Rudolf Presber
Mein Bruder Benjamin
Rudolf Presber

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel

Ich las, und die Mutter lauschte andächtig.

»Die uns so sehr auffallende Unreinlichkeit und wenige Bequemlichkeit der Häuser entspringt auch daher: sie sind immer draußen, und in ihrer Sorglosigkeit denken sie an nichts. Dem Volk ist alles recht und gut; der Mittelmann lebt auch von einem Tag zum andern; der Reiche und Vornehme schließt sich in seine Wohnung, die eben auch nicht so wohnlich ist wie im Norden. Ihre Gesellschaften halten sie in öffentlichen Versammlungshäusern. Vorhöfe und Säulengänge sind alle mit Unrat besudelt, und es geht ganz natürlich zu. Das Volk fühlt sich immer vor. Der Reiche kann reich sein, Paläste bauen, der Nobile darf regieren, aber wenn er einen Säulengang, einen Vorhof anlegt, so bedient sich das Volk dessen zu seinem Bedürfnis, und es hat kein dringenderes, als das so schnell als möglich loszuwerden, was es so häufig als möglich zu sich genommen hat.«

Frau Morgenthau, die, als gute Freundin, bei meiner Mutter unangemeldet eintreten durfte, wie der Marquis Posa seit jener denkwürdigen Audienz beim spanischen Philipp, stand schon eine Weile im Zimmer und hörte mit zu. Sie trug einen jener merkwürdigen Kapotthüte, die ich nur auf ihrem Kopfe gesehen, und an denen ein Bündel dicker dunkler Kirschen bald links, bald rechts wiederkehrte, als ob es keine andere Frucht oder Blume gebe, ihr Haupt würdig zu schmücken.

Mit leichtem Unmut schüttelte sie den Kapotthut mit dem Kompott.

»Nein, aber daß der Junge aus Italien so unanständige Dinge schreibt!«

»Aber liebe Margarete – übrigens guten Tag –« sagte die Mutter freundlich belehrend, »das schreibt doch unser Ben nicht! Adolf liest mir aus Goethes »Italienischer Reise« vor.«

»So?« Frau Morgenthau zog ihre Mantille aus und nickte befriedigt. »Das freut mich, daß es der Ben nicht schreibt. Ja, der große Goethe – mein Joseph selig hat immer gesagt: »Ein Genie is er und ein Frankfurter is er auch. Das ist viel auf einmal. Und wir müssen zu ihm halten, schon weil er vom Großen Hirschgraben stammt. Aber einen Hang zum Unanständigen hat er auch gehabt.« Also mein Joseph selig hat so was gar nicht gemocht. Und dann hat er mir ein paar Stellen aus dem »Faust« zitiert – auswendig – also im Buch sind die hinten bloß so punktiert –, aber, weißt du, man müßt' sich schämen, so was auch nur zu punktieren, wenn man nicht der Goethe wär' und den »Faust« geschrieben hätt'!«

Frau Margarete Morgenthau äußerte noch vielerlei über Goethe und ihren Joseph selig und deren wechselseitige Beziehungen – die eigentlich nur die Beziehungen Josephs zu Goethe und hier wieder nur zu dessen Stücken waren, sofern diese im Frankfurter Schauspielhause aufgeführt wurden. Sie stand kritisch über den beiden und hatte, als die Lebende, recht.

Ich klappte den neunzehnten Band der Cotta'schen Goethe-Ausgabe resigniert zu. Mit der Lektüre war es nun für heute vorbei.

Schade. Wir waren über Regensburg auf den Brenner, vom Brenner über Trient, Torbole, Malcesine nach Verona gewandert. Immer hinter Ben her, mit Goethe. Die Mutter und ich. Wir hatten in der Galerie Gherardini und dem Palazzo Beriloqua die köstlichen Sachen an den Wänden, die wir nicht sahen, zu bewundern versucht. Schließlich waren wir, an den Scaligergräbern vorbei, auf dem Markte angekommen, wo man Knoblauch und Zwiebeln kauft, und hatten in die Vorhöfe und Säulengänge hineingeschaut, in denen leider weit unschönere Dinge, als im Palazzo Beriloqua und der Galerie Gherardini, umherlagen. Es war nicht unsere Schuld, daß Frau Morgenthau gerade nur noch die unerfreulichen Geheimnisse dieser Palastwinkel mit uns genoß.

»Er schreibt so wenig, der Jung',« erklärte die Mutter der Freundin. »Wir wissen gar nicht, ob er noch in Verona ist oder wieder nach Mailand zurück oder schon weiter. Und weil er nicht schreibt, laß ich mir – meine Augen werden schwach und leicht müde; deine auch? – ja, da laß ich mir von Adolf jetzt ein bißchen aus dem Goethe vorlesen. Der war doch auch dort überall. Hast du das gewußt?«

Frau Margarete Morgenthau war nur die Schweizer Reise gegenwärtig. Und sie erinnerte sich da im besonderen einer Begegnung des Dichters mit einem Obersten Landolt in Schaffhausen. Dies hatte sie deshalb interessiert, weil sie mit einem Fräulein Landold in die Schule gegangen war. Die schrieb sich aber hinten mit einem weichen »d« und hatte auch keinen Obersten in der Familie, nur einen Postdirektor. So daß diese merkwürdige Beziehung zu Goethe nicht aufrechtzuerhalten war.

Die sonst immer teilnehmende Dame begriff auch nicht recht, warum sich die Mutter, wenn's denn schon Goethe sein sollte, gerade die »Italienische Reise« vorlesen ließ. Da war der »Götz« immerhin unterhaltender, und der »Tasso« hatte seine Schönheiten. Reisebeschreibungen schienen ihr nie sehr interessant; denn schöne Aussichten konnte man schließlich doch nicht in Buchstaben malen. Und was vor fünfzig Jahren einer auf dem Gotthard gefrühstückt oder in Ravenna genachtmahlt hatte, konnte dem zeitlich und örtlich Entfernten gleichgültig sein. Auch waren die Personen, mit denen der Reisende damals vielleicht gesprochen, bestimmt tot, und die Hotelverhältnisse hatten sich geändert.

Die Mutter schenkte diesen beherzigenswerten, aber vielleicht etwas nüchternen Ansichten, so gern sie der Freundin sonst zuhörte, wenn sie von Marktpreisen oder günstigen Kaufgelegenheiten berichtete, diesmal nicht die gewohnte Aufmerksamkeit. Sie schaute lächelnd vor sich hin und hatte noch den Klang der Namen im Ohr: Trient, Torbole, Malcesine, Verona . . . welch schöne Namen diese südlichen Städte alle hatten! Das blühte aus den Vokalen, duftete aus den weichen Konsonanten, klang doch besser wie Schopfheim, Gundelfingen oder Bomst. Und so schön, wie ihre Namen klangen, waren sie wohl auch anzusehen, die Städtchen da unten – trotz der Säulengangwinkel und ihrer üblen Geheimnisse.

Und Ben, ihr Sohn, sah jetzt das alles! Sah es mit jungem, begeistertem Herzen, sah es mit seinen zwanzigjährigen blauen Augen, lernbegierig und genußfähig. Durchwanderte es so gründlich, daß er nicht Zeit zu ausführlichen Briefen hatte und, ganz gegen seine sonstige Vorliebe für lange und hübsche Episteln, immer nur schrieb: »Herrlich – herrlich! Wenn ich erst heimkomme, erzähl' ich euch, wie herrlich!« So was gab ja nun freilich kein anschauliches Bild von Italien; wohl aber malte sich in so kurzen Sätzen des Reisenden Wohlbefinden und seine unzerstörte Lebensfreude. Die Mutter war glücklich und zufrieden und ließ sich das andere aus des großen Frankfurters Werken vorlesen.

Und so führte sie Johann Wolfgang Goethe über die Alpen zu Ben.

An dieser Reise war eigentlich wieder Tante Tüßchen schuld und ihre verständnisvolle Behandlung der Jugend. »In ein paar Monaten ist der Bub großjährig,« hatte sie nachdenklich gesagt, »dann gehört ihm sein Vermögen, und das ist nicht klein. Macht er aber seine erste große Reise allein, wenn er eben über das viele Geld die freie Verfügung bekommen hat, so wird diese Unternehmung planlos und schrecklich kostspielig werden. Nein, Charlotte, du mußt ihn ans Reisen in fremdem Lande gewöhnen, solang er noch von dir abhängt. Solange er noch gebunden ist an eine besprochene Marschroute und an ein Reisegeld, das du ihm aussetzest. So lernt er disponieren und hat für die spätere Freiheit gewissermaßen die Hauptprobe hinter sich.«

Auch Tante Hermine, die in jener Zeit in Frankfurt war, um eins der Museumskonzerte zu besuchen, pflichtete diesen Ansichten bei. Das erste Semester in Freiburg, meinte sie, habe gezeigt, daß das rein philosophische Studium, wie es Ben zunächst ins Auge faßte, ihm doch keine rechte Freude mache. Ihn nicht »ausfülle«, wie man jetzt sage. Das könne sie verstehen, denn diese sogenannten Philosophen hätten im Grunde nicht viel Erfreuliches getan. Einer habe allemal umständlich bewiesen, daß der andere nichts verstanden habe. Und die Summe aller Lehren, die man heute gutmütig »Philosophie« nenne, ergebe ein Bild der irdischen und überirdischen Dinge von einer Klarheit, wie etwa – nun wie etwa, wenn ein Maler, der sich in seine Palette gesetzt habe, das so entstandene Farbengemisch auf seiner Hose großartig ein »Gemälde« nenne. Ben ziehe es offenbar fort von dieser Hose, sie meine das natürlich bildlich: von dieser »Philosophie« und der ewigen Katzbalgerei ihrer Vertreter; und er habe sich zu ihrer Freude dem Künstlerischen, der Kunstgeschichte und der Literatur zugewendet. Auch darin sehe sie zwar keinen Brotberuf – aber den brauche ja der Junge nicht. Wohl aber eine Lebensfreude und eine Arbeitsmöglichkeit. Gerade für ihn sei solches notwendig, der nicht am Ersten jeden Monats auf den Boten mit den paar blauen Scheinen, die seinen Gehalt darstellen, sehnsüchtig zu warten brauche. Italien aber sei nun einmal das Land der Sehnsucht für alle Schönheitssucher – sie gebe zu, es sei wohl etwas Tradition und Suggestion bei diesem Urteil. Sie persönlich sei drei Tage in Venedig eingeregnet und am vierten von Moskitos beinahe aufgefressen worden und sei heilsfroh gewesen, als sie wieder in Gossensaß am Brenner in kühler Laube vor einem sauber gedeckten Tisch saß und eine mückenlose Mahlzeit einnahm. Aber Ben werde sicherlich in den Kirchen und Museen dort, auf all den Friedhöfen und auch in einigen romantischen Osterien all das Schöne, Bunte, Herrliche, Sehenswerte finden, das nun einmal seit Generationen die deutschen Reisetagebücher mit seinem Ruhm fülle und im Baedeker zwei, ja manches sogar drei Sternchen habe.

Dann hatte sich Kurt, als der älteste Mann in der Familie, um Rat befragt, brieflich dahin geäußert: »Unser hoher Herr hat unseren Erbprinzen mit achtzehn Jahren zum erstenmal nach Italien geschickt. Bis Florenz ist er damals gekommen. Im nächsten Jahr bis Rom. Im dritten bis Neapel. Hier ist man allgemein der Ansicht, daß wir den Kunstverein nicht hätten ohne die erste Reise, das Neue Museum und den Botanischen Garten nicht ohne die zweite und die Akademie der lebenden Sprachen und das Süßwasseraquarium nicht ohne die dritte Reise.«

Nun sollte ja Ben keine Akademie gründen und auch kein Süßwasseraquarium; aber es war doch einleuchtend, daß Schwager Kurt mit dieser Aufzählung der Früchte von den drei erfolgreichen Italienreisen des Erbprinzen auf den Nutzen hinweisen wollte, den der einzelne und – in dem Falle, daß es sich um einen viel Vermögenden, Hochgestellten handelte – sogar die Gesamtheit von solcher Fahrt gen Süden gewinne.

Unten an den Brief aber hatte Mathilde noch geschrieben: »Wie freue ich mich für Ben! Wie gönne ich ihm den Blick von der Galerie des Mailänder Doms auf den Sankt Bernhard und Monte Rosa, auf das Matterhorn und die Ortlerspitze! Und den Blick vom Campanile di San Marco über die Lagunen ins Adriatische Meer! Freilich, ich war auf der Hochzeitsreise da mit meinem Kurt, und wir waren sehr, sehr glücklich. Da grüßt der Monte Rosa noch ganz anders aus dem Blau, und die Lagunen leuchten im Silber der Mondnacht, wie das schönste Märchen selbst, das uns das liebe Leben erzählt.«

Die Tanten, Kurts Brief, Mathildens Postskriptum gaben den Ausschlag. Ben fuhr, mit einem für fünf Wochen anständig berechneten Reisegeld, zwischen seinem ersten und zweiten Semester hinaus, Italien zu entdecken.

Als er abfuhr, schwenkte er, solange er uns auf dem Bahnsteig sehen konnte, sein grünes Reisehütchen, und unbekümmert um die Mitfahrenden, die zum Teil wohl nur bis Bensheim oder Mannheim reisten und sonst keine Veranlassung hatten, diese oft erlebte Abfahrt hemmungslos zu bejubeln, schmetterte er uns Winkenden zu: »Da–hin – da–hi–hin möcht' ich mit dir –!«

Die Mutter hatte unter Tränen gelächelt, als ich sie am Arm durch die Mainzer Landstraße nach Hause führte: »Wenn er uns nur gesund an Leib und Seele heimkommt, der Ben!«

Seit er das grüne Hütchen geschwenkt und das Heimwehlied der Mignon in die Frankfurter Bahnhofshalle gejubelt hatte, waren bald vierzehn Tage vergangen. Seine anfangs ausführlichen, dann spärlicheren Briefe spiegelten eitel Lebensfreude. Selbst daß er schon falsches Geld herausbekommen und einer ihm den Feldstecher gestohlen hatte, entzückte ihn. Daß die Kavaliere in der ersten Klasse – die er auf Kurts Rat von der Grenze an benutzte – oft und ausgiebig auf den Boden des Coupés spuckten, schien ihm, als fremde Sitte, ergötzlich und bemerkenswert. Die ersten Wanzen schickte er als Leichen, mit Gummi aus den Briefbogen befestigt, an mich persönlich und schrieb an den Rand: »Anwohner des Gardasees. Still und zutraulich. Wie alles hier, von den Fremden lebend. Vielleicht durch Kurt dem Museum des Erbprinzen zu überweisen. Bitte mich dann als Spender zu nennen und den etwa postwendend folgenden Orden gut aufzuheben!«

So weit war also die »Fahrt in die Welt«, wie Tante Tüßchen diese Reise nach Norditalien etwas großartig bezeichnete, gut und fröhlich begonnen. Daß die Lebenszeichen seltener wurden, beunruhigte niemand. Der Museumsbesuch nahm Zeit. Die Campaniles hatten entsetzlich viel Stufen. Die Züge fuhren in Italien langsam. Und dann die Post, die italienische Post! Es ging da sicherlich, meinte die Mutter, manches verloren, vielleicht gerade das Schönste, Charakteristischste, das er schrieb, der Ben. Aber er kam ja wieder! Und dann – man hatte des anderen Frankfurters genauere Aufzeichnungen, der über Trient, Torbole, Malcesine nach Verona und weiter gereist war.

Als ich am Abend jenes Tages, da Frau Margarete Morgenthau unseren Besuch der Sehenswürdigkeiten Veronas an Goethes Hand gestört hatte, zu mir nach Hause kam, war ein Brief Mathildens an meine Frau gekommen. Es war da zu lesen, daß ein Gartenfest bei Hof stattgefunden hatte, das nicht sehr unterhaltend verlief, da endlose Kompositionen der leider hochbegabten Fürstin-Mutter zu kaltem Tee und warmer Limonade gespielt wurden. Ferner: daß der Erbprinz wieder nach Italien abgereist sei, und man von dieser Reise abermals eine neue Belebung der künstlerischen und wissenschaftlichen Bestrebungen und Genüsse in der kleinen Residenz erwarte. So gedenke er, ein Gastspiel eines italienischen Stars, dessen berühmten Namen sie vergessen habe, oder gar des Orchesters der Mailänder Scala anzubahnen. Diesen Mitteilungen folgte Rühmliches von dem jetzt zehnjährigen Davidchen, das bereits mit der lateinischen Deklination im Kampf lag und erstaunliche Anlage zur Malerei zeigte, leider zunächst in Schulhefte niedergelegt, die für andere Zwecke bestimmt waren, so daß ihm sein kunstfeindlicher Ordinarius häufig an den empfindlichen Ohren zog. Worüber dann ein aufgeregter Briefwechsel mit dem Schulrat entstanden war. Am Ende des Briefes aber kam eine Bemerkung, die mich aufhorchen ließ.

»Ich weiß nicht, liebe Käthe,« schrieb die Schwester, »ich habe da einen ganz merkwürdigen Brief von Ben bekommen. Fröhlich, fast ausgelassen, aber, wie mir scheint, etwas überhitzt. Ob das bloß die Sonne da unten ist, die ja im Frühling schon recht tapfer brennen kann? Er bezieht sich da mit Dank auf einen Brief von Kurt und mir an die Mutter, in dem wir damals seine Italienreise lebhaft befürworteten und schreibt dann von allerlei . . . Aber wart', ich will Dir die Sätze lieber abschreiben. Also so lautet dieser Teil seines Briefes aus der Colomba d' Oro in Verona: »Oh, ich werde die Spitze des Ortler sehen und das Matterhorn und den Monte Rosa – genau, wie Ihr, wie Du und Kurt! Ich werde auf Türmen stehen und durch Klostergewölbe wandeln – genau, wie Ihr, wie Du und Kurt! Ich werde Rosen pflücken und Zitronenblüten in den herrlichen Gärten über der Etsch und auf den Inseln der Lagunen – genau, wie Ihr, wie Du und Kurt!« . . . Und jetzt kommt das Sonderbarste: »Morgen pilgern wir« (so steht's da: »pilgern wir!« Pluralis, Mehrzahl) »– zum Grabe der Julia. War't Ihr auch da? Sie ist die Heilige, die Märtyrerin der Liebe, die hier alles erfüllt, die Limonengärten und die Kreuzgänge, die Schlachten der Falter über den Steinen und Blumen des Campo Santo und die Menschenherzen, die sich dem Frühling und der Schönheit öffnen« . . . Das ist ja sehr poetisch, nicht wahr, und ich finde, Ben sagt solche Sachen wirklich hübsch. Aber frag' doch mal Adolf, ob er nicht auch den Verdacht hat, daß der Junge . . . wie soll ich's sagen – einen dummen Streich macht? Immer dieses: »genau, wie Ihr, wie Du und Kurt«! Es mag ja sein, daß ich da mehr hineinlege, weil ich's erlebt habe, nicht wahr? Denn es war wirklich schön damals. Und immer wenn ich Davidchen ansehe, muß ich denken, ein Hauch, ein Gedächtnis von all dem Schönen, von all den Spaziergängen an blauen Wassern, den Gondelfahrten und Mondscheinnächten ist vielleicht in sein Leben hinübergeschwommen. Aber eben das macht mich ängstlich, daß nicht etwa Ben . . . Er ist noch nicht einundzwanzig; und phantasiereich und temperamentvoll ist er auch. Sprich doch mal mit Adi darüber und schick' mir doch gelegentlich mal das Rezept Eurer Mandeltorte, die ich an Mutters Geburtstag dort aß. Ich habe sie aus dem Gedächtnis nachgemacht, aber sie ist gar nicht aufgegangen und . . .«

Der Rest des Briefes handelte von dieser wohlschmeckenden Mandeltorte und einer weißen Federboa, die sie nach Frankfurt zum Waschen und Aufarbeiten geschickt. Von Ben war dann nicht mehr die Rede.

Das Gelesene gab mir zu denken. Aber da ich am nächsten Tag in einer Ehescheidung zu plädieren hatte, bei deren Verhandlung die Ehegatten nach wechselseitigen schweren Injurien beinahe das Prügeln bekamen und sich schließlich doch entschlossen, die eheliche Gemeinschaft wieder aufzunehmen, so vergaß ich Ben und den Blick auf den Monte Rosa.


 << zurück weiter >>