hat sie die Stirn gedrückt. Bröderichs Stirn – Wichtigkeit! Und die Rolle im »Volksfeind« hatten sie ihm auf der ersten Probe schon wieder abgenommen. Nu drückt sie den Major, die Perücke – Schön, der hat Zeit, sich drücken zu lassen. Soll sich gewöhnen, hab' ich nicht recht? Dann hab' ich geglaubt, er kommt mir wieder mit seinem afrikanischen Gemüs, was egal nicht angeht. Spaß, wenn das anging, hätt' man in Europa nicht auf den Major von Wüllich in Wannsee gewartet mit dem Anpflanzen! Wenn er durchaus was Ausländisches pflanzen will, hab' ich ihm gesagt, soll er Kartoffeln pflanzen. Die kommen auch weither, aus Virginien. Und die gehen an, wenn er nur die Hälfte von dem Mist drauf schüttet, der in seinen Reklamen für den Zirrusbalsam in allen Wochenblättern gedruckt steht . . .«

Ich machte Herrn Moscheles darauf aufmerksam, daß mir diese interessanten Mitteilungen über den Major nicht ganz zur Sache zu gehören schienen, von der er zu reden begonnen.

»Er redet doch nie von dem, was er sagen will.« Honneff paffte ingrimmig vor sich hin.

Moscheles nickte vergnügt. »Mit dem Gehen will's nicht mehr recht bei unserem verehrten Honneff, aber anderen nach den Hühneraugen treten, das macht er noch ganz gut. Ich hab' mir's abgewöhnt, empfindlich zu sein. Man kommt ohne das weiter. Und ist man weit genug – na, dann kann man ja wieder empfindlich werden. Hab' ich nicht recht?«

Ich bestätigte ihm das, worauf er sich, auf meine nochmalige Bitte entschloß, zur Sache zu reden.

»Ihr Herr Bruder, der Doktor – macht er Ihnen Freud'? Mir nicht. Sie werden sagen, er hat anderes zu tun, als dem Moscheles Freude zu machen. Recht haben Sie. Aber sehen Sie, ich bin das Geschäft. Ich denk' fürs Geschäft. Ich fühl' fürs Geschäft. Und wenn mich was nicht freut, dann hat's Geschäft nischt zu lachen. Was ist mit ihm los? Er reitet nicht mehr. Seinen Fuchs soll er verkauft haben. Ich hätt' ihm tausend Mark mehr dafür verschafft, wenn er mir . . . In der letzten Premiere – aufgelegte Pleite übrigens. So 'n Stück bau' ich auch, wenn ich mir Zeit nehm' – die Gnädige allein in der Loge. Der Kallistos hat nur zu ihr 'rauf gespielt. Kunststück, wie die aussah! Und, was soll ich Ihnen sagen, beinah' wär' die letzte Nummer zu spät erschienen. Zu spät! Warum? Der Doktor hat die Revisionen in seiner Mappe vergessen. Er und vergessen – nie passiert noch! Weiter. Der Kaltenborn – ganz Berlin spricht von der »Judith« und zerbricht sich den Kopf, wer der Holofernes ist. Mancher möcht's schon sein, wenn er vorher . . . Pardon – also der Professor kommt – gestern – angesagt ist er auf zehn Uhr. Wer ist nicht da? Der Doktor. Um elf kommt er – der Professor ist seit einer halben Stunde fort. Wütend natürlich. Nicht mal adieu gesagt hat er – bloß die Funken hat er gebürstet aus seinem blonden Vollbart und die Tür zugeschmissen, daß ich gewußt hab': er ist draußen. Und was war geschehen? Vergessen hat's der Herr Doktor. Und singt er noch in seinem Bureau? Er singt nicht mehr. Sonst hat er immer gesungen, wenn er allein war – so leise bloß, daß es niemand gehört hat, außer mir, aber gesungen. Traviata, Rigoletto, Fra Diavolo – wenn er sehr vergnügt war, den Trauermarsch aus dem Siegfried. Jetzt? Kein Ton mehr. Es ist nicht stiller im Feuilleton der »Kölnischen Zeitung« von Honneff seinen Büchern, wie's im Zimmer von dem Doktor still ist jetzt. Man merkt's gar nicht, daß er da war. Höchstens daran, daß immerzu was fehlt – oder was verlegt ist. Oder es ist am Haustelephon was nicht in Ordnung, daß es in allen Zimmern klingelt wie verrückt. Und dann kommen Telegramme, die keiner von uns versteht – so gestern ein dringendes. Was stand drin? Wörtlich: »Erlaube Anfrage zu wiederholen, ob wieder dankbarst auf neues Holzbein rechnen darf. Hagedorn.« Was sollen wir um Gottes willen in einer »Anstalt für angewandte Schönheit« mit'n Holzbein? Und heute kommen aus einem muckelligen Papiergeschäft – warum kauft er nicht bei großen Firmen, bei unserem Verbrauch? – kommen, so wahr ich's Leben hab', sechs alte Wandkalender von diesem Jahr – ich bitt' Sie, im November! Wissen Sie, so 'ne verrückten Kalender – so vorne drauf: »Neunter November – Napoleon stürzt das Direktorium 1799, Eduard Prince of Wales geboren 1841, Robert Blum erschossen 1848 – und hinten drauf: Brühsuppe mit Klößchen – Weiße Bohnen mit Hammelrippchen – Apfelcharlotte – und drunter: »Lebe, wie du, wenn du stirbst, wünschen wirst gelebt zu haben. Gellert« . . . Davon gleich sechs Stück – Wollen Sie einen?«

Moscheles, dessen beschwörende Hände immer höher gingen, wußte noch mehr Fälle zu erzählen von der merkwürdigen Zerfahrenheit, Gleichgültigkeit und Unsicherheit Bens im Disponieren. Manches, wie das Telegramm mit dem Holzbein und die Kalenderbestellung, vermochte ich mir ja zu erklären. Aber alles zusammen verstärkte das beängstigende Bild, das ich selbst in letzter Zeit von Ben gewonnen, wenn ich seiner einmal durch glücklichen Zufall habhaft werden konnte. Das drohende Abscheuliche, das mir der Kammerherr neulich im Anblick des Krebses auf der Damastdecke angedeutet, hielt ich freilich für unmöglich. Und mochte selbst der ruinierte Erbprinz in einem verzweifelten Moment skrupellos so etwas erwägen. Ruth selbst – – Ich war unter einem Vorwand gleich am nächsten Tage zum Tee bei ihr erschienen, traf allerdings den Erbprinzen ohne Adjutanten, aber zusammen mit Gesandtschaftsattachés, Künstlern, Sportleuten in der üblichen, durch nichts sich von anderen Nachmittagen und anderen Tees unterscheidenden Unterhaltung über die Wichtigkeiten und Nichtigkeiten des Tages. Auch an den folgenden Nachmittagen war ich – angeblich war mein Telephon in Unordnung, und ich mußte Ben sprechen – zu den verschiedensten Stunden »mal rasch vorbeigekommen«, ohne je Ungewöhnliches zu sehen oder zu hören. Einmal war Ruth im Tattersall, sie hatte zwei neue Pferde gekauft; und ein andermal war sie zu Salbach gefahren wegen ihres Pelzes. Die beiden anderen Male war sie allein, zeigte eine höfliche Freude mich zu sehen, gab mir einen neuen Roman für Käthe mit und empfahl mir eine amüsante Komödie im Deutschen Theater. Nebenher erwähnte sie auch, daß der Erbprinz in ihrer Loge war, und zeigte mir ein Bild von ihm auf einem herrlichen Schimmelwallach, den sie ihm abgekauft hatte.

Was Moscheles mir in seiner bildhaften Art mitzuteilen für nötig gefunden – nötig, weil er sich wohl zeitig versichern wollte, daß er und seine Stellung nur gewinnen konnten bei einer etwaigen Neuordnung der Verhältnisse – das stimmte mich wieder sehr nachdenklich. Der bewegliche kleine Mann gab mir beim Abschied ein schmales goldgeschnittenes Bändchen: »Gedanken des Vicomte de Lussignac über die Moden der Menschen und die Menschen der Mode. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Tobias Moscheles.« Da Tobias Moscheles, wie vielen bekannt war, ungefähr so gut Französisch sprach, wie ich Chinesisch, so war diese Sammlung seiner pseudonym geschriebenen Aufsätze in solcher Form eine ungewöhnliche Keckheit. Das Widmungsblatt zeigte ein Faksimile der Handschrift des »Vicomte«, der sich hier, wie eine lichtvolle Anmerkung von Tobias Moscheles erläuterte, in der Absicht den Schutzpatron dieses Buches zu ehren, der ihm nicht recht geläufigen deutschen Sprache bediente. Da stand zu lesen: »Dem gute Freund von seine Freund Tobias Moscheles, dem ausgezeichnete Herr Docteur Benjamin Mewes grüßt in großen Verehrung unbekannt der Vicomte de Lussignac.« Wenn man aber nicht erfahren hätte, daß dies ein Vicomte geschrieben, hätte man geschworen, es sei die Handschrift einer Kellnerin.

Als Moscheles endlich mit Honneff, der langsam und tiefsinnig meinen Kirsch ausgetrunken und dann ein bißchen im Sitzen geschlafen hatte – »er denkt, er ist auf der Redaktion,« meinte Moscheles anzüglich, als er's sah –, gegangen war, sprach ich besorgt mit meiner Frau über das Gehörte.

Käthe blätterte vorsichtig mit spitzen Fingern in den »Gedanken des Vicomte de Lussignac«, als bestehe die dringende Gefahr, daß sie sich eine Hautkrankheit davon hole, und sagte in ihrer freundlich schlichten Art: »Wenn es bloß Tobias Moscheles gesagt oder bloß der Vicomte de Lussignac geschrieben hätte, wäre ich heilig überzeugt, es ist nicht wahr. Da der gute alte Honneff nicht widersprochen hat, wird's wahrscheinlicher. Und da deine Beobachtungen damit übereinstimmen, scheint's leider richtig. Ich hatte mich auf den gemütlichen Abend gefreut – es gibt Schnitzel mit Bratkartoffeln – aber mir scheint wichtiger, du gehst zu Ben. Er braucht jemand. Und er hat in dem großen Berlin an Freunden, die ihn noch nie angepumpt, noch nie ausgenützt, noch nie im Stich gelassen haben, nur seinen Bruder, nur dich. Ich werde gleich telephonisch anfragen, ob er zu Hause ist.«

Er war nicht nur zu Hause, er hatte gerade mich anläuten wollen. Aus denselben Gründen. Er wünschte mich heute noch zu sprechen. Allein.

Er schlug mir ein elegantes Restaurant in der Charlottenstraße vor, dessen mit weißen Wolkenvorhängen verhangene Fenster ich mir manchmal beim Heimweg, wenn ich mit Käthe im Schauspielhaus den Matkowski als »Götz« gesehen oder die Rosa Poppe als »Sappho«, mit dem leisen Argwohn betrachtet hatte: dahinten geht's gewiß sehr pikant zu und verflucht teuer.

Pünktlich um acht Uhr war ich zur Stelle. Das Sälchen war nicht anders, wie die Sälchen anderer besserer Berliner Restaurants. Ein langer, dürrer Kellner, der auch ein englischer Diplomat hätte sein können, trat auf mich zu: »Herr Doktor Mewes?« Und da ich, etwas erstaunt, bejahte: »Der Herr Doktor lassen den Herrn Doktor nach hinten bitten.«

So schritten wir, der Diplomat höflich den Weg zeigend, nach hinten. Zu meiner Überraschung stieß der Diplomat die kleine Türe eines Chambre particulière auf. Unter einem runden Spiegel, der die verschlungenen Namenszüge, Devisen und Herzen vieler Pärchen im Schnitt von vermutlich sehr kostbaren Brillantringen aufwies, saß vor einer Flasche Burgunder auf dem roten Ripssofa mein Bruder Ben. Er, der sonst abends immer Cutaway oder Smoking anzog, trug, was mir gleich auffiel, einen grauen Sakko und einen weichen Kragen. Auf einem Stuhl lag, unter Hut und langem Havelock, eine Ledertasche.

»Willst du verreisen?«

»Ja. Um elf Uhr geht mein Zug nach Luzern.«

Ich war so verblüfft, daß der Kellner mir fast mit Gewalt meinen Mantel abnehmen mußte.

»Wir nehmen das gewöhnliche Souper – es ist dir doch recht, Adi? Und – Ober, stellen Sie eine Roederer kalt.«

»Sehr wohl. Soll serviert werden – oder erwarten der Herr Doktor Damen?«

»Nein. Wir bleiben allein. Nach dem Braten nur Mokka und Zigarren. Wenn es ein Viertel nach zehn Uhr ist, lassen Sie mir eine Droschke holen.«

Als der Kellner gegangen war, bestürmte ich Ben mit Fragen. Was ist los? Warum reist du? Wohin? Warum dieses merkwürdige Lokal?

Ben hatte seine ganze liebenswürdige Sicherheit wieder, die ich in der letzten Zeit oft an ihm vermißt hatte. Aber über allem, was er sagte, lag etwas wie eine melancholische Ruhe, die seinem Wesen fremd war.

»Ich fahre – so rasch und so direkt wie möglich – nach dem einzigen Erdenwinkelchen, das wirklich mir gehört und zu dem ich wirklich gehöre. Nach Morcote. Übermorgen seh' ich die Zypressen der Madonna del Sasso wieder und binde die Rosen – dort gibt's jetzt noch viel, viel Rosen – ans Spalier meines Häuschens.«

»Und dein Unternehmen –? Die Zeitschrift –? Und Ruth?«

»Den »Letzten Schick« wird Moscheles so lange weiter erscheinen lassen, bis das Publikum die blöde Entbehrlichkeit solchen Unternehmens eingesehen hat, hinter die ich sehr langsam erst gekommen bin. Die andern Unternehmungen? Was nicht Reklame für die Wüllichsche Fabrik war – ich bin aus dieser Abhängigkeit beim besten Willen nie hinausgekommen – ist eine Pflanzstätte armseliger Halbtalente der Kleinkunst – und wert, daß es zugrunde geht . . . Die paar Verblendeten, die daran geglaubt haben, wie ich – eigentlich ist's nur ein unerhört dummes Tippfräulein und eine Scheuerfrau, die Witwe Anna Klotz, denn die andern . . . aber lassen wir das – ich hab' sie natürlich sichergestellt. Bei Tobias Moscheles brauchte ich das nicht, denn der hat's durch Kontrakte und Zusätze zu Kontrakten und Zusätze zu den Zusätzen – »praktisch«, wie er ist – längst selbst getan . . . Und was Ruth Baddach anbetrifft –«

Aber da kam der Kellner mit der Schildkrötensuppe.

Mir aber lag's immer noch im Ohre: Ruth Baddach. Warum sprach er den Familiennamen seiner Frau? Und warum klang der Name nicht um eine Nuance wärmer, heller, wie vorhin Tobias Moscheles und Anna Klotz, die Scheuerfrau?

Hinter dem Kellner hatte sich geräuschlos die Tür geschlossen. Von nebenan kicherte halb unterdrücktes Mädchenlachen. Eine dunkle Männerstimme bat und grollte dazwischen. Dann war alles still.

»Der Raum hier wird dir nicht sympathisch sein, Adi« – Ben nahm einen durstigen Schluck Burgunder, dann sah er mich mit seinen treuherzigen Jungenaugen an. »Verzeih' das Lokal. Aber es ist auch eine Art Abschied hier für mich. Ich habe in der letzten Zeit manchmal . . . Die Theater sind alle nahe, nicht wahr – man hat gute Verbindungen zum Westen. Den Wagen benutzte sie ja meistens.« Wieder vermied er's, »Ruth« oder »meine Frau« zu sagen. »Das Herz ist nicht mit vor Anker gegangen hier. Nie. Aber das Blut ist zuweilen unruhig. Man schädigt niemand, und man vergißt ein bißchen. Weniger die anderen – mehr sich selbst.«

Der Fisch wurde serviert. Ben sprach vom Fang des Rheinlachses, der nachts bei Fackelbeleuchtung unterm Felsen der Lorelei am reichsten und schwersten gefischt werde. Und mit ganz ruhiger Stimme erläuterte er mir das Rezept einer Tunke, das er einem Küchenchef in Budapest verdankte. Der Kellner lächelte diskret. Er kannte diese Art Unterhaltungen in seiner Gegenwart.

Als wir wieder allein waren, fuhr Ben unaufgefordert fort: »Wir haben nicht viel Zeit, Adi – und werden uns vielleicht, wenn du mich nicht bald besuchst, bald besuchst – du, das wäre fein! . . .« Ein Fünkchen jener alten, unzerstörbaren Freude am Projektemachen leuchtete in seinen blauen Augen auf. Er legte eifervoll seine Hand auf meine. Seine Finger waren kalt und mir schien, sie zitterten ein wenig. »Adi, bald, ja? Versprich mir's!«

»Aber um Gottes willen, Ben, ich stehe ja vor lauter Rätseln – erzähl' mir doch erst, was denn . . .«

»Ist da viel zu erzählen? Seid ihr nicht alle, bist du nicht klüger gewesen – immer klüger als ich? Ruth –« Jetzt sprach er den Namen. Er klang hart und fremd in seinem Mund, es war, als rede er von einer Frau, die irgendwo einmal vor tausend Jahren in Mesopotamien gelebt und seltsame Abenteuer bestanden – »Ruth – die Namen passen selten zu den Menschen. Du kennst das schöne Buch von jener Ruth, der Moabiterin, die mit Naëmi kam, Ähren aufzulesen, »dem nach, vor dem sie Gnade finde«. Und du kennst die List, die ihr Naëmi eingab? In der letzten Zeit hab' ich wenig gelesen – keine Neueren – ich hab' das Ohr nicht mehr gehabt für sie und nicht mehr die Ruhe – und nichts von meinen geliebten Alten – aber zu dem Buch Ruth hab' ich manchmal gegriffen und – nun weiß ich, ich hätte es früher tun sollen.« Bens Auge ruhte auf dem blutroten Kreis des Burgunderglases, und es war, als ob er in einer Schrift lese. Ganz ernst und fromm war sein Ton, als er die Worte jenes alten Idylls wiederholte, das Priesterlist in die Heilige Schrift eingefügt, den Stammbaum des Königshauses von Juda zu erweisen: »Ruth ging hinab zur Tenne und tat alles, wie ihr Schwieger geboten hatte. Und da Boas gegessen und getrunken hatte, ward sein Herz guter Dinge und kam und legte sich hinter einen Kornhaufen; und sie kam leise und deckte auf zu seinen Füßen und legte sich. Da es nun Mitternacht ward, erschrak der Mann und beugte sich vor, und siehe, ein Weib lag zu seinen Füßen. Und er sprach: Wer bist du? Sie antwortete: Ich bin Ruth, deine Magd. Breite deine Decke über deine Magd; denn du bist der Erbe . . .« Viel anders wie Boas, der »weidliche Mann vom Geschlechts Elimelechs«, bin auch ich nicht zu Ruth gekommen und zur Ehe mit ihr. Du weißt das längst. Ich seh's erst seit Tagen. Nur – sie hat mir keinen Sohn geboren, der der Vater von Königen werden könnte. Und ich war nicht der »Erbe«, von dem die Schrift spricht. Denn mein ganz auskömmliches Vermögen ist eine Bagatelle neben ihrem Reichtum. Sie ist seit ihres Vaters Tode – seit dem Prozeß gegen die arme kleine Artistin, die jetzt wieder mit den Kakadus auftritt . . . ich hab' ihr übrigens das erste Engagement besorgt.«

»Du, Ben?«

»Das Würmchen hat mir so leid getan. Ich habe sie besucht – sie saß so arm zwischen ihren Vögeln und so verbittert – und da hab' ich einen Vertrag mit ihr gemacht. Sie darf nie, nicht schriftlich, noch mündlich, Ruth beschimpfen und soll möglichst wenig von dem toten Kommerzienrat erzählen – ganz kann man ihr das nicht verbieten, denn es war schließlich ihre kurze Glanzzeit. Dafür zahl' ich ihr eine kleine Rente . . . Es ist gut, daß wir davon reden. Das muß nun durch dich gehen, durch dein Bureau. Von der Schweiz aus ist das alles recht schwierig. Ich schreib' dir ausführlich darüber oder noch besser – du kommst. Siehst du, du mußt kommen. Nicht nur als Bruder, auch als mein Anwalt. Außerdem du hast mir ja vorhin versprochen.«

»Aber nein, Ben, das hab' ich nicht. Das konnt' ich auch gar nicht. Aber erzähle weiter – von Ruth und dir.«

»Der Prozeß damals hat mir zuerst die Kluft gezeigt zwischen ihr und mir. Es war, als ob ich plötzlich in einen ganz tiefen Abgrund sehe, der sich vor meinen Augen verbreitert. Und aus dem Abgrund stiegen böse Dämpfe . . . Die vielfache Millionärin – denn das ist sie – rächt sich kleinlich, wirft ein armes Hascherl, an dem ihr Vater eine letzte, vielleicht närrische, greisenhafte Freude gehabt hat – weil ein Formfehler des Testaments ihr recht gibt – in das Proletariat der Artistik zurück. Da fühlt' ich zum erstenmal, hinter welchen Ähren und welchen Ehren diese Ruth hergeht. Es war, als ob ich plötzlich das Fremde in ihr sähe. Und damals hab' ich auch zum erstenmal in ihren Augen hinter der schrecklichen Schildpattlorgnette den kühlen Hohn der Überlegenheit gefühlt. Sie ist nicht nur reicher, und das ist mächtiger, sie ist auch weltklüger, als ich. Und alles, was ich trieb und strebte, hat sie als Phantasterei erkannt. Längst. Hat sie nur als Spielzeug gelten lassen. Ich wußt's, eh' sie mir's sagte. Und da fing alles andere an für mich zu verblassen. Die hübsche Wohnung – die ja demnächst mit einer großen Villa vertauscht werden sollte – die Kunst und Kleinkunst in den Räumen, die Bilder, die Vasen, die Teppiche, die Bronzen, die Gemmen – alles verlor Glanz und Ansehen. Aus dem japanischen Museum der närrischen Witwe Ida Jenisch – ich wußte nun, daß es eine Närrin gewesen – war ich nur ins feudalere, umfassendere Museum Baddach übergesiedelt, in dem mir, meinem Herzen, meiner Mitfreude kein Stück mehr gehörte. In dem ich ein Gast war, wie alle die Berühmtheiten und Betitelten, die sich einführen ließen, gut zu essen, Musik zu hören, zu flirten, zu intrigieren, warm zu sitzen zwischen schönen, gepflegten Frauen und sie mit ihren Augen zu streicheln, mit ihren halblauten Scherzen zu beleidigen. Ein Gast, wie die andern; nur einer, der früher kommen mußte, später gehen durfte. Ein Haushofmeister ihres Ehrgeizes, ein Prinzgemahl in ihrem Reiche des Esprits, der Eleganz, des Genusses und der Streberei. Warum hat mir das keiner von euch gesagt, von euch Klügeren! Honneff hat's mal angedeutet. Da war er betrunken von einem alten Boxbeutel, den ich ihm zum Geburtstag geschenkt – und am nächsten Tag hat er sich stotternd entschuldigt und gesagt, er sei ein Trottel und verkalke; und glaube kein Wort von dem, was er da gestern gelallt. Er hat alles geglaubt. Denn er ist, alt, zerbrochen, vom Alkohol geschwächt, seinen Ruhm, wie seine Freunde überlebend, unfähig noch zu schreiben, und doch immer noch klüger, als ich. Als ich war. Aber das alles war noch erträglich – als Strafe. Denn auch Leichtsinn, auch eine falsche Lebensauffassung, ein Mangel an Schwere im Gemüt, an Verantwortungsgefühl – das weiß ich jetzt – ist strafbar. Aber nicht mit lebenslänglicher Haft – das nicht, Adi, das nicht! Aber bis zu den letzten Konsequenzen hatt' ich's doch noch nicht durchdacht. Hatte dem Ende nicht ins Auge zu sehen gewagt. Feig, aus Bequemlichkeit vielleicht. Da aber kam das Unerträgliche, kam – –«

Lautlos stand ein Kellnerdiplomat im Raum, entfernte, breit schwingend, wie ein Zauberkünstler, eine silberne Stürze von der knusprig gebratenen Poularde, die schon zerlegt war, präsentierte sie mit lächelndem Stolz und bot an.

»Setzen Sie nur alles hier her – auch Salat und Kompott – wir bedienen uns selbst.«

»Das geschieht meist in diesen Räumen,« ein maliziöses Lächeln huschte um das ausrasierte Kinn. Dann war der Kellner wieder ernst und eifrig bei seiner Aufgabe. Setzte hin, überblickte den Tisch, goß Wein nach, verbeugte sich und verschwand.

Und Ben fuhr fort, als hätte nichts ihn unterbrochen: »Dann kam er. Ein Besonderer, Erlesener –? Ich möcht' nicht ungerecht sein in der Antwort. Jedenfalls Erbprinz, der nie regieren wird – aber umwittert vom Duft der Lebenshöhe. Wenn's Ahnungen gäbe, ich hätte in Venedig spüren müssen, daß er mein Schicksal sein würde. Wir spielen die umgekehrte attische Komödie, wir zwei – das Satyrspiel ging dem Trauerspiel voraus. Erst Teresina – dann Ruth.«

»Ben, du glaubst . . .«

»Glaube? Ich weiß. Wir haben uns ausgesprochen. Heute morgen. Sie und ich. Die Ehe hat sie enttäuscht. Ich bin nicht der, den sie geträumt; der sich in die Reihen der Herrschenden der Weltstadt emporarbeitet mit allen Mitteln der Macht, die sie kennt und – nennt. Denn sie spricht vom Gelde so ruhig, so sicher, wie vom Genie und vom Glück, von der Ellenbogenkraft und von der Religion. Ich bin nicht der, neben dem sie die Rolle spielen kann, nach der alles in ihr fiebert und drängt. Für die sie sich vorbestimmt glaubt, die nicht zu spielen eine Sünde wider sich selbst wäre. Das ist ihre Philosophie. Und sie trägt ihr Glaubensbekenntnis vor, ganz kühl, ganz logisch, ganz gelassen. Ohne ein hartes Wort, ohne eine Würdigung des Widerspruchs, von wo er auch käme . . . Adi, ich habe in schönen Formen – das sagen mir und ihr alle Tage die Maler und Bildhauer und die anderen – ein System des Ehrgeizes und des gesellschaftlichen Machthungers geheiratet. Ich habe Ketten getragen, goldene Ketten – und nicht gewußt, was mich so in die Seele schneidet, was mich so müd' macht, was mir die Träume wund drückt und die kaum flüggen Hoffnungen abwürgt. Jetzt weiß ich's. Und bin auf dem Wege in die Freiheit.«

»Du willst dich scheiden lassen?«

»Auch dazu wird's kommen. Denn ich will ihren Weg zur Prinzessin – nein, dazu wird's leider nicht reichen, aber: zur morganatischen Gattin eines Prinzen nichts in den Weg legen. Auch nicht dem Prinzen, dem das Wasser am Hals steht. Glaub' mir, Adi, so wahr ich dich lieb habe und die alte Mutter in Frankfurt, der's nicht eingehen wird, daß ihr Jüngster einer Frau davonläuft, mit der er die Ringe getauscht – glaub' mir's, ich spreche ohne Groll von dem Erbprinzen, der zum zweiten Male die Gondel besteigt mit dem, was mein war. Spreche, wie die Ältesten des Volkes im Buch Ruth, das ich in den letzten Tagen, wie unter einem Zwang, oft gelesen: »Der Herr mache das Weib, das in dein Haus kommt, wie Rahel und Lea, die beide das Haus Israel gebauet haben; und wachse sehr in Ephrata und werde gepriesen zu Bethlehem!«

Da brachte der Kellner den Mokka und die Zigarren. Er machte große Augen und – ich sah das zwischen den vielen Kerzen und Monogrammen im Spiegel – das Erstaunen wich nicht aus seinem Gesicht. Denn es war gewiß das erstemal, daß in diesem Raum von Bethlehem-Ephrata gesprochen wurde.


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