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Die Liebe im Grünen

siehe Bildunterschrift

D. Chodowiecki: In den Zelten in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Im Grünen? Gibt es das in diesem großen grauen Steinhaufen? Haben diese Berliner Häusermenschen überhaupt Gefühl und Verständnis für Grün, Sonnenlicht, Mondscheinnächte unter Eichen und Linden, für liebevolle Heimlichkeiten im Schutze der Bäume und Sträucher?

Wenn es je irgendeinen Tummelplatz der Liebe und der galanten Spiele unter Bäumen gegeben hat, so war und ist es der Berliner Tiergarten. Wieviel zärtliche Erinnerungen knüpfen sich an ihn! Wie wenig Berliner und Berlinerinnen gibt es, die nicht wenigstens einmal in ihm spazieren gegangen oder durch ihn hindurchgefahren sind, Arm in Arm oder Hand in Hand – oder auch nur mit einem Gefühl der Zärtlichkeit? –

Dieser Park mit seinen vielen gewundenen und schattigen Wegen, mit den unzähligen versteckt stehenden Bänken und lauschigen Plätzen lockt zu manchen Zeiten Tausende und aber Tausende von Pärchen in seine schützenden und liebevollen Dunkelheiten. Ja, selbst im Winter finden hier manche, die sonst nirgends zu zweien allein sein können, ihre beglückende Einsamkeit. Im Frühling und Sommer aber flüstert es selbst an den großen vielbelaufenen Wegen, auf denen Bank bei Bank steht, sehnsuchtsvoll und hingebend von einem Ende zum andern in tausend heißen Worten ...

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H Zille: Amerikanische Sitte.
Maiennacht im Tiergarten:
»Hände hoch!« (1923)

Schon als der Tiergarten noch bis fast ans Schloß reichte, unter dem großen Kurfürsten, war er das Ziel lustwandelnder Spaziergänger. Als dann die Linden angelegt wurden, schwärmte von ihnen aus die galante Hofwelt und das Bürgertum, das es der Hofwelt gleich tun wollte, in den großen Park aus, den Friedrich I. mit zahlreichen Alleen hatte schmücken lassen. Friedrich Wilhelm I. ließ den Park wieder ein wenig verwildern. Aber sein Sohn, der sinnenfreudigere Friedrich II, schuf jenen Lustpark, den wir heute kennen. Er ließ die schönen Linden auf dem Wege nach Charlottenburg pflanzen und viele Baumgruppen anlegen, unter denen heute noch manche heißen Gefühle Erquickung und Kühle suchen. –

Bald fanden sich auch Erholungsstätten und Gasthäuser am Rande des Parkes, die in der Geschichte des sich amüsierenden Berlins ihre Rolle spielten. Allgemein bekannt ist die Geschichte der »Zelten«. Unter Friedrich II. ward der Platz an den Zelten der Sammelpunkt der Spaziergänger. Eine dreifache Baumreihe umgab den »Zirkel«, auf dem sich vergoldete Karossen um eine Statue der Flora bewegten, und auf dem die glänzenden Offiziere auf reichgeschmückten Pferden paradierten. Unter den Bäumen aber standen und wandelten die Bürger mit ihren Töchtern und Frauen.

Viele Damen gingen auch damals schon allein oder in der Gesellschaft von Freundinnen hier spazieren und ließen sich von den Kavalieren lächelnd und vielsagend bewundern in ihren Reifröcken, stark geschnürt und dekolletiert. Sie führten ihre Schönheit hin und her und »lüfteten ihre Busen«. Und wenn sie lange genug gelustwandelt und vielleicht auch ein Stelldichein verabredet hatten, gingen sie in eins der Zelte, in denen seit 1745 von französischen Einwanderern Eis und Getränke feilgehalten wurden. – Jenseits des Parkes, an seinem Südrande, entstanden damals auch zahlreiche Gastwirtschaften, wie die des Hofjägers Hahn. Schon im 18. Jahrhundert wurden zu ihnen Vormittagsausflüge und andere »Parties fines« gemacht, bei denen die leichtgekleideten Damen eifrig tanzten und sehr in Hitze gerieten. –

Um das Jahr 1827 schrieb ein anonymer Weltreisender noch also:

»Die Berliner sind höchst zerstreuungs- und vergnügungssüchtig, und fast alle die Gärten, in denen während der Sommermonate wöchentlich einmal Konzert unter freiem Himmel ist, werden sehr zahlreich besucht, doch bildet hier das schöne Geschlecht in der Regel die Mehrzahl der Gäste. Alle Damen, die man hier sieht, gehören aber nicht zu den ersten Ständen, obgleich sie hinsichtlich des Putzes hinter denselben gewiß nicht zurückstehen. Hier ist das wahre Feld der Intriguen für die sogenannten Elegants, und unzählige leicht geschlossene, und nicht minder leicht gelöste Liebesbündnisse danken dem Besuche dieser öffentlichen Orte ihre Entstehung.

Die Damen und Dämchen wissen dies auch sehr gut und suchen daher ihre Reize in das beste Licht zu setzen. Oft beginnen sie sogar die Attacke selbst. Mir wenigstens begegnete das einst. Ich kam nach einem längeren Spaziergang ziemlich ermüdet an einen dieser Orte. Gern hätte ich mich gesetzt, aber nirgends war ein Tisch leer. Während ich noch herumspähte, ob ich nicht einen Bekannten finden könnte, der mir zu einem Platz verhelfe, trat ein kleines wohlgekleidetes Mädchen, etwa zehn bis elf Jahre alt, zu mir, nahm mich freundlich bei der Hand und sagte: »Mein Herr! Sie suchen gewiß einen Platz? – Dort an unserem Tisch ist noch einer leer, ich soll Sie bitten, ihn einzunehmen!«

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H. Zille: Wochenende.
»Wenn de noch lange klekst, – – schielste!«
(1924)

Ich folgte dem kleinen, willkommenen Boten, in der festen Überzeugung, ein liebenswürdiger Papa habe ihn abgeschickt, aber zu meiner Überraschung fand ich niemand, als zwei junge, gar nicht häßliche Mädchen, die ihre Dreistigkeit recht geschickt entschuldigten und sehr freundlich gegen mich waren.

Das Flüstern und Lächeln der Nachbarn an den anderen Tischen zeigte mir bald, daß meine schönen Püppchen nicht als die Keuschesten bekannt sein müßten. Um kein Aufsehen zu erregen, ergriff ich daher die erste schickliche Gelegenheit, mich den Damen zu empfehlen.

Vorher bat ich jedoch noch um die Erlaubnis, die angenehme Bekanntschaft fortsetzen zu dürfen, und ohne Zögern gaben sie mir ihre Adresse und nannten mir die Stunden, in denen ich sie zu Hause treffen würde. – Dies waren keine Phrynen, wenigstens nicht in dem eigentlichen, strengsten Sinne des Wortes.«

Der Reisende von 1827 hatte es gewiß mit geschickten Gelegenheitsmädchen zu tun gehabt, denen ihr vorsichtiges Betragen behilflich ist.

Der Tiergarten selbst war immer schon das Ziel der Verliebten gewesen. Chodowiecki hatte auf mehreren seiner Stiche Motive aus dem Tiergarten festgehalten und so gezeigt, was dieser Park eigentlich bedeutete. Da saß der verliebte Jüngling am Baum und betete beseligt das Bild seiner Geliebten an. Im Hintergrund aber lief ein Mädchen – vielleicht gar jene Angebetete – lockend vor einem herzhafteren Liebhaber in den Busch. Später waren es dann die wortreichen und gefühlsseligen Schwärmer, die durch den Park streiften.

Auch heute wird noch durch den Park geschwärmt. Wieviel junge brave Jünglingsseelen führen ihr Mädchen unter den Bäumen dahin – und merken selbst dann noch nicht, wenn sie ihr heruntergerutschtes Strumpfband vor seinen Augen emporzieht, welches Ziel ihre Sehnsucht unter den dunklen Bäumen sucht. Ach – auch Verlobungen sahen diese Bäume. Manch ein Berliner wurde hier gefragt: »Willst du auch mit keiner andern gehn?« Und ein heißer Mund und ein heißer Körper dankte ihm für sein »Ja«. –

Und auch moderne Schwärmer lassen sich streitend und bewundernd hören: »Oh, wenn ich ein Weib fand, von dem ich Kinder mochte – von dir, von dir!«

Wieviel heißes Flüstern zieht hier in Frühlings- und Sommernächten durch Bäume und Hecken! – In sich versunken sitzen die Paare – und schrecken nur manchmal auf, wenn Beamte mit ihren Hunden vorüberstreifen oder freche Verbrecher die Verblüfftheit der Paare benutzen, um sie zu bestehlen.

Aber trotzdem der dunkle waldartige Park mit versteckten Gefahren droht – er lockt doch mit seiner freundlichen Finsternis und seinem grünen nächtlichen Schimmern und Dämmern immer wieder liebevolle, übervolle Seelen zu Heimlichkeiten. – Auch die andern Parkanlagen, der Friedrichshain, der Humboldthain, der Treptower Park, der Viktoriapark am Kreuzberg und mancher andere kleine grüne Fleck bietet vielen schwärmenden und übervollen Seelen ein liebevolles Obdach für zärtliche Worte und andere Zärtlichkeiten, die nicht jeder sehen und hören soll.–

Einige Jahrzehnte gaben die Liebig-Konzerte in einem Gartenlokal der Potsdamer Straße Gelegenheit zu lebenslänglichen und auch kürzeren Verbindungen mit schönen Mädchen – gerade wie später die Bilseschen Konzerte.

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L. Löffler: Annäherung im Konzertsaal.
(Um 1870)

»Wenn das Backfischchen längst zur heiratsfähigen Jungfrau herangereift und doch noch nicht unter die Haube geraten ist, besucht sie recht fleißig die Rousseau-Insel, den Zoologischen Garten, namentlich aber Bilse, wo zahlreiche Verlobungen zustande kommen, denn Bilse ist die Heiratsbörse für die besseren Stände.

Mütter und Tanten bilden die Ehrengarde der Heiratsksandidatinnen, die sich im angenehmsten Licht zu zeigen suchen. Ihre Schultern und Arme sind hinreichend entblößt, um die Gesundheit und gediegene Anlage ihrer Carnation erkennen zu lassen; die Taillen aber mit einer Gewalt eingepreßt, die nicht durch menschliche Muskeln allein, sondern durch Dampfmaschinenkraft erreicht sein könnte.

Es ist lehrreich zu beobachten, auf wie mannigfache Weise diese Damen die Aufmerksamkeit des starken Geschlechts auf sich zu ziehen bemüht sind.

Einige stellen mit großen Stickereien, an denen sie mit eisernem Fleiß und ohne aufzublicken, nähen, den häuslichen Fleiß dar. Andere schenken mit vielem Geräusch und niedlichem Gebärdenspiel Kaffee ein oder reichen den Kuchen umher und wollen wohl für liebenswürdige Haushälterinnen gelten. Noch andere wedeln kokett mit Fächern und Ansehen ihrer Gesichter und Frisuren in Handspiegeln oder gucken durch Augengläser nach dem Orchester und geben sich Kennermienen.

An einem besonderen Tisch beschäftigt sich eine sehr prahlerisch aufgeputzte, nicht mehr all zu jugendliche Dame mit einem etwas schlagflüssigem Gentleman. Sie sieht aus, als wäre sie fähig, einen heiratslustigen Greis mit ihrer Hand zu beglücken, seine letzten Tage durch ihre Pflege zu verschönern und ihm sanft die Augen zuzudrücken, dann aber seine Erbschaft anzutreten.

Ein Frauenzimmer mit einer blauen Brille und einem Filzfederhut liest sogar in einem Roman, bewacht von einem drachenartigen Blaustrumpf.

Womit sich aber alle Mädchen auch beschäftigen, auf allen Gesichtern liegt das deutliche Bewußtsein, unwiderstehlich zu sein und mit scharfen Pfeilen die Herzen der anwesenden Männer zu durchbohren.«

Jeder ältere Berliner weiß noch von den Abenteuern zu berichten, die das Konzerthaus am Dönhoffplatz bot. Und ich selbst habe noch dort manches beobachtet, was auf einen Liebesmarkt hindeutete. Nur war die Angelegenheit stets ein wenig verschleiert und in den Mantel eines Liebesabenteuers gehüllt.

An solchen Lokalen war im alten Berlin überhaupt kein Mangel. Im alten Hofjäger, am Rande des Tiergartens, wo Wiprecht, der Generalmusikdirektor der Garde, monströse Konzerte aufführte, suchten neben tausend anderen jungen Leuten auch Angehörige des königlichen Hauses ihr Vergnügen. Im Hofjäger gab's einen besonders schattigen Garten für Paare ... Und im alten Bocklokal auf dem Tempelhofer Berg, im Tivoli, war schon seit Jahrzehnten ein verschleierter Liebesmarkt.

* * *

Um 1900 herum waren am bekanntesten und belebtesten die Konzerte im Kunstausstellungspark am Lehrter Bahnhof und im Zoologischen Garten – in dem auch heute noch manchmal Bilder zu beobachten sind, wie sie die nächsten Sätze schildern: Abends, wenn die elektrischen Kugeln ihr weißes Licht über die bunten Beete und über die Kieswege vor den Orchestern leuchten lassen. Hunderte von Menschen schieben sich reihenweise aneinander vorbei und starren einander ins Gesicht. Ein alter, graubärtiger Kanzleisekretär geht Abend für Abend mit der Frau und beiden Töchtern in der Reihe. Dicht hinter ihnen folgen zwei Mädchen in bunten Seidenkleidern mit geschwärzten Wimpern und gefärbten Lippen. Sie lachen über die Witze, die mehrere braungebrannte Offiziere in Zivil hinter ihnen machen.

Weit hinten im Schwarm taucht eine große, schlanke, ernste Dame auf. Ihr ovales Gesicht mit den traurigen Augen sieht nicht aus, als lade es zu Freuden ein. Und doch folgt ihr ein dicker Herr, dessen starke Nase und wulstige Lippen förmlich zittern, als er sie, ohne den Hut zu ziehen, vertraulich anspricht. Sie weist ihn nicht ab. Ihre außerordentlich vornehme und nur ein wenig zu grelle Kleidung läßt darauf schließen, daß sie alte, reiche Herren braucht, die den Schneider und manches andere bezahlen.

Zwei üppige Frauen, in schwarzer durchbrochener Seide, drängen sich an die Seite, wo sie allen Herren ins Gesicht sehen können.

Ein recht luftig gekleidetes zierliches Blumenmädchen schiebt sich durch die Menge – und bietet ihre leuchtenden Rosen jungen Männern an.

Drei, vier junge Dinger, die frisch vom Modellstehen kommen, kichern über die simplen Familien, die hier Musik – schreckliche, laute Soldaten-Blechmusik – schinden.

Und dann kommt eine große, imposante Person in weißem Schneiderkleid mit fliegenden Schößen, kühner Kopfhaltung, blitzenden Brillanten in den kleinen rosigen Ohren, das weiße Gesicht leicht gepudert, die großen dunkelgrauen Augen umrändert, die Arme in eleganten, weißen Spitzenhandschuhen.

Eins – zwei – drei – fünf – acht Männer machen kehrt und folgen ihr.

Und selbst die Frauen werden erregt und sehen ihr nach.

Als aber die Wege leerer werden und sich niemand an sie herangemacht hat, verliert sie ihren Stolz und fragt leise einen kleinen alten Herrn, der Watte in den Ohren hat und ein goldenes Pincenez trägt:

»Herzchen – du bist ja so allein?«

Und beide verschwinden hinten im Garten.

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Hosemann: Die verliebte Landpartie.
(1847)

Zu den großen Volksfesten, zu den Rennen und Sportfesten finden sich ebenfalls zahlreiche Frauen und Mädchen jeder Art ein. Während sie aber bei den Sportfesten mehr als stille Zuschauer gehen, treten sie bei den Rennen in anderer Rolle auf. Die Grandkokotten kommen in großer Toilette in den Wagen ihrer Galane.

Von dem Gebahren der Halbwelt erzählte Arno Arndt, der Sportredakteur des Berliner Tageblatt:

»Die Nummern der Pferde samt Name des Reiters werden an den Starttafeln aufgezogen, und vor ihnen drängen sich die Scharen und notieren. Auf dem Sattelplatz hinter den Tribünen ist es sprudelnd voll geworden. Kaum ein bunter Offiziersrock und blutwenig große Welt.

Aber Sportgigerln die Masse. Sehr elegant rennmäßig angezogen. Ganz englisch den Buckel krumm gezogen. Runder Hut aus Filz, denn der Zylinder ist auf dem Rennplatz nicht schick. Den Elegants zur Linken gleitet eine seidenrauschende Freudendame oder das letzte Verhältnis vom Apollo oder Metropol und Amorsälen. Sie wippen in den Schultern und trällern den Manzanares, den die Kürassiere aus ihren Trompeten ihnen vorgaukeln.

Die käufliche Weiblichkeit gibt sich auf dem Rennplatz ganz so aufgedonnert nach der letzten Mode, wie auf dem Pflaster der Friedrichstraße. Ohne männlichen Schutz, noch schreiender in der Farbe. Hat sie niemand, so suchen die Augen lockend und finden sicher, wenn das Rennen vorbei ist, einen Galan, der sich die Taschen den Renntag über gefüllt hat. Die geschminkten Schachteln unbestimmten Alters sind eingesessene Stammgäste mit fester Kundschaft. »Na, Dickerchen, haste nich'n Tipp?« so fragen sie lauernd herum. Wetten, verlieren – gewinnen selten. Die ganz Geriebenen fangen es geschickter an, einen guten Tipp zu ergattern. Sie werfen sich Jockeis an den Hals. Ein Zwinkern mit den Augen, ein kokettes Lächeln, und der ausgemergelte Bursche hängt im Netz und flüstert der Schönen eine ganz kleine Programmnummer ins Ohr. Den Dank holt er sich einen Tag später.«

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F. de Bayros: Handicap.
»Komm her Billy, zahl' uns eine Flasche Sekt.«
»Darf nicht Kinder – wegen Gewichtserleichterung!«

Auch bei anderen Volksfesten, bei den Einzügen, gelegentlichen Ausstellungen und Sportfesten etabliert die Freudenwelt ihren Markt, wie sie es früher z. B. auch bei den Schützenfesten und beim Stralauer Fischzug getan. Aber eine besondere Eigenart tritt dabei nicht zu Tage.

Von wirklich berlinischer Eigenart waren und sind auch heute noch die Landpartien (s. Bild S. 363 und 366). Früher wurden sie fast ausschließlich zu Fuß oder im berühmten Kremser gemacht. Die Kremserfahrten! Sie gehörten zum Berliner Volksleben und wurden nicht etwa nur von den unteren Schichten unternommen. Früh ging es hinaus, oft mit Musik und reichlich angehängten vollen Bierfässern, die Damen alle in frisch geplättetem sommerlichem Weiß. Im Walde oder in einem Dorf der Umgebung wurde Rast gemacht. Manchmal rief dann wohl eine Mutter plötzlich: »Wo is denn die Mieze?«

Mieze kam nach einer ganzen Weile mit zerknülltem Kleide. –

Und Lieschen, die noch nicht abseits geführt worden war, schmähte über diese Unvorsichtigkeit.

Aber abends auf der Heimfahrt, wenn die Lichter in den schaukelnden Lampions »vom Winde« und nicht etwa von den Männern ausgeblasen wurden, hatte Lieschen auch nichts dagegen, wenn ihr Kleid ein wenig zerknüllt wurde. – Wehe, wenn jemand ein Streichholz anzündete, um eine Zigarette in Brand zu setzen. Da gab's ein Gekreische ...

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P. Simmel: Frühling. (1925)

Kremserfahrten gibt's auch noch in Berlin, aber weniger im Bürgertum. Das Bürgertum fährt im Auto hinaus oder auf seinen Segeljachten und Motorbooten. In größeren Mengen aber läßt es sich von der Eisenbahn, von Dampfern und Autobussen gemeinsam mit allem Volk hinausfahren und macht kleine oder größere Wanderungen.

Und wenn auch noch so viele Hunderttausende die weitere und nähere Umgebung von Berlin bevölkern – die Pärchen, die miteinander hinausgefahren oder sich auch erst draußen gefunden haben, suchen und finden gewiß in Wald und Busch immer wieder ein Plätzchen, wo sie fremden Blicken entzogen sind ...

Es dürfte kaum einen Fleck im Grünen von Groß-Berlin und Nachbarschaft geben, der nicht zärtliche und leidenschaftliche Szenen bei Sonnenglut und Mondenschein gesehen. Die »verliebten Ausflüge« gehören unbedingt zu den Erlebnissen fast jeden Berliners und auch fast jeder Berlinerin. Auch Dampferpartien auf der Oberspree und den köstlichen, immer wieder neu sich ausbreitenden Wassern der Havelseen, sind sehr beliebt. Vor einigen Jahrzehnten, als die Fahrräder aufkamen, war es selbstverständlich, daß ein Liebespaar, das auf sich etwas hielt, Ausflüge auf sogenannten Tandems machte oder auf Einzelrädern hinausfuhr. Wie oft kam es da in stillen Winkeln zu einer Panne! – Am modernsten ist augenblicklich das »Brautomobil«, das Motorzweirad, auf dem hinter dem Fahrer »der Sozius«, die Freundin in Breeches, die recht prall alle Formen hervortreten lassen, oder auch ganz in Lederkleidung sich anklammert und in Seelenharmonie das Stuckern auf der Chaussee gemeinsam mit ihm genießt. –

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P. Simmel: Don Juan mit Motorbetrieb. (1924)

Wie weit die Landpartie ihren Zweck erfüllt hat, kann man abends in den heimfahrenden Zügen erkennen. Wer Glück hat, kommt in ein Abteil, in dem Pärchen sich an Pärchen lehnt, wo glühende Hände sich ineinander krampfen, Köpfe mit selig geschlossenen Augen sich an des geliebten Nachbarn Schulter lehnen, lechzende Lippen sich hinneigen oder befriedigte Augen wohlig in ein anderes, vielleicht noch sehnsüchtiges Augenpaar blicken ...


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