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Die Liebe nach Noten

Nichts kann ein besseres Bild vom Wesen der Berliner Tanzlokale und vom Wesen der Tänzerinnen und Tänzer geben, als die Lieder, die in den verschiedenen Sälen gesungen werden. Sind doch die Texte meist ganz ausgezeichnete Interpreten der Musik und der Melodien. Und diese Melodien wieder sind ausgezeichnete Charakteristika für die Menschen, die nach ihnen tanzen und sich im Kreise drehen. Hier kann man wirklich sagen: Laß mich sehn, wie du und was du tanzt, und ich sage dir, wer du bist.

Und wenn solch ein Tanzliedchen noch so banal war, wenn seine Melodie wirklich nicht zu den ausgezeichneten Kompositionen gehörte – man wird doch wehmütig gestimmt, wenn irgendein alter Leierkasten es wiedergibt oder eine Köchin es singt. Hängen doch allerlei Erinnerungen an diesem Liedchen – Erinnerungen an frohe Stunden, an rauschende Feste, an heimlich glühende Gefühle, an hingebendes Versprechen, an beglückendes Zusagen, an eine harmlose Heiterkeit.

Früher waren es ja nur wenige Liedchen, die solche Stimmung auslösten. Im höchsten Falle hatte jede Saison ihr Lied. Jetzt hat wohl beinahe jeder Monat seinen Schlager. Die vielen Revue- und Operettentheater sorgen schon dafür, daß ständig eine Auswahl von Schlagern den Berlinern vorgespielt wird. Und es gibt schließlich viel mehr Schlager als Monate im Jahre. Den Berlinern müßte der Kopf summen, wenn sie alle diese Schlager behalten und singen wollten. Aber einer dieser Schlager überflügelt gewöhnlich alle anderen. Er tönt als Hauptschlager auf allen Bällen, in allen Tanzlokalen und Kaffeehäusern, auf jedem Kränzchen – und auch auf allen Straßen und Höfen, wo ihn die Hofsänger mitteilen, wo er aus den geöffneten Fenstern der Arbeitsstuben und Küchen klingt und wo ihn selbst schon die schulpflichtigen Mädchen und Knaben voller Überzeugung und Hingabe singen und flöten.

siehe Bildunterschrift

In Halensee gleich bei der Brücke ...

Vor der Einigung Deutschlands gab es Berliner Tanzlieder im heutigen Sinne nicht.

Man tanzte nach den Melodien der Wiener, nach den köstlichen Rhythmen des Johann Strauß und seiner Zeitgenossen. Auch Volkslieder wurden zum Tanze aufgespielt. Das prächtige »Ach, wie ist's möglich dann, daß ich dich lassen kann!« – und das reizende: »Du, du liegst mir im Herzen –«

Hier sprach sich die glückliche Einfachheit und Einfalt jener Generation aus, die zum größten Teil noch in festen Lebenslagen aufgewachsen war und die im innersten Herzen sich die Simplizität des Kleinstadtlebens bewahrt hatte.

Daneben kamen auch die Lieder aus den Berliner Possen auf den Tanzboden. Die Berliner Posse glänzte damals in hellster Blüte. Kalisch, Emil Pohl und andere schwelgten in ihren Erfolgen. Emil Thomas, Helmerding und Ernestine Wegner brachten die Couplets ins Publikum. Aber wer kennt noch das kokette: »Röschen hatte einen Piepmatz – «?

Die Posse wurde dann ins Volksstück übergeleitet. Und Adolf L'Arronge brachte in der Übergangszeit vom Norddeutschen Bund zum Deutschen Reich jene gemütvolle Sentimentalität zu Worte, wie sie scheinbar stets im deutschen, besonders im preußischen Volke nach großen Kriegen auflebt und wie sie sich im »Meine einz'ge Passion ist mein Leopold, mein Sohn!« dokumentierte.

Die robuste Seite des Berlinertums, wie sie ja auch in den Possen vor 1870 zum Ausdruck gekommen, erschien wieder in dem Polkamarsch:

»Ich hatt' 'ne alte Tante, gar eine böse Frau,
Die hat mich groß gezogen mit Schlägen braun und blau,
Da sagt' ich oft im stillen zu meinem Freund, auf Ehr':
:,: Ach wenn doch meine Tante deine Tante wär'! :,:

Daneben wurden alle älteren Tänze immer noch gespielt. So auch das harmlos graziöse Ständchen: »Herzliebchen mein unter dem Rebendach.« –

Der erwachende Lokalpatriotismus sang unermüdlich: »Wer weiß, ob wir uns wiedersehn am grünen Strand der Spree?«

Flotte Armeemärsche wurden fast alle von irgendwelchen kleinen Versen begleitet, wie z. B. die folgenden, nach denen auch heute noch manchmal getanzt und neckend gesungen wird:

»Denkste denn, denkste denn, du Berliner Pflanze,
Denkste denn, ick liebe dir, wenn ick mit dir danze«?

Jetzt aber kamen einzelne Textdichter und Liederkomponisten auf, die nur für den Tanzsaal arbeiteten. Und man muß sagen: sie trafen die Stimmung der Zeit ganz gut. Wie L. Waldmann mit seinem weichen Gemüt. Von ihm haben wir die schmachtendsten Walzer und Tänze, in denen die lieblichen Frauen über Feen und über alles, was die Schöpfung hervorgebracht, gestellt wurden. Das Charakteristische für Waldmann war wohl:

»Denke dir, mein Liebchen, was ich im Traume gesehn,
Ich war im duft'gen Walde, umringt von schönen Feen!
Sie flüsterten und kosten, ich sollt' ihr Ritter sein,
Und wie sie noch so sprachen, mein Lieb, da dacht' ich dein:
:,: Denn so wie du, so lieblich und so schön,
Kind glaube mir, war keine der Feen!« :,:

Den Zug zum mehr oder weniger Deutlich-Allzudeutlichen hatte Waldmann schon mit Glück eingeleitet mit seiner »kleinen Fischerin«:

Fischerin, du kleine,
Fahre nicht alleine,
Fahre nicht im Sturmgebraus
Auf das wilde Meer hinaus!« :,:

In diesem Liede hat sich eine neue Zeit angemeldet: die mehr oder weniger frivolen Couplets der Varietesänger schafften sich immer mehr Raum auch im Tanzlokal. Das, was der Generation der Gründerzeit das berüchtigte »Zum Tingeling, schon wieder, mir zittern alle Glieder!« bedeutete, das wucherte nun wild empor in unzähligen Versen und Gedichten. Als Komponisten tauchten neben Waldmann Rudolf Förster, Aletter und Paul Lincke auf – Paul Lincke, der seit mehr als dreißig Jahren Variétes und Tanzlokale förmlich mit Tänzen spickt.

siehe Bildunterschrift

Lutz Ehrenberger: Bis früh um Fünfe! ...

Er hatte anfangs mit der damals beliebten Sentimentalität eingesetzt. Doch klang schon ein gewisser schmalziger deutlicher Ton hindurch, wie in dem Walzerlied mit dem Kehrreim:

:,: »Wenn die Blätter leise rauschen
in des Mondes Silberschein,
Liebchen, laß uns Küsse tauschen,
Laß uns beide glücklich sein!« :,:

Das, was aber Linckes Wesen – und damit das Wesen des Berliners von 1900 so drastisch wie nur möglich ausdrückte, war das schreckliche: »Ta-ra-ta-bum-diah!«

Die alte laute und aufdringliche Gefühlsseligkeit war aber trotz dieser hier zum Ausdruck kommenden robusten Lebensanschauung noch nicht ausgestorben. Ja, sie dürfte überhaupt nicht vom Tanzsaal verschwinden. Recht eindringlich äußerte sie sich in dem sehr beliebt gewordenen:

:,: »Ach, könnt' ich noch einmal so lieben
Wie damals im Monat Mai,
Die Sehnsucht allein ist geblieben,
Die herrliche Zeit ist vorbei.
Ach, könnt' ich noch einmal so lieben,
Wie damals im Monat Mai.« :,:

Das gleiche Gefühl äußerten die Walzer: »Ach, einmal blüht im Jahr der Mai!«

,,Zu spät kommt oft die Reue,
Ein Herz vor Gram vergeht –
Das kleine Wort »Verzeihe«
Kommt leider oft zu spät.«

Sie wurden besonders gern gespielt in jenen Tanzsälen, in denen die Nähmädchen aus den Arbeitsstuben, die Verkäuferinnen aus den frisch aufkommenden Warenhäusern und alle jene Mädchen verkehrten, die damals noch mehr Zusammenhänge mit dem gemütvollen Kleinbürgertum hatten. Die neue Generation, die sich großstädtischer, selbständiger fühlte, vertrug stärkere Dosen. Ganz andere Töne, und zwar mit Absicht ein wenig frivole, schlugen an: »In Charlottenburg am Knie« –

Kein Mensch dachte an den Knick der großen Straße, die von Berlin kommt.

Das waren diese Lieder, die dem sich jäh vermehrenden Ladenmädchen und der Warenhäuslerin und ihren Liebhabern am meisten zusagten; der keck liebende Geschmack der jungen Großstadtmenschen konnte sich so recht drin wohlfühlen. Ihm haben wir die Popularität all der Lieder zu verdanken, deren Verse mit diesen Refrains schließen:

»Ach lieber Kapitän, ach lassen Sie das sein,
Sie rudern, Sie rudern, Sie rudern mich hinein.«

»Ach lieber Schaffner, was haben Sie getan?
Sie haben mich nach Berlin gebracht, ich wollt' nach Amsterdam!«

»Denn beim Souper, da kann man was erleben!
Ja beim Souper, im Chambre separée!«

Diese Art gipfelte gewissermaßen in dem allerdings weniger populären, aber doch reichlich bekannten:

:,: »Ach Ernst! Ach Ernst!
Was du mir alles lernst,
Von Dingen, die ich nie gewußt,
Von ungeahnter Liebeslust.« :,:

Deutlicher kann es wohl nicht gemacht werden ... Allerdings wurde diese ganze Art noch übertroffen von dem sehr bekannten rüpeligen:

»Denn an dem Baume,
Da hängt 'ne Pflaume,
Die möcht' ich gerne haben!«

Angeschwipste machten sich ein Vergnügen daraus, dieses Lied zu gröhlen und Frauen und Mädchen anzurempeln. Es hatte eben einen bestimmten Zug im Charakter des Berliner Volkes getroffen, das sich besonders gern an paradoxen und skurrilen Einfällen erfreut – Dingen, wie sie schon in: »Meine Tante – deine Tante« Anklang fanden. Jetzt kamen sie wieder zum Vorschein in dem »Hintern Ofen sitzt 'ne Maus« und ähnlichen Gesängen.

Und daneben immer die alte Sentimentalität. Diese Sentimentalität, die nie ausstirbt und die sich in den letzten Jahrzehnten austobte in den Liedern: »Ich weiß ein Herz, für das ich bete!«, »O schöne Zeit, o sel'ge Zeit«, »Ein fahrender Sänger, von niemand gekannt, Ein Rattenfänger, das ist mein Stand!«

Ja, diese Sentimentalität des Tanzsaales vergriff sich sogar am heiligen Elterngrab, nachdem sie im »Findling« so einen rechten Schmachtlappen erzeugt hatte – nach dem ein richtiger gefühlvoller Walzer getanzt wurde. Dessen erster Vers lautete:

»Kein Heimatland, kein Mutterhaus,
Stets einsam und verlassen –«

Es wurde zum Walzer gesungen – ebenso:

:,: »Der liebste Platz, den ich auf Erden hab',
Das ist die Rasenbank am Elterngrab.« :,:

Paul Lincke hatte sich immer mehr an das flotte Genre gehalten. Seine Lieder und Melodien wurden denn auch mit besonderer Vorliebe in den Tanzsälen der westlichen Vororte und in den Nachtlokalen gespielt, wo eben die flotte Berlinerin verkehrte. Nicht jene Berlinerin, die ein wenig schnoddrig und ein wenig gutmütig, aber auch bissig und treffend antworten kann. Die verkehrte mit ihresgleichen, mit kleinbürgerlichen oder anderen ernsthaft arbeitenden Männern und ließ sich nicht von schneidigen jungen Leuten genießen. Die wirkliche Berlinerin ist viel zu selbstbewußt, als daß sie sich so leicht wegwirft. Sie ist eine Seltenheit in den Lokalen, wo man hingeht, um Bekanntschaft zu machen. Sie gehört nicht zu denen, die als Töchter von Pförtnern, kleinen Geschäftsleuten, Tafeldienern und Kochfrauen im Westen aufgewachsen und durch den Luxus jener Gegend korrumpiert, putzsüchtig und eitel gemacht werden. Sie hat Kopf und Mundwerk auf dem rechten Fleck. Sie liebt den Spott und die Kürze in der Rede. In ihrem Kreis entstanden die Redensarten: »Du ahnst es nicht!«, »Weine nicht, weine nicht, denk' an das Wiedersehn!« und ähnliche. Diese Refrains wurden rasch zu geflügelten Worten, zu ständigen Redensarten.

Sprach sich in ihnen die fidele, leichtherzige, ein wenig klotzige Art des Neuberliners und seine ziemlich starke Genußsucht schon recht deutlich aus, ohne daß Berliner Vorgänge geschildert wurden, so kamen doch auch solche Tänze zu einer nicht geringen Popularität, die in der Sprache des Berliners ganz bestimmte Typen zeichneten. Der berühmteste Tanz ist der von dem Komiker Littke Carlsen verbreitete, der übrigens schon im Karneval 1872 von einigen Musikern bei Bilse zum Gaudium des Publikums gespielt worden war:

 

Rixdorfer

Auf den Sonntag freu' ich mir,
Ja, da geht es raus zu ihr,
Feste mit vergnügtem Sinn
Pferdebus nach Rixdorf hin.
Dort erwartet Rieke mir,
Ohne Rieke kein Pläsir,
Rieke, Riekchen, Rikake,
Die ist mir nicht pipape.
Geh' mit ihr ins Tanzlokal,
Rieke, Riekchen, woll'n wir mal,
Kost' 'n Groschen nur,
Für die ganze Tour.
Rieke lacht und sagt: na ja,
Dazu sind wir auch noch da,
Und nu geht es mit avec
Immer feste weg.
:,: Auf den Sonntag usw. :,:
Rieke feste anjefaßt,
Tschinglala, tralala.
Rechts herum, links herum,
Immer mang das Publikum.
Kreuz und quer, hin und her,
Das gefällt mir sehr.
Nun liebes Riekchen etc,
Man ete, petete,
Das ist die feine Flöte
Von Rixdorf bei Berlin.

So und nicht anders wurde im östlichen Berlin getanzt, ja überall dort, wo der Berliner, der echte, sich auf dem Tanzboden amüsierte: mit vorgeschobenen Schultern, geknickten Knien und hocherhobenen Armen. Man muß die ganze Weise des Berlinertums erfaßt haben, um zu verstehen, mit welcher Poesie dieser klassische Rixdorfer den Berliner Sonntag mit seinen grotesken, derben und doch so liebenswerten Menschen wiedergibt.

Dieser Rixdorfer ist denn wohl der verbreitetste Lokaltanz geworden. Ein Tanz, der so ziemlich überall gespielt wird, wo Berliner tanzen. Und der überall Jubel und Heiterkeit erregt, wo er vor Berlinern ertönt. Er ist eine Art von Lokalhymne geworden und übertrifft sicher an Popularität und Alter alle anderen Tänze, die nur ihre kurze Modezeit ableben.

Der große Erfolg des Rixdorfers brachte eine Anzahl ähnlicher Lieder hervor, die sich mit Vororten befaßten, in denen berühmte Tanzlokale zum »Grand bal« einluden.

In andere vier Zeilen ist die ganze Psychologie eines Berliner Vorortausfluges gegeben:

»Siehste wohl du sieße Fee,
So lebt man an der Oberspree!
Erst gerudert, dann gesegelt, rasch ein Tanz,
Knietsche, knutsche, knietsche, Mondesglanz.« –

Die Beziehungen der Geschlechter wurden hier ungeschminkt in die denkbar kürzeste Form gebracht.

Einige andere groteske Lieder brachten es ebenfalls zu großer Verbreitung. So der erste Kreuzpolka:

»Siehste woll, da kimmt er,
Große Schritte nimmt er,
Siehste woll, da is er schon,
Der jeliebte Schwiegersohn!«

Und dann der Rheinländer:

»Im Grunewald ist Holzauktion,
:,: Die janze Fuhre Süßholz kost'n Taler,
'n Taler, 'n Taler,
Die janze Fuhre Süßholz kost'n Taler,
'n Taler kost't sie bloß :,:«

Diese wenigen Zeilen gaben Anlaß zu allen möglichen Deutungen und Scherzen; ja, sie wurden gewissermaßen feststehende Redensarten. Ebenso ging es dem Lied aus der Posse »Seine Kleine« von Jul. Einödshofer, dem schrecklichen, bis zum Blödsinn wiederholten: »Hab'n Sie nich den kleinen Kohn gesehn?«

Doch brachte dieses Lied gar nichts Berlinisches zutage. Viel mehr und viel echteres Berlinertum, und zwar nach der grotesken Seite, eröffneten Lieder wie »Kille, kille, Pankow« und »In der Brunnenstraße is 'n Ding passiert«. Das zweite verblüffte und entzückte durch seine freche Exzentrik, mit der es ganz tolle Dinge zusammenfaßte. Wie im ersten Vers:

»In der Brunnenstraße is'n Ding passiert! Ei, ei! Ei, ei!
Da hat 'ne Zicke mit 'ne Gans poussiert! Ei, ei! Ei, ei!«

Auch das Überbrettl gab Melodien für den Tanzsaal her. Das famose »Der lustige Ehemann« von Oskar Strauß wurde jeden Abend mehrmals gespielt. Und Bierbaums Text laut mitgesungen. Und selbst Liliencrons »Die Musik kommt« wurde zum Tanz benutzt.

Einen Schlager aber holte sich Linke wieder mit seiner »Berliner Luft«. In diesem Marschlied liegt wirklich etwas von dem preußischen Geist des neuen Berlins, wo jeder, der eine Lunge hat, auch in den schnurgraden Straßen zum Gehör kommt.

:,: »Das macht die Berliner Luft, Luft, Luft,
So mit ihrem holden Duft, Duft, Duft,
Wo nur selten was verpufft, pufft, pufft,
In dem Duft, Duft, Duft, dieser Luft, Luft, Luft.« :,:

Besser als der Autor des Originals traf aber der Parodist den echten Berliner Ton. Man lese nur Hans Müllers Parodie auf die »Berliner Luft«:

:,: »Das ist der Berliner Mund, Mund, Mund,
Wer kann für den großen Schlund, Schlund, Schlund,
Käme es auch noch so bunt, bunt, bunt,
Auf dem Mund, Mund, Mund,
Sind wir gesund, sund, sund!« :,:

Mit einem derartigen Spott sollte einmal ein Wiener Komponist oder Liedersänger seinen Landsleuten kommen! Die würden ihn gewiß nicht mehr singen und pfeifen, viel weniger aber noch nach ihm tanzen.

Außerdem gab es unzählige Tanzlieder und Gassenhauer, deren Kehrreim meist nur einige Monate beliebt war, um dann von irgendeinem andern abgelöst zu werden, der bald naiv-tiefsinnig war, wie: »Man lebt ja nur so kurze Zeit und ist so lange tot.« Oder der »keß« war, wie z.B.: »Komm hilf mir mal die Rolle dreh'n, du bist so dick und stramm. Genier' dich nicht und zier' dich nicht, wir dreh'n das Ding zusamm'n!«

siehe Bildunterschrift

(Lustige Blätter 1924)
Lutz Ehrenberger: Entführung.

Jede der Operetten und Possen, die an den Berliner Bühnen gespielt werden, bringt immer einen solchen Schlager. Es ist unmöglich, alle anzuführen. Sie treffen aber stets immer eine Seite der Zeitstimmung, wie vor kurzem das Künstlertheater mit dem Kehrreim:

»Wer wird denn weinen, wenn man auseinander geht,
Wenn an der nächsten Ecke schon ein andrer steht?
Man sagt auf Wiedersehn! und denkt sich heimlich bloß:
Nun bist du endlich wieder dein Verhältnis los!«

Das traf wirklich die stark gelockerte und auf Galgenhumor gestimmte Lebensart nach dem Kriege. Selbst in den Familien wurde das Lied vom »Verhältnis« gesungen. Ganz ebenso treffend war denn auch der von allen Besuchern mitgesungene und von ganz Berlin gesummte Text aus der »Törichten Jungfrau«, die in dem für ernste Tragödien gebauten Großen Schauspielhaus schließlich ihre leichtfertigen Bilder zeigte zu den flotten Melodien von Oskar Strauß:

»Muß es denn, muß es denn, gleich die große Liebe sein?
Kann man denn, kann man denn eine Nacht nicht glücklich sein?
Schad' um jeden süßen Blick, den ein Mann verpaßte,
Nimm dir frech dein bißchen Glück; was du hast, das haste!«

Das Gefühl, daß man schleunigst zufassen muß, war durch den entsetzlichen außenpolitischen und wirtschaftlichen Druck, durch das unerträgliche, überstürzte Auf und Nieder des Besitzes und Verdienstes stark belebt. Und so kehrt der Schlager, der selbst noch während des Krieges manchmal mit ergreifender Verlogenheit vom Himmel und von Engeln sprach: »Alle Englein singen: Gott, was sind die brav!« Oder gar: »Ach, wenn das der Petrus wüßte!« wieder zu seiner mehr eindeutigen als zweideutigen Weise zurück. Da ward vor kurzem gesungen: »Wenn ich beim Bubi bin, dann geht mir's wonnig.« Und es wurde angedeutet, welche Wonnen gemeint waren. Ein anderes Lied forderte ungeschminkt auf: »Du brauchst mir ja nicht treu zu sein!« und kein Mensch wundert sich, wenn in ganz bürgerlichen Tanzgesellschaften oder Kaffeehäusern ein Jazzbandspieler plötzlich lachend ruft: »Eva, ich wär' heut' nacht so schrecklich gern bei dir.« Auch am Bananenlied »Ausgerechnet Bananen verlangt sie von mir«, das voller Zweideutigkeit steckt, nimmt kein Berliner Anstoß. Ebenso an den andern modernen Kehrreimen: »Ich brauche einen, der mit mir lacht, ich brauche einen für Tag und Nacht!« »Was eine Frau im Frühling träumt, ist ach, so dumm und ungereimt.« Auch der von Hugo Hirsch in sehr einfache aber fließende Musik gesetzte Kehrreim: »War die erste Frau 'ne Pleite, nimm 'ne zweite, nimm 'ne zweite.« wurde als durchaus salonfähig empfunden. Die Kehrreime wurden immer ruppiger, wie u. a. auch:

»Ich möchte einmal, ich möchte zweimal, ich möchte dreimal
In einer Tour
Mit dir, du Kleine, so ganz alleine, an deinen Lippen
Möchte ich nippen immer nur.«

Einen Strich besser waren die »Mädels von Java«:

»Die Mädels von Java,
Die sagen dir niemals nein,
Ihr Blut ist wie Lava,
Ihr Herz nicht von Stein!«

Ein wenig poetischer, wenn auch recht deutlich, ist das von Lehár in Musik gesetzte: »Hab' ein blaues Himmelbett, drinnen träumt es sich so nett: Aber nicht allein, geh, sag' nicht nein!« Daneben aber gibt es noch manche Lieder, die mehr berlinisch deutlich sind, wie das Lied aus »Karneval der Liebe« von Walter Bromme:

»Wenn ein Mädel die Liebe nicht versteht,
Wenn ein Jüngling dann aufs Ganze geht,
Sagt sie »Pfui, ach schämen sie sich doch!«
Dabei küßt sie dann den Jüngling noch und noch!«

Voll Ursprünglichkeit waren jene Lieder, mit denen Claire Waldoff ihre großen Erfolge errang, von denen hier wenigstens an die schlagkräftigen Refrains erinnert sei:

»Wenn der Bräutjam mit der Braut durch die Felder jeht –«
»Warum soll er nich mit ihr vor de Düre stehn?
Warum soll er nich mit ihr mal konditor'n jehn?«

Und auch von der stark wirkenden Senta Söneland möge hier ein charakteristischer Vers stehen:

»Mit fünfzehn wurde ick konfirmiert, da kam ick in die Fabrike.
Die Haare gekräuselt und geschmiert, da sah ich aus recht schnieke.
Da tanzt ich dann auch im Lunapark, mit Gustav, den Hut ins Genicke.
Ich fühlte mich glücklich, gesund und stark. Na – ja – icke!«

Wenn auch die meisten Berliner Tanzlieder zu den sogenannten Schlagern gehören, wenn sie auch jetzt oft von wild sich gebärdenden Jazzbandtrupps zu aufreizenden Rufen mißbraucht werden; sie alle haben doch in der Mehrzahl Gelegenheit zu harmloser Freude, zu unvergeßlichem Vergnügen gegeben. Mit Wehmut wird manch einer an die fröhlichen und heiteren Stunden denken, die ihm die Liedchen verschafft haben, wie sie ihm Sorgen verscheuchten und manche unnütze Grübelei. Selbstverständlich muß ein richtiges Tanzlied auch ein wenig pikant und galant sein.

Und wenn es auch manchmal ein wenig fade oder derb ist, so wird doch nur ein Hypochonder sich zu gut dünken, das stille Vergnügen mitzuerleben, das diese Liedchen besonders in der Erinnerung an frohe, unbelastete Stunden verklärt. – Sie haben vielfach Gelegenheit zu scherzhaftem Geplänkel zwischen beiden Geschlechtern gegeben – und haben dadurch Lebensfreude und Lebenskraft erhöht.

Wohl kommt ab und zu ein Tanzlied empor, das nicht in die unterste Zweideutigkeit hinabsteigt – den großen Erfolg haben jedoch immer nur jene, die Gelegenheit zu allerlei galanten Nebengedanken geben.

»Eine Miesekatze hat se
Aus Angora mitgebracht,
Und die hat se, hat se, hat se,
Mir gezeigt die ganze Nacht!«

Dann allein wird solch Lied so richtig populär, wird solch ein Lied auch im Tanzsaal mitgesungen. Und zwar nicht nur in den gewöhnlichen Volkssälen und auf Volksfestlichkeiten. Auch in den besten Gesellschaften wird das Lied gesungen. Überall, wo ein Mann mit einer Frau in den modernen Tänzen wippend und wiegend hin- und herschreitet oder sich im Tanze dreht und sie sich in der von der Gesellschaft sanktionierten galantesten Form umfangen halten, überall dort singt man auch das stets galante Tanzlied.


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