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Die Erotisierung des Bürgers

Die Reifrockdame – Die verliebte Romantik – Der galante Vormärz – Die Magie der Bühne – Die zehnte Muse – Amoureuse Skandale – Galante Bildwerke – Die Alltagfrau als Liebesheldin – Das Verhältnis – Die Junggesellin – Nacktkunst und Nacktkultur – Der Eros von Morgen


siehe Bildunterschrift

Ofenplatte aus dem Hause Schloßfreiheit No 7.
(Ein Zeichen, daß auch das Bürgertum um die Zeit von 1700 nicht nur pietistisch gesinnt war.)

Die Erotisierung des Bürgers

Die Geschichte des galanten Berlin ist bis zum Rokoko eigentlich die Geschichte des verliebten Hofes, dessen amoureuse Affären und Historien fast allein davon künden, daß es in der Residenz an der Spree so etwas wie eine erotische Kultur gab, die sich freilich mit der italienischen der Renaissance und der französischen des Barock in allen ihren passionellen, künstlerischen und dichterischen Ausstrahlungen nicht messen konnte.

Um diese verliebten Kurfürsten, Prinzen, Könige herum sind keine erlesenen Maler und Bildner und Dichter. Nur der eine Cranach liefert dem Brandenburgischen Hofe im 16. Jahrhundert Bilder, die allerdings in ihrer Kunsthöhe viele gleichzeitige Kunstgebilde anderer sonst vorbildlicher Höfe weit übertreffen. Neben ihm aber scheint wenig Verfeinerung und Bedeutung bestanden zu haben. Die Liebe tobt sich bei Jagden und auf Gastereien mehr ungestüm als zärtlich aus. Was man zur Verfeinerung der Liebeskultur in Kleidung, Wohnung, Schmuck des Lebens braucht, wird dem Pariser Vorbilde nachgeschaffen. Und so tönt auch die Liebeslyrik – abgesehen von dem fast modernen Christian Günther – bis in das XVIII. Saeculum in französischer Weise.

Der Kavalier und die feine Dame wissen ja kaum noch, daß es eine deutsche Sprache gibt, in der bald Wolfgang Goethe, Bürger, Arndt, Schenkendorf und der junge Heine ihr Lied anstimmen werden.

Der Kreis um den Hof dreht sich selbstverständlich längst im galanten Reigen und sucht es dem Allerhöchsten Beispiel nachzumachen in der mehr oder weniger derben Galanterie, die in der Hofluft herrscht.

Der Berliner Bürger aber ist noch nicht galant eingestellt. Es fehlen durchaus die Voraussetzungen dafür, daß sich eine bürgerliche erotische Kultur entwickelt. Die arme kleine Residenz, die sich kaum von den Schweden erholt hat, und in der ein Hof herrscht mit seinen Kavalieren und Offizieren, und die keine brillanten Etablissements, ja nicht einmal ein Theater von Rang hat, wie etwa Paris oder Mailand, sie ist durchaus eine Stadt ohne Galanterie. Sie ist eine Bürgerstadt, eine Soldatenstadt, aber keine Liebesstadt. Es fehlen daher durchaus die großen Liebesaffären im Bürgertum, die wie in späterer Berliner Zeit die Salons, die Presse und den klatschenden Kleinbürger in Atem halten, und dennoch scheint um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts in Berlin auch die Erotisierung des Bürgers begonnen zu haben.

siehe Bildunterschrift

D. Chodowiecki
: Beispiel der absichtlich naiven Galanterie in der Literatur des 18. Jahrhunderts.

Die Oper und das Ballett halten ihren Einzug in die Spreeresidenz und die verliebte Kunst des Rokoko setzt sich in der Mode siegreich durch und gibt dem Bürger neue Sprache und Gebärde.

Der Spießer, der bis dahin scheu und verstohlen in zweifelhaften Häusern Illusionen suchte, die er selbstverständlich nicht fand, begann zu spüren, daß es außer bezahlten Schäferstunden in den Armen von Freudenhausmädchen ein höheres galantes Leben gäbe, dessen Freuden weniger in billigen Liebessiegen als hinter den reizenden Atrappen zu suchen seien, mit denen das Rokoko das Menschlich-Allzumenschliche der Liebe zu verhüllen verstand.

Die Erotisierung des Bürgers begann ganz leise und unmerklich sich zu vollziehen.

Je mehr die galante Kultur des Hofes sich verfeinerte und Kunst, Theater, Musik und Poesie in ihren Dienst zu stellen wußte, desto sichtbarer wurde sie dem Bürger und der Bürgerin, bis die große Differenzierung der Erotik noch im sterbenden Rokoko auch empfindsam wie in der Wertherzeit, dann aber immer freier und kühner wie in der Romantik.

Die Galanterie beginnt eine immer größere Rolle im Leben des Bürgers zu spielen, teils um gesellschaftlich zu erstarren, teils um auch die bürgerliche Atmosphäre in einem Maße erotisch zu durchsetzen, wie es in dem nüchternen, hausbackenen und kommissigen Berlin von früher nicht für möglich gehalten worden wäre.

siehe Bildunterschrift

J. H. Ramberg: Die überraschte Fischerin.
(Beispeil für galante Bildwerke, wie sie die Zeit um 1800 liebte.)

Die heiße erotische Atmosphäre, die sich in der anscheinend so temperierten Luft jener Salons der Biedermeierzeit bildete, sowie die sinnlich reizenden Frauengestalten, die nicht nur als dichterische Gebilde, sondern in reizender und hinreißender, wirklicher Lebensfülle über die Berliner Bühne zogen, die anmutige Mode der Biedermeierzeit und der wieder neu einsetzende Einfluß des erotischen Paris und des sinnlich zärtlichen Wien auf die Berliner Kunst und Kultur, auf die Gesellschaft und das Bürgertum, die wachsende Öffentlichkeit alles Erlebens; das sich, sobald es Seitensprünge machte, nur zu schnell in den Zeitungen gespiegelt sah – sie schufen endlich im XIX. Jahrhundert in Berlin die Atmosphäre, in der immer stärker die Erotisierung des guten Spießers von einst sich vorbereitete, von dem in der heutigen Weltstadt nicht viel mehr zu bemerken ist.

siehe Bildunterschrift

Dörbeck: »Ick verbitte mir det! Det finde ick von Ihnen sehr inclusive!«.

Ob diese Entwicklung immer zum Heile des öffentlichen Wesens ausgefallen ist, kann dahingestellt bleiben. Tatsache ist, daß der Begriff des galanten Berlin heut andere Zustände und Schichten deckt, als vor 200 Jahren, da der Stock des Soldatenkönigs noch für Ordnung sorgte und nur der Kavalier ein wirklich galantes Leben führte.

siehe Bildunterschrift

Durmer um 1840: Mondscheinnacht.
(Galantes Blatt aus der späten Biedermeierzeit)

Das galante Leben hat heut breite Schichten erfaßt, die früher allen Abenteuern und Romanen ängstlich aus dem Wege gingen. Immer galanter wurden die Mode, die Vergnügungen und die Unterhaltung und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Und es ist seltsam, daß sogar soziale Ursachen wie die Emanzipation der Frau oder die Auswirkung des Krieges neue Typen des galanten Wesens schuf, die schon beinahe anfangen tragisch zu werden: die Frau, die im Lebenskampf nicht mehr ihren erotischen Reiz so sublimieren kann wie die Dame des Salons, und die Frau, die in eine verarmte Zeit gestellt ist, in der nicht nur Wohnung und Hausrat kaum noch erschwinglich sind, sondern auch der Krieg unter den heiratsfähigen Männern besonders schwer gewütet hat. Dazu der Lebenstaumel, der weite Schichten nach dem Kriege erfaßte und eine Atmosphäre schuf, in der Bindungen für das Leben schwer eingegangen werden, weil bei Männern und Frauen die Lebensauffassung freier geworden ist – vielleicht aber, weil das Verantwortungsgefühl in der schweren Zeit besonders stark ist.


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