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Die große Tanzwelle

siehe Bildunterschrift

Kinder, Kinder das kann eine kitzliche Sache werden!
Einladung zum Karikaturistenball 1912.

Der öffentliche Tanz ist bis um 1910 in Berlin ein ziemlich gewöhnliches und zügelloses Vergnügen gewesen.

Der Gipfel war wohl der Menuettwalzer in den Tanzsälen des Nordens. Die Tänzerinnen marschierten paarweise um den Saal und warfen nach dem Takt des sehr langsamen Menuettwalzers die Beine so hoch, daß die damals noch langen Röcke bis über das Knie fielen und die Zuschauer Gelegenheit hatten, sich von dem Vorhandensein der weißen Spitzenwäsche zu überzeugen.

Aber schon war der Cakewalk von den Varietés, wo er 1904 zuerst gezeigt wurde, in die Salons und Ballsäle und in den öffentlichen Tanz eingedrungen, wo er ziemlich obszöne Formen annahm, die merkwürdigerweise gar nicht so schlimm empfunden wurden. Der alte Tanzstil aber war durchbrochen, und an die Stelle des ausgelassenen Drehens und Hopsens trat eine wilde Gelöstheit, die sehr sexuell betont war, und selbstverständlich auch einer galanten Kultur diente.

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Schadow:
Ritt auf den Blocksberg.
Einladung zu einem Künstlerfest in der Biedermeierzeit.

Wenige Jahre später kam von New York und Paris aber der Tango nach Berlin. Ursprünglich auch ein übles Erzeugnis brasilianischer Matrosenschänken, war er durch irgend einen geschäftstüchtigen Tanzmeister stilisiert und kam nun als der Vorbote der beginnenden neuen Tanzkultur nach Europa in die Varietés, Operetten, Tanzsalons und schließlich in die kleinen privaten Tanzzirkel und zuletzt auf die öffentlichen Bälle.

siehe Bildunterschrift

Franz Skarbina:
Einladung zum Winterfest des Vereins Berliner Künstler.
16. März 1878.

Er verlangte sehr viel Anmut, Rhythmik und geschmeidige Bewegung, bewegte sich in anscheinend sehr gelösten, aber dennoch unerhört schwierigen Figuren und wurde die neue Mode der schlanken jungen Leute und selbstverständlich auch der weniger schlanken und älteren, die mittels des Tango für schlank und jung gelten wollten.

Dieser Tango erzeugte eine neue besondere erotische Atmosphäre, indem sich nun wieder Mode, Illustration und Musik in den Dienst dieses Tangostils stellten.

Der Tangotyp der Frau entstand und erzeugte selbstverständlich ebensoviele Tangomännchen. Um den Tango kreiste die Erotik von Hunderttausenden, um den Tango, der in Deutschland von Paris aus einzog.

Im Winter vor dem Kriege stand dieser Stil mit tausend Abarten in der Hochblüte. Über Nacht war ein Liebesspiel der Geschlechter entstanden, das sich in diesem Tangostil merkwürdig undeutsch aber hitzig ausfieberte.

Der Krieg hat nichts daran geändert.

Die jungen Menschen, die zwischen den Schlachten in der Etappe oder auf Urlaub daheim, vielleicht zum letzten Male, wieder das Leben grüßten: sie tanzten. Das Leben raste gegen diesen Krieg, der vielleicht eine Menschheitsdämmerung zu werden schien, wild und heiß, und die Menschen tanzten, obwohl der öffentliche Tanz verboten war. Und sie tanzten, als der Krieg und sein Wahnsinn vorüber war, überall, zu jeder Zeit, an jedem Ort.

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Wennerberg: Ballfreude um 1923.

Berlin stand in der Revolution: während die Maschinengewehre knatterten, wurde in Salons und Bars getanzt. Lichtstreiks, Wasserstreiks und Verkehrsstreiks brachen aus – in München, im Rheinland, in Thüringen raste Bürgerkrieg: der Tanz ging weiter. Das Ruhrland wurde besetzt und das Inflationsfieber bebte durch das Reich – und sie tanzten Fox und Shimmy ... Dann kam der fast schamlose, übermütige Charleston mit seinem Beingeschlenker und der Black-Bottom mit Beinschleudern. Beide, die oft anstrengend waren, erhöhten nur die Tanzlust. Der spielerische Charakter des Tanzes konnte sich in neuen Nuancen ausdrücken, tummeln und sättigen.

Zur Jazzband!

Das waren die neuen Peitschen erotischen Vergnügens.

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Im Sauseschritt: Tanzlinie um 1924.

Die Nacktheit stieg immer unbefangener aus ihren Kleidern. Die Frauen hatten von New York und Paris her schon gelernt unter Kleidern nackt zu scheinen: die Jupons und Mieder, welche immerhin die Linien des weiblichen Leibes modisch typisiert und neutralisiert hatten, wichen dünnen, seidenen, schmiegsamen Gebilden, die wie ein Hauch zwischen Kleid und Körper lagen und die individuellen Reize der einzelnen Frau viel stärker als früher durch das Kleid wirken ließen.

Der schlanke Dianentyp, der nun in losem dünnen, fast kniefreien Gewande daherstürmt, siegte immer mehr: dieser Typ, der außerdem im Sport trainiert ist und im schweren, hängenden Pelz zwiefach zart und zerbrechlich scheint. Dazu das kurzgeschnittene Haar und der auf Herzform in rotem Lack geschminkte Mund und eine Gewandung, die auf Schleppe, Taille, Dekolleté, Putz der früheren Frauenkleidung bewußt verzichtete und eigentlich nur ein hemdartig, um Hüften und Beine gebauschtes, hängendes Etwas vorstellte – alles das schuf einen Typ der Erscheinung, der jenseits des Frauentyps von gestern und früher stand, einen Typ, der in der Hauptsache nur durch bemerkenswert schlanke Beine wirkte, die nur zwei Zwecke zu haben schienen: den Tanz und den Sport.

Diese schönen Beine von Hunderttausenden, die wie über Nacht mit einem Male zum Vorschein kamen, zelebrierten eine Tanzorgie, die weit über die Tanzetablissements und öffentlichen Tanzfeste hinausbrandete.

Tanzpalais, in denen schon am Nachmittag getanzt wurde, entstanden in der Friedrichstadt und am Kurfürstendamm. Die Hotels und Bars veranstalteten Tanztees, und selbst in Bürgerhäusern tobten von fünf bis sieben die Fünfuhrtees. In den öffentlichen Gärten in der Kaiserallee, am Kurfürstendamm und in Halensee entstanden Tanzdielen, Tanzpalais und Tanzpavillons, und die jeunesse dansante gründete Tanzklubs, die sich in Tanzturnieren im Wettstreit maßen. Wo Herren fehlten, sorgten die Unternehmer für elegant gekleidete Tanzpartner und verhießen in den Einladungen: »Unsere Gesellschaftstänzer werden sich erlauben, die Damen zum Tanz aufzufordern.« In den Zeitungen wurden Tanzpartner gesucht.

Tanzpaare fanden sich zusammen, die berufsmäßig neue Tanztouren erfanden und von der Bühne herab zeigten – Tanztouren, von unerhörter Kraft und hinreißendem Schwung. Tänzer von straffer, stählerner Kraft und Tänzerinnen von federleicht wehender Anmut, schwerelos, von traumhaft schöner Linie, vom Tänzer mehr durch die Luft gewirbelt als auf dem Parkett hinschleifend.

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Heiligenstaedt: Ball der Kunstgewerbeschüler

Dieser Tanzrausch hat selbstverständlich auf die galante und erotische Kultur einen Einfluß ausgeübt, der vielleicht tiefer geht und wohltätiger wirken wird, als es den Anschein haben mag.

Mit einem Schlag ist in der Welt des Erotischen ein klaffender Einschnitt gezogen zwischen der Tradition des Derben und Zugreifenden und der neuen Kultur einer künstlerisch betonten Erotik und mehr werbenden Galanterie. Das Bürgerliche des alten Walzerstils, der zuletzt völlig versimpelt war, ist beseitigt, und der balzende Schuhplattler und sogar die so beliebten Wackel- und Schiebetänze spielen gegenüber dem Fox, Shimmy und Charleston, sofern sie künstlerisch getanzt werden, eine schlechte Rolle.

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Fritz Preiß: Künstlerball.

Diese neuen Gesellschaftstänze schaffen eine Auslese von trainierten und rassigen Menschentypen. Diese Tänze sind mehr als eine Unterhaltung und sie sind in ihrer letzten Wirkung ästhetisch erzieherisch und wirken, indem sie der Galanterie einen neuen Stil geben, auch zur erotischen Gesundung und stellen die trübe und träge Phantasie des Spießers vor Bilder, in denen etwas von der sinnlichen Anmut und heiteren Verliebtheit der Maler des Rokokko ist.

Der Polka- und Walzerstil, der in der Versimpelung des Vereinskränzchens mit Kaffeepause und beweinenswerten komischen Vorträgen endete, ist durch eine Tanzgebärde abgelöst, die sich auf Kraft und Schönheit aufbaut und vor der selbst in der Galanterie nur eines besteht: die beherrschte und schöne Linie des Wesens.

Diese unerhörte Differenzierung des Tanzrausches hat selbstverständlich auf den galanten Stil der großen Tanzfeste gewirkt, wie sie seit 1900 in Berlin sich immer mehr entwickelt haben: Tanzfeste, die nichts sein wollen als bunte Messen einer gesellschaftlichen Galanterie, die im einzelnen Falle selbstverständlich den Stürmen und Stürmchen der Leidenschaft nicht ausweicht.

Das letzte Jahrhundertende kannte nur die nicht gesellschaftsfähigen öffentlichen Maskenbälle. Außerdem gab es nur den Presseball, den Juristenball und die geschlossenen Kavaliersbälle, auf denen der Diplomat, der Offizier, der Akademiker und vielleicht der junge Bankherr, wenn er Reserveoffizier oder graduierter Akademiker war, sich bewegte. Die übrigen Bälle spielten keine gesellschaftliche Rolle.

Hin und wieder waren die Kostümbälle der Kunststudenten oder des Vereins Berliner Künstler ein Ereignis, deren Apotheose dann der alte Ludwig Pietsch, als Berichterstatter aller dieser Bälle, in der »Vossischen Zeitung« inszenierte. In früheren Jahrzehnten waren die Bälle der Künstler gesellschaftliche Ereignisse gewesen. Künstlerkreise und Vertreter der vornehmen Welt fanden sich zu einem Vergnügen zusammen, auf dem es oft übermütig zugegangen sein muß, wenn die Einladungskarten zu jenen Festen das Wesen der Feste bestimmten. (S. 279–281.) Diese Feste der offiziellen Künstlerschaft verbürgerlichten schließlich. Der ordensgeschmückte steife Frackmensch galt mehr als der überschäumende Künstler.

Um 1900 wurde es anders. Der Kreis um Max Reinhardt veranstaltete im Künstlerhaus jene unvergeßlichen »Schall- und Rauch«-Abende, an denen die ersten Funken Reinhardtscher Künste in parodistischen Sketches aufsprühten, an die sich dann Tanz und Musik schloß: alle guten Geister Wiener Fröhlichkeit und ungarischen Feuers wurden losgelassen und die Zigeuner fiedelten, bis der blasse Tag durch die Portieren brach.

Die Bälle der »Lustigen Blätter« folgten mit künstlerisch ausgemaltem Ballsaale, und die »Bösen-Buben-Bälle«, wo sich Berliner und Berlinerinnen im Schulkinderstil amüsierten. Der »Musenstall« tat sich auf. Die »Sozialistenbälle« folgten, die »Sturmbälle«, die »Alpenbälle« überschlugen sich übermütig, die »Redouten im Admiralspalast« und »Karikaturistenbälle«. So war es bis zum Kriege. Theater, Film, Kabarett, Illustratoren, Halbwelt, Börse, Literatur – sie hatten ihr galantes Milieu, in dem auch der Bürger ein wenig seine amoureusen Wege zu finden suchte.

Der Krieg war aus. Und die »November-Gruppe« der bildenden Künstler tat sich auf und hatte alsbald ihre eigenen Bälle, wie die Schule Reimann, die sich ihre Gauklerfeste schuf. Zahlreiche andere Gruppen und Ballunternehmer boten ebenfalls Nächte, die mit Licht- und Farbeffekten durchflochten waren, sodaß die tanzlustigen Berliner schließlich auf fünfhundert Bälle im Winter gehen können. Auch diese Bälle wußten sich neben den offiziellen Bällen der Presse und der Bühnengenossenschaft bunt, lärmend und faszinierend zu behaupten und boten dem galanten Berlin nicht nur einen neuen und farbensprühenden Rahmen, sondern gaben ihm wiederum einen erhöhten und neuen Stil.

Immer aber hatten alle diese Veranstaltungen noch einen intimen Stil.

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Apachenball.
»So, du bist eine perfekte Reiterin? Wo hast du denn reiten gelernt?«
»Ooch hier!«

Der erste große »Opernball« nach dem Kriege und die daranschließende »Krollredoute« im Winter 1924-25 aber kündigen vielleicht wiederum eine neue Entwicklung an. Hier waren zum ersten Male in grandiosem Ausmaß Licht, Farbe und Blumen in den Dienst der Ballstimmung gestellt. Die verwirrenden Effekte der Theaterausstattungs- und Beleuchtungskunst waren hier zum ersten Male mit riesigem Geldaufwand eingespannt, um eine Atmosphäre zu schaffen, die nicht nur gesellschaftlich, sondern auch in sublimem Sinne galant war – ein Rahmen, in dem sich nicht nur das geistige, künstlerische, politische, finanzielle und kommerzielle Berlin zusammenfand, sondern in dem auch der Flirt und der Tanz daherwehten: das erste Bild eines republikanischen Berlin, das auch den Wiederaufbau der Lebensfreude sucht und auch die galanten Instinkte einer Weltstadt nicht puritanisch verkümmern lassen will, weil sie der Kunst und dem Leben dienen.

siehe Bildunterschrift

Eine Berliner Polkakneipe.
Bockbierlokal mit Damenbedienung. (1860 – 70.)
(Nach einem zeitgenössischen Aquarell.)


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