Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

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Zweites Kapitel

Wenn du sehr brav zu sein versprichst, erzähl' ich dir etwas,« sagte Frau Margarete Morgenthau, die auf den Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer meiner Eltern kam. Und ohne das Gelübde meiner Bravheit abzuwarten, fügte sie sofort hinzu: »Du hast eben ein Brüderchen bekommen.«

Ich weiß mich noch gut zu erinnern, in unserem kleinen Eßzimmer geschah's, das wir, da nach des Vaters Wort »viel geduldige Schafe« hineingingen, das »Ställchen« nannten. Und unzählige Familienbilder, ernste Herren in Vatermördern und lächelnde Damen mit Büchern und Blumen in den Händen, sahen zu, wie Margarete Morgenthau nach dieser Mitteilung ein weißes Taschentuch ausgebreitet ins Fenster legte. Die warme Julisonne, die hoch am Himmel stand, leuchtete prall darauf. Dieses aber war – viel später hab' ich's erfahren – ein sinnreiches Zeichen für den Gatten Joseph Morgenthau. Der konnte von seinem Arbeitszimmer aus, drüben über der Straße, durch die Zweige des breiten Akazienbaumes dies Fenster sehen und betrachtete es an jenem Sommermorgen andauernd interessevoll. Denn seit unsere Sophie um neun Uhr morgens seine Frau vom Morgenkaffee und dem »Intelligenzblatt« aufgeschreckt: »Ei, Sie möchte doch 'mal gleich erüwwer komme, Frau Morgenthau,« ahnte er ein freudiges Ereignis im Hause seines Freundes Hubert. Nun sagte ihm verabredetermaßen das Tuch: alles ist gut gegangen – das Kind ist da.

Frau Morgenthau war eine der besten Freundinnen unserer Mutter, etwas älter, als diese, wohlbeleibt, mit roten, immer etwas erhitzten Backen und einer pechschwarzen Haarkrone auf dem gutmütigen, etwas breiten Gesicht. Alles an ihr war breit. Auch ihre Hände, die meiner Kindheit viel Gutes getan. Auch ihre Rede, die meinem jugendlichen Ungestüm manchmal zu ausführlich schien und meist mit viel eindringlichen Fragen nach Dingen geschmückt war, die ich bedeutend lieber für mich behalten hätte.

Im Nebenzimmer ließ sich jetzt ein dünnes, quieksendes Stimmchen vernehmen.

»Merkwürdig,« Frau Morgenthau wiegte mit leiser Mißbilligung ihr Haupt und heftete ihren Blick in den Akazienbaum, »merkwürdig, es hätte ein Mädchen sein sollen. Aber, mein lieber Junge, die Natur spielt wunderbar.«

Ich war zehn Jahre alt und dachte noch nicht viel über das Spiel der Natur nach. Wußte auch damals nicht, daß Frau Morgenthau, die selbst kinderlos, aber kinderlieb war, in den Kreisen ihrer Bekannten eine scheue Verehrung genoß, weil sie stets das Geschlecht eines erwarteten Menschleins aus irgendwelchen Anzeichen in Mienen, Gehaben oder Träumen der Mutter richtig und untrüglich zu bestimmen wußte. Bloß diesmal hatte sie sich offensichtlich geirrt. Es blieb aber, soviel ich weiß, der einzige Fall, in dem Frau Morgenthaus prophetische Sicherheit versagte. Dieser Irrtum der sonst Unfehlbaren aber hatte zur Folge, daß Babykorb und alles Zubehör in rosa ausgeschlagen und verziert war; denn Rosa ist nach ererbtem Brauch die Farbe der Mädchen, Blau aber die Farbe der Jungen. Und Frau Morgenthau hatte einen Zweifel darüber, daß es ein Mädchen sein werde, in ihrer bestimmten Art nicht geduldet; ja sie hatte noch zwei Tage vor der Geburt mit dem Doktor Schilling, unserem Hausarzt, der die Möglichkeit unfehlbarer Voraussage leugnete, einen ärgerlichen Disput gehabt, den meine gute Mutter durch einen besänftigenden selbstgemachten Nußlikör, der von Arzt und Freundin in gleicher Weise geschätzt wurde, gütig beilegte.

Frau Morgenthau begab sich wieder in die Wochenstube, in deren Halbdunkel ich rasch durch die geöffnete Tür einen scheuen, neugierigen Blick warf. Ich sah aber nur ein mir unbekanntes weibliches Wesen von hinten, das sich die Ärmel einer blauen Bluse bis zu den Ellbogen aufgekrempelt hatte und, wie mir schien, sich an einer auf Stühle gestellten, kleinen Badewanne plätschernd zu schaffen machte. Vom Bett meiner Mutter gewahrte ich nur einen Kissenzipfel, spitz und hell, von meinem neuen Bruder überhaupt nichts.

Allein geblieben im »Ställchen«, überließ ich mich einer wunderlichen Gedankenflucht. Nun waren wir mit einmal drei: Mathilde, ich und der Kleine, der da nebenan wimmerte. Wie kam das und warum? Was würde Mathilde sagen, wenn sie aus der Klavierstunde kam? Und erst der Papa, der auf seinem Sonntagmorgengang um die Anlagen jetzt wohl gerade am Eschenheimer Turm angelangt war! Ja, und morgen vor der Religionsstunde, da wollte ich, genau so wie neulich der Seligmann, der eigentlich ein Jude war, aber die evangelische Religionsstunde doch auf Wunsch des Vaters mitnehmen durfte, an das Katheder zu dem Herrn Bauschmidt herantreten und sagen: »Entschuldigen Sie, Herr Bauschmidt, ich habe gestern mittag ein Brüderchen bekommen.« Und nun waren gerade die Tanten nicht in Frankfurt; die wären doch sicherlich gern dabeigewesen, wie das Brüderchen kam!

Ja, wie war es denn gekommen? Und warum gerade heute, am Sonntag? Eigentlich fein, daß es just ein Sonntag war; und daß die Sonne so herrlich schien! Aber nun würden wir sicher später zu Mittag essen, als sonst. Und der wievielte Juli war denn eigentlich heute? Das müßte man sich doch merken. Der siebzehnte – fein, da konnte ich gleich in meinem »Schülerkalender« nachsehen, was da sonst noch . . . »1762 Peter III. von Rußland wird erdrosselt.« Kein schöner Gedenktag. »1792 Kosciusko siegt bei Dubienka über die Russen.« Schwierige Namen. Gut, daß wir keine russische Geschichte zu lernen brauchten. »1793 Charlotte Corday enthauptet.« Erdrosselt . . . enthauptet . . . einen blutigen Geburtstag hat er sich ausgesucht. Und gerade, wie ich mir überlege, wer Charlotte Corday gewesen sein könnte und warum sie wohl enthauptet worden ist, kommt Mathilde aus der Klavierstunde.

Sie ist ein Jahr jünger als ich, aber genau so groß. Ihre zwei langen, kastanienbraunen Hängezöpfe fordern heraus, sie daran zu ziehen; und ich habe häufig dieser Verlockung nicht widerstanden. Dann hatte sie eine Art, mit der schlanken, knochigen Kinderhand mir ganz rasch eine Serie von Katzenköpfen zu verabreichen, die mir heute noch in schmerzhafter Erinnerung ist.

»Du, Mathilde, rat mal, was wir bekommen haben?«

»Ich mag nicht raten.« Das ist nicht wahr; sie fürchtet einfach, daß sie's nicht kann.

»Du bekommst einen Groschen, wenn du's rätst.«

»Zeig' mir erst den Groschen!«

Das geschieht. Die Prüfung ergibt, daß der Groschen zwar echt, aber dreckig ist; was sich daraus erklärt, daß ich ihn vorhin auf der Straße gefunden habe.

»Also nun rat, was wir bekommen haben?«

»Von wem haben wir's bekommen?« Das ist eine sehr gescheite Frage. Denn hätten wir's von Tante Emma bekommen, so wären's – leicht zu raten – Zuckerplätzchen. In diesen sah sie die einzige ganz unschädliche Leckerei für Kinder. Und hätten wir's von Onkel Ammann bekommen, so wären's sicher kleine Kupferstiche, von denen uns allemal der Vater die Hälfte schleunigst wieder abnahm, weil sie aus Romanen stammten, deren Inhalt, geschrieben wie gemalt, für die Jugend durchaus ungeeignet war.

Nach einer Weile des Nachdenkens entschied ich: »Vom lieben Gott haben wir's bekommen.« Und mir war dabei ganz fromm zumute.

Aber Mathilde traute meiner Frömmigkeit nicht. »Dir wird gerade der liebe Gott was schenken, wo du gestern wieder eine Vier im Rechnen gehabt hast!«

»Der liebe Gott fragt nicht nach den Zensuren, wenn er was schenken will. Und übrigens hatte der Karl Zillig auch eine Vier. Und wenn er mir was schenken will –«

»Der Karl Zillig?«

»Nein, der liebe Gott, dann schenkt er eben. Und jetzt behalt' ich meinen Groschen und sag' dir's so. Wir haben ein Brüderchen bekommen.«

Auf diese Weise erfuhr nicht nur meine Schwester Mathilde, sondern auch mein Vater, der eben vom Spaziergang um die Tore gekommen und ins Zimmer getreten war, die Geburt meines Bruders Benjamin.

Viel später erst hab' ich begriffen, warum mein guter Vater, der ein Riese von Mann war, sich jetzt in heller Freude zu der schon in Hut und Mantel aus der Wochenstube huschenden Frau Morgenthau niederbeugte, sie freundschaftlich ans Herz zog und damit mit gedämpftem Jubel äußerte: »Also doch – also doch ein Junge!«

Vierjährig war ihm, knapp vor einem Jahr, ein Söhnchen gestorben. Draußen auf dem schönen Frankfurter Friedhof, zu Füßen der Großeltern, die wir Kinder nicht gekannt, lag sein kleines Grab; und Fuchsien, seine Lieblingsblumen auf der Mutter Blumentisch, blühten links und rechts zur Seite des aufgeschlagenen Marmorbuches, auf dem der Vers zu lesen war:

Du kamst, du gingst mit leiser Spur,
Ein lieber Gast im Erdenland.
Woher? Wohin? Wir wissen nur
Aus Gottes Hand – in Gottes Hand.

Damals haben wir den Tod kennengelernt, Mathilde und ich. Aber begriffen haben wir ihn nicht. Wir mußten still sein und leise in unseren Spielen, denn nebenan, hieß es, war das Ernstchen sehr, sehr krank. Es rief manchmal unsere Namen, aber wenn wir auf Zehenspitzen an sein Bett treten durften, dann drehte es die Augen weg und erkannte uns gar nicht. Und der Doktor Schilling kam und machte nicht, wie sonst, einen Spaß mit uns, wenn er das Zimmer verließ. Und dann eines Abends – die Amsel sang so schön drüben in dem höchsten Zweig des Akazienbaums, und die Scheiben der Morgenthauschen Wohnung blitzten den Sonnenuntergang, wie lauter goldene Spiegel, zurück –, da weinte mein Vater, der große, starke Mann, und der Schmerz schüttelte seinen Riesenkörper. Und wir Kinder wunderten uns sehr, daß man so groß und stark sein und noch so weinen konnte. Und unsere Sophie ging weinend mit Blumen durch unser Zimmer, die waren von Mutters Blumentisch abgeschnitten; das durfte sonst niemals geschehen. Im Nebenzimmer aber schluchzte die Mutter fassungslos über dem Gitterbettchen, in dem das Ernstchen lag. Ganz blaß lag es und still jetzt und rief nicht mehr nach uns und seinem Laubfrosch, den es noch im Fieber immer sehen und füttern wollte. Seine Händchen waren gefaltet. Die halb leeren Medizinflaschen auf dem Tisch klirrten leise, wenn jemand an sein Bettchen trat. Der Vater hatte uns hingeführt, und seine Stimme war von Tränen erstickt, als er sagte: »Gebt ihm noch einen Kuß, Kinder – aber nur auf die Stirn. Streichelt ihm die Händchen – ganz sanft. Und erschreckt nicht – daß er so kalt ist . . .« Aber wir erschraken doch und schauerten. Und hatten uns krampfhaft fest an den Händen, die Mathilde und ich, als wir wieder ins Ställchen zurückschlichen.

Jetzt hatte ihn also der Doktor Schilling doch nicht retten können. Nun war er tot. War dasselbe, wie all die würdigen Herren in Vatermördern da an der Wand und die lächelnden Damen mit den Büchern und Blumen. Nun konnte er gewiß mit all denen, die wir nie gekannt, sprechen im Himmel und ihnen erzählen von uns. Aber vielleicht wußten sie das alles lange schon, auch daß er bald zu ihnen kommen würde. Und wir besprachen miteinander, was wir vom Tode wußten. Sprachen von dem Kanarienvogel, der eines Morgens starr und schmal, wie ein gelber Strich, die Füßchen an den Leib gezogen, neben seinem Futternäpfchen im Käfig gelegen; von dem Spitz der Frau Gruber, den der schwere gelbe Postwagen überfahren hatte, und von dem Dichter Friedrich Rückert, den die Eltern noch gekannt und in Neuses besucht hatten, und der auch plötzlich aufgehört hatte zu dichten und zu atmen und in seinem Apfelgarten umherzugehen. Und aus den Erinnerungen an den Vogel und den Spitz und den Dichter ging uns die frostige Ahnung des unermeßlichen Reiches auf, in das damals der kleine Bruder entschwebt war.

Und an derselben Stelle, da er sich, unter Blumen und benetzt von den Tränen der Eltern, blaß und kalt ausgestreckt, regte sich jetzt ein neues winziges Leben. Schrie sich rot und ballte die Fäustchen.

»Gelt, das ist jetzt das neue Ernstchen?« fragte mich Mathilde am Abend jenes Tages, als wir unseren Abendreisbrei löffelten.

Ich glaub', ich hab' damals ein bißchen gelacht, wie über einen Witz. Denn Kinder fühlen selbst nicht, daß ihre törichten Fragen oft mit furchtlosen Fingern an die dunkelsten Lebensrätsel rühren und an die tiefsten Mysterien.

Wenn ich an jene Jahre denke in meinem Elternhaus! Sie standen unter einem milden freundlichen Stern. Meine Mutter zog die Trauerkleider aus, die sie um den toten Liebling getragen. Mein Vater lachte wieder, nicht nur in die Wiege des kleinen Weltbürgers, sondern auch mit uns »Großen« im Kinderzimmer, wie er viele Monate nicht getan. Auf dem »Hausaltärchen« – so nannte meine Mutter eine besonders schöne alte Kommode, auf der die Bilder all ihrer toten Lieben zwischen schlanken Vasen und kleinen Reliquien standen – war der schwarze Flor abgenommen von dem Kinderbild im Elfenbeinrähmchen. Nur viel blühende Blumen, wie sie die Jahreszeit und der Blumentisch eben hergeben, standen um das lächelnde Bubenköpfchen, das aus großen Augen ins Leben, guckte in sein kurzes Leben. Und die Tanten spielten manchmal wieder etwas fröhlichere Weisen abends in der guten Stube, wo das Pianino stand mit dem gestickten Drehstuhl davor.

Die Tanten . . . Vier Tanten haben in unserem Leben eine Rolle gespielt. Die eine war in einer nahen Residenz verheiratet mit einem Geheimrat. Das war ein jovialer Herr mit einer mächtigen blanken Glatze, die mittags und abends der Wein von eigenen Weinbergen am Rhein rötlich illuminierte. Sehr »geheim« war kaum, was er trieb; denn er tat sehr bieder und öffentlich seinen kaum aufreibenden Dienst. »Geraten« hat er wohl auch nicht viel, der Herr Geheimrat Ammann, der alle Jahre eine Speckfalte mehr im Nacken ansetzte und alle zwei Jahre einen neuen Orden ins Knopfloch. Seine Frau Hermine war die einzige Schwester unseres Vaters. Groß und schwer, wie er, mit einer mächtigen, aber geraden Nase. »Die Nase ist die Verstandesröhre,« sagte unsere Mutter, »darum ist die Tante Hermine so gescheit.« Und sie war gescheit. So gescheit, daß sie dem vergnüglichen Geheimen viel durch die Finger sah, seinen Jähzorn vor mancher beruflichen Dummheit behütete und, wo sie ihn und die anderen regierte, immer klug im Hintergrund blieb, scheinbar nur besorgt, daß die Läufer richtig lagen im Treppenhaus ihrer kleinen Villa, daß jedes Möbel seinen gewohnten Platz hatte und behielt und sich jeder Gast wohlfühlte an ihrem Tisch oder in ihrem Fremdenstübchen unter den entsetzlich vielen Bildern von Schlachten und Begräbnissen, Königen und Schauspielern, ballspielenden Mädchen und blitzerschlagenen Schäfern, die sich verschworen zu haben schienen, das Muster der Tapete dem forschenden Auge geheimzuhalten. Diese Tante war nur mit »Festen« für unsere Erinnerung verbunden. Sie kam zu Geburtsfesten nach Frankfurt, und wenn ein besonders schönes Konzert im Museum oder ein ganz neues Theaterstück in dem unscheinbaren alten Schauspielhaus gegeben wurde, kam sie auch. Und wenn wir sie in der nahen Residenz besuchen durften, war's auch ein Fest; denn eine gütigere Wirtin war für die Jugend nicht zu denken. Sie besaß einen unerschöpflichen Vorrat an Gelee, fragte nie nach der Zensur und spielte glänzend Halma und Domino, um schließlich doch immer zu verlieren, damit der Partner, der ihr leid tat, seinen Groschen gewinnen konnte. Ich habe sie nie hitzig, nie ungerecht gesehen. Ohne es darauf anzulegen, imponierte sie, nicht nur körperlich, allen, bis auf ihre Köchin, das Mariechen, der überhaupt nichts imponieren konnte, allenfalls eine Vorratskammer, die besser assortiert gewesen wäre als der Tante ihre, zu der das Mariechen den Schlüssel hatte. Und solche Vorratskammern gab's eben nicht viele.

Die drei anderen Tanten waren Schwestern meiner Mutter, die von Vieren die Jüngste war. Die Älteste, die im Taufbuch den schönen urdeutschen Namen Thusnelde führte, entsprach äußerlich diesem Namen wenig. Sie war klein und rundlich, lebte immer in einer Angst vor irgend etwas und war dabei doch immer quecksilbrig und vergnügt. Bald fürchtete sie, ihr Vermögen zu verlieren, bald von einer ansteckenden Krankheit, die angeblich in der Nachbarschaft aufgetreten, dahingerafft zu werden. Dann hatten sich wieder Mäuse in ihrem Hause gezeigt, und sie besorgte, daß diese ihr im Schlaf über das Gesicht laufen könnten, und sie bedeckte deshalb das bedrohte Antlitz vor dem Einschlafen mit einem Seidentuch. Dann wieder nährte sie die Überzeugung, daß ihr alles Silber gestohlen werden müsse, oder daß der Blitzableiter auf ihrem Hause nichts mehr tauge, und das nächste Gewitter ihr das Dach überm Kopf anzünden werde. Aber es brauchte nur einer über ihre Besorgnisse ungläubig zu lächeln, dann lachte sie mit und war in Dankbarkeit bereit, ihm ein angenehmes Frühstück vorzusetzen oder ihn Sonnabends in ihre Theaterloge ins Schauspielhaus zu bitten. Als Witwe des früh gestorbenen Fabrikanten Benno Braun war sie an dessen Fabrik, die jetzt sein Kompagnon leitete, noch still beteiligt. Daß diese Fabrik in die Luft fliegen würde, war längere Zeit ihre felsenfeste Überzeugung, obschon keinerlei Explosivstoffe in ihre Räume kamen. Sie lebte in mehr als auskömmlichen Verhältnissen, genoß ihr Leben auf schönen Reisen und im Besuch aller festlichen Veranstaltungen, auf denen es von einer Loge aus etwas zu sehen gab. Denn ins Gewühl mischte sie sich ungern, seit sie beim Schützenfest, klein wie sie war, beinahe erdrückt worden wäre und vom Festzug nichts gesehen hatte, als den schmierigen Überzieher ihres Vordermanns, der die fast Zerquetschte von Zeit zu Zeit durch ein rauh nach hinten gebrummtes »Dränge Se nit so!« einzuschüchtern wußte.

Für uns Kinder war die Tante Tüßchen – wie wir sie statt des zu langen und für sie entschieden zu feierlichen »Thusnelde« nannten – ein wahres Juwel. Sie huldigte der Ansicht, daß die Kinder viel zu viel lernen müßten und daß es ein Unsinn sei, die Ärmsten sechs Stunden im Tag auf eine splittrige Holzbank zu drücken, um ihnen von längst verstorbenen Perserkönigen und ebenso toten Griechenhelden Dinge in den Kopf zu setzen, die bestimmt nicht wahr sein konnten. Ihr gütiger Sinn war darauf gerichtet, die kleinen Märtyrer für diese schlimmen Erziehungsfehler einer grausamen Zeit durch kleine Aufmerksamkeiten zu entschädigen, die nicht immer den herzlichen Beifall der Familie fanden, uns Kinder aber begeisterten. Sie selbst hatte ein hübsches, etwas zartes Töchterchen, Cäcilie. Fast gleichaltrig mit meiner Schwester Mathilde wuchs es, blaß, schlank, mit einem Madonnenscheitel, etwas blumenartig heran. »Wie die Lilien auf dem Felde,« äußerte mein Vater oft, halb lachend, halb ärgerlich. Viel später hab' ich verstanden, daß er den botanischen Vergleich aus der Bibel deshalb wählte, weil es ihm vorkam, daß auch Cäcilchen nicht säete und nicht erntete und unser himmlischer Vater ernährte es doch. Ernährte es sogar gut und reichlich und mit viel Süßigkeiten, von denen Tante Tüßchen auf ihren Reisen stets neue wohlschmeckende Spezialitäten entdeckte, mit deren Verfertigern sie in regem Geschäftsverkehr blieb, der sich um die Weihnachtszeit in einer Weise steigerte, die selbst den überbürdeten Postboten auffiel.

Die Tanten Emma und Leonis waren Zwillinge. Sahen sich auch sehr ähnlich. Nur war Emma kleiner, weicher und stiller, Leonis etwas stattlicher, unternehmender und geräuschvoller. Da die eine nur heiraten wollte, wenn auch die andere sich dazu entschlösse, und da leider nun immer gerade dann ein Freier der einen erschienen war, wenn die andere just unbestürmt blieb, so hatten sie, nicht immer leichten Herzens, beide eine hübsche Anzahl Körbe ausgeteilt und waren schließlich beide alte Jüngferchen geworden, die unter uns in der ersten Etage ihr stilles behagliches Leben führten, eine für die andere sorgend, Blumen ziehend, wundervolle Stickereien anfertigend und lange Briefe an alte Pensionsfreundinnen schreibend, mit denen sie eigentlich nichts mehr gemein hatten, als die Erinnerung an französische Konversation, spartanische Mahlzeiten und deutsche Kochrezepte. Beide Tanten aber spielten wundervoll Klavier. Ein angeborenes großes Talent war in beiden durch viel Fleiß und Energie zu ansehnlicher Höhe entwickelt. Es mag sein, daß die Erinnerung in dankbaren Menschenherzen manches verstärkt und übertreibt; daß sie aus Braven schon Heilige, aus Kunstfertigen schon Wunderwirker macht – aber mich dünkt, ich habe nie mehr, auch nicht in den ausverkauften Konzerten berühmtester Meister, so seelenvoll, so einfach, so ans Herz greifend Bach, Mozart, Chopin spielen hören, wie damals als Junge von den Tanten. Und alles auswendig. Das Kind staunte, wenn diese kleinen, festen Hände in fabelhaften Läufen über die weißen Tasten geisterten und den dunklen Raum füllten mit einer zwingenden Kraft der Melodien, die fast körperlich das kleine lauschende Herz bedrängten, streichelten, erhoben. Den dunklen Raum – das war das Merkwürdige an den beiden Tanten. Sie übten wohl unten in ihrer Wohnung auch am Tage. Aber wenn sie anderen erlauben sollten, zuzuhören, wenn sie »oben« bei uns auf dem gestickten Drehstuhl unter dem großen Ölbild meines Vaters, auf dem er wie ein gönnerhafter Polenkönig aussah, am Piano sitzen sollten, mußte es die Dämmerstunde sein. Und das wob für uns Kinder noch etwas unsagbar Feierliches und Geheimnisvolles um ihr Spiel, wenn der Körper der Spielenden mehr und mehr ins Dunkel verschwamm, nur ein Licht des Abends noch auf der Stirn lag und die Hände noch ein wenig aufleuchteten. Und schließlich war es, als ob's der Raum selbst sei, der klinge; als ob gar kein menschliches Wesen dieser zauberischen Töne geschickter Urheber sei. Und wir saßen, Mathilde und ich, mäuschenstill aus dem Teppich von weichen Fuchsfellen. Wallfahrer, nach beschwerlichem Weg den Kalvarienberg entlang, oben angekommen vor dem goldenen Herzen der wundertätigen Madonna, können nicht mit innigerem Schauer den anschwellenden Sang der dankenden Beter vernehmen, als wir Kinder damals den Gesang des herrlichen Instrumentes.


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