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Die Alltagsfrau als Liebesheldin

Der Sieg von 1870 hatte anscheinend, wenigstens in Berlin, das Wort Lügen gestraft, daß der Lebenstaumel nach großen Kriegen besonders wild daherrase.

Das französische Kaiserreich war im Cancanreigen der olympischen Parodien von Offenbach untergegangen. In Berlin begann allerdings ein Tanz der Millionen in den Gründerjahren. Aber dieser Taumel, der sich ziemlich spießig und parvenumäßig in Tanzetablissements auslebte, war weit davon entfernt, einen neuen erotischen Stil zu bedeuten. Die Welt Offenbachs und die ausgelassenen Freuden des Montmartre lagen dem neuen kaiserlichen Berlin sehr fern und der Bürger verstieg sich immer noch höchstens zum Maskenball bei Kroll oder suchte romantische Erotik in spießbürgerlichen Theatervereinen. Oder er suchte in der grünen Umgegend von Berlin und an den Gewässern der Wälder, die alle damals noch sagenfern und schwer erreichbar waren, idyllische Liebesfreuden, die mit der handfesten späteren Sonntagserotik nichts zu schaffen hatten.

Die Erotik war eine Angelegenheit, die derbere Ziele in den Schenken mit roter Laterne suchte oder auf mehr oder weniger erfreulichen Tanzböden. Die Liebe fürs Leben, die zur Heirat führte, ging über das Kränzchen mit der Kaffeepause und dem Kotillon, über die privaten Tanzzirkel. Die Liebe auf Zeit und die Liebe für das Leben wußte der Jüngling von damals ausgezeichnet zu scheiden. Dabei wurde manches Mädchen, das nicht geheiratet wurde, das Opfer ihrer Stellung, weil sie ihrer sozial niederen Herkunft wegen nicht für heiratsfähig angesehen wurde. Und das junge Mädchen aus guter Familie, die in einer Heirat nicht die Erfüllung des Weibes fand und aus der Reihe brach, weil sie nicht verdorren wollte, mußte es spüren, daß die Zeit einer freieren Auffassung von den Rechten der ledigen Frau noch nicht gekommen sei.

Die Pariser und Wiener Mode gelangte wohl nach Berlin. Aber noch war die Konfektion nicht in der Lage, jedes kleine Ladenmädchen oder jedes lustige Bürgerfrauchen für billiges Geld in eine Lady oder mondäne Frau zu verwandeln. Die Moden wurden in den Läden beschaut, bestaunt, bespöttelt und – nicht gerade mit dem letzten Schick – nachgemacht. Sogar die scheußliche Tracht des cul de Paris, von der die Witzblätter nach 1880 allerlei recht plastisch berichten.

siehe Bildunterschrift

»Als ich Abschied nahm.«
»Werden Sie mir auch fleißig schreiben?«
»Ach ich bin so brieffaul!«
»Und doch bitte ich darum; ich muß täglich die schriftliche Versicherung Ihrer Treue bekommen.«
»Dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen, solange ich Ihnen treu bleibe, schreibe ich Ihnen nicht!«
(Lustige Blätter 1900)

Unterdessen bereitete sich aber von Paris und dem Norden aus etwas vor, und zwar im Roman und auf dem Theater: die Alltagsfrau wurde als Liebeswesen und problematische Gestalt entdeckt. Die französische Sittenkomödie, die französischen Romane von Zola und Daudet und das Werk Ibsens im Norden begannen sich eingehend mit der Frau zu beschäftigen, die bisher immer nur als idealistisches oder ziemlich schabloniertes Wesen der Ökonomie des Romans oder Dramas gedient hatte.

siehe Bildunterschrift

Gestwicki: Liebesrausch.
»Jetzt leg mal sofort das Portemonnaie fort! Du wirst noch ganz tiefsinnig bei der Rechnerei!« (1909)

Mit einem Male tauchten richtige Frauen von Fleisch und Blut auf, in soziale und erotische Konflikte gestellt: in französischen Romanen, die in den Berliner Buchhandlungen auslagen und in Pariser Komödien und Dramen, die den Weg an die Spree fanden. Ibsens »Nora« erschien, und die Frau wurde die interessanteste Figur des Theaters auch der deutschen Reichshauptstadt.

Nur wenige Jahre und Max Kretzer begann die Reihe seiner Berliner Sittenromane, und als der Naturalismus sich durchsetzte, begann alsbald, von Otto Erich Hartleben und Heinz Tovote heraufgeführt, eine Apotheose des kleinen Mädchens, der Kellnerin, der Verkäuferin.

siehe Bildunterschrift

Finetti:
Das gut gehaltene Verhältnis, das sich eine Schreibmaschine anschafft, um dem Geliebten recht deutlich schreiben zu können.
(Aus einem Reklameheft um 1912.)

Die Poesie des Berliner Verhältnisses wurde entdeckt. Mochte es in Wirklichkeit oft auch banal oder grausig enden – es wuchs ein Typ der erotischen Beziehung, der in dieser leidenschaftlichen Sublimierung vorher in Berlin nicht vorhanden gewesen war.

Vielleicht begann schon damals die Konfektionierung der Liebe. Etwas über 100 Jahre früher hatte ja die Wertherzeit auch eine Art Konfektion der Sentimentalität oder gar des Selbstmordes heraufgeführt. Dieses Mal wirkte die von der Literatur herkommende erotische Auffassung bis in die Berliner Studentenkneipen hinein, wo auch der Handlungsgehilfe verkehrte, selbstverständlich immer mit dem Bemühen, es den Studenten gleichzutun.

Denn die feuchtfröhliche, letzten Endes vom jungen Bismarck und von Josef Victor von Scheffel so brillant in den Staatsfeudalismus und in die Literatur erhöhte Corps-Burschenschaft hatten einen neuen jungen Herrentyp geschaffen, der selbstverständlich nicht nur im Kneipen, Fechten und Karrieremachen seine einzigen Ziele sah, sondern auch dem Ewig-Weiblichen seine Reverenz bewies.

Die Stadt Berlin war damals voll von geräumigen Bierhäusern – »Krug zum grünen Kranze«, »Hopfenblüte«, »Gebirgshallen«, »Café Feuerheerd« – in denen Kellnerinnen nach Münchener Art servierten, die fast alle zu Farbenstudenten in Beziehung standen. Das Verhältnis mit der feschen, meist süddeutschen Kellnerin gehörte damals zur Lebensführung des lebensfrohen Jünglings mit dem Couleurband. Sie wurde in derben, oft auch gefühlvollen Kneipliedern besungen und die mehr literarisch angehauchten Semester setzten sich in Novellen und Dramen, die leider meist ungedruckt und ungespielt blieben, mit dem Problem der Kellnerinnenliebe auseinander. Alle aber nahmen in das Philisterium doch etwas von einer freieren Liebesauffassung mit.


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