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Bahnhofsromantik

Die Atmosphäre des Bahnhofs ist selbst in der kleinen Stadt von jeher romantisch geladen. Jeder Zug, der irgendwohin in die weite Welt hinaus vorüberfährt und ein paar Minuten Station macht, bringt fremde Gesichter, die neugierig auf den Bahnsteig blicken, ein Gruß von großen, leuchtenden Städten, die er durcheilt hat, oder denen er zueilt: Menschen, die schweren Schicksalen entgegenreisen oder von den bunten Schleiern des Glückes umweht auf den Schienen dahinfliegen.

Den Menschen der kleinen Stadt, an die Enge gebunden, ist die Bahnhofswirtschaft der Ort, wo der farbige Film des Lebens der Welt an ihnen vorüberläuft – mit schönen Frauen, verfolgten Hochstaplern, den Großen der Welt im vornehmen Speisewagen, hinter verhängten Schlafwagenfenstern und die Bahnhofswirtschaft ist ihnen das, was den Weltstädtern das Weinhaus, das Tanzpalais ist, weil sie hier einen kleinen Hauch der lockenden Weite und der fremden großen Welt verspüren.

Vielleicht ist der blasse elegante Fremde, der spät in der Nacht dem Zuge entsteigt, und hurtig ein Schinkenbrot ißt, ein verfolgter Bankräuber, oder ein Raubmörder oder ein politischer Flüchtling oder nur ein Sektreisender, wer weiß es?

Diese Romantik erfüllt auch die Riesenbahnhöfe der Weltstadt, deren Eisengerippe von dem Donnern des Verkehrs zu vibrieren scheinen – Tag und Nacht durchrast von fauchenden stählernen Ungeheuern, die über die Erdteile brausen, eine Kette von Wagen hinter sich herschleifend, angefüllt mit Menschen, die in Lebensgier, Angst, Jubel, als Führer, als Unstete über Heiden, Gebirge und Ströme steuern, als Passagiere von langen Wagen, die hier hunderte von Insassen in eine fremde Stadt speien um sofort wieder neue Hunderte einzuschlucken.

Die Riesenbahnhöfe der Weltstädte sind die Strudel, in denen das Leben am wildesten kreist.

Der Bahnhof ist denn auch immer die Stätte der Galanterie gewesen, von der Galanterie des Jünglings an, der der Angebeteten noch verstohlen ein Veilchensträußehen in das Wagenfenster wirft, bis zu der heimlichen und abenteuerlichen Abreise zweier Menschen, die nicht glauben anders zueinander kommen zu können, als daß sie bei Nacht und Nebel alles fliehen und verlassen, was ihnen gestern noch heilig war. Der Bahnhof, das ist die Stätte der scheuen Abschiedsküsse, der Liebestränen und des holden Liebesleichtsinnes, der sich mit geschwellten Brieftaschen und in galanter Begleitung in sammetnen Wagenpolstern oder in verschwiegenen Schlafwagenkojen birgt, um hinter den blauen Vorhängen der Fenster Träume zu spinnen die sich in bürgerlicher Heimat nicht träumen lassen.

Um diese Strudel des Lebens herum blüht in allen Weltstädten in enger Nähe das Laster. Die Straßen und Viertel um diese Bahnhöfe herum, wo es herumstreicht, um den fremden Kömmling in irgendein nahes Absteigequartier zu entführen oder junge, unerfahren wirkende Reisende zu verschleppen.

Die Überwachung dieser Bahnhofsviertel wird immer eine besondere Aufgabe der Polizei bleiben, das Tempo und die Fülle des Kommens und Gehens von Menschen machen sie verzweifelt schwer.

Um die großen Berliner Bahnhöfe herum steht aber auch unter der besonnt hüpfenden Welle des internationalen Reiseverkehrs der trübe Schlamm einer Prostitution, die sich besonders für den Reisenden bereit hält, der dem Logis in einem guten Hotel die Schäferstunde mit einem gefälligen Mädchen in einem niederen Absteigehotel vorzieht.

Die Straßen um den Stettiner und Schlesischen Bahnhof herum und um den Alexanderplatz sind noch immer in dieser Weise durchsetzt. Der Straßenverkehr ist allerdings so gewaltig, daß dieser heimliche Liebesmarkt selbst dem Weltstädter kaum noch auffällt. Auch am Potsdamer und Anhaltischen Bahnhof verschwindet er schon beinahe in dem bunten Korso, der bis in die späte Nacht hier strudelt.

Um den »Zoo« – das ist der Weltbahnhof am Zoologischen Garten – hatte sich schon vor dem Weltkriege ein neues galantes Berlin auf getan. Auch das galante Berlin, einst um die Friedrichstraße herum orientiert, hatte den Zug nach dem Westen mitgemacht. Die Untergrund- und Hochbahn, von der Friedrichstadt bis nach dem Kurfürstendamm und nach dem Bayerischen Viertel, gab dem galanten Berlin neue Radien: sie selbst wurde eine Straße der Liebe, auf der zu allen Stunden ein Kreuzfeuer von werbenden Blicken und hier und da sogar von Erhörung zu beobachten ist.

Die Galanterie schuf hier schon vor dem Kriege um den Bayerischen Platz, am Kurfürstendamm und um den Zoo Liebesquartiere und Tanzbars und mehr oder weniger erotisch gestufte Kabaretts und in der Inflation stark erotisch und galant betonte Theater.

Diese Galanterie, die ja den festlich erhellten Abend und die lange Nacht braucht, kam in der Zeit der Kohlennot, des Lichtmangels, der Verkehrsnot, in einer Weise zu kurz, daß sie obdachlos wurde.

Die hübschen Boudoirs und Prunkschlafzimmer wurden kalt, wie die Warmwasserversorgung aufhörte, und es war sehr schwer, galante Besuche zu empfangen lebte man doch in einer Zeit, wo die stimmungsvolle Beleuchtung aus Strommangel aussetzte. Auch die hübschen Tanzbars und Weinhäuser wurden düster und frostig. Und schließlich kam die Polizei und sperrte einfach abends alle die hübschen Stätten des westlichen Berliner Yoshiwara zu.

Da war es der Bahnhof am Zoo, wo sich die obdachlose Galanterie jede Nacht ihr Stelldichein gab.

Wenn die Weinhäuser, Bodegas, Bars, Cafés schlossen, strömte es aus allen Straßen des neuen Westens zum Bahnhof Zoo, wo in den Wartesälen alsbald sich eine Amüsiermesse entfaltete, die zu dem Rahmen in einem seltsamen Widerspruch stand.

Kaffeehauszigeuner, Stars von Bühne und Film, goldene Inflationsjugend mit ihrem frühreifen weiblichen Anhang, und dazwischen der geschminkte und gefärbte Abhub der Straße – das gab ein lärmendes, schreiendes Bild, wie es in Berlin noch nicht dagewesen war und wie es glücklicherweise verschwunden ist. Die Krämpfe der Zeit nach dem Kriege sind vielleicht niemals schauerlicher und abscheulicher gewesen als in diesem äußerlich vielleicht nicht so ungewöhnlichen, innerlich aber völlig unbegreiflich verstrickten und verkrampften brünstigen Durcheinander, für die der Begriff von Jugend, Sonne, Freude, sich zu einem widerlichen Gemenge von Schlamm, Brunst Spiel und Geldgier verkehrten – und draußen auf der Straße standen die Kriegskrüppel, Streichhölzer oder warme Würstchen feilbietend, und strichen armselige Winkeldirnen, die selbst um die Preisgabe ihrer Leiber nicht die paar Inflationsscheine aufbringen konnten, die sie für den nächsten Tag brauchten ...


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