Hans Morgenthaler
Gadscha puti
Hans Morgenthaler

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XXXVI

Jakob Zahler gab ein kurzes, schüchternes Gastspiel in der Hauptstadt. Man konnte fast nicht erwarten, daß einer durch ewige Jahre abwechslungslos in seinem Dschungelnest hocke. So erlaubte sich Zahler unter irgendeinem Vorwand einen Ausflug.

Uebrigens das Tropenklima! Es machte sich auch bei Zahler bemerkbar. Was hieß das eigentlich, ›stark sein‹. Hieß es vielleicht: dieses Tropenklima gut ertragen? Imfeld und Zahler waren beide müde geworden. Hätte etwa Zahler es ausgehalten, so wie Robert herumzureisen? Oder hätte es Robert besser getan, wie Zahler in Loh Hut zu sitzen? O jeh, in jenem engen Dschungelloch wäre der Wanderrobert ohne Zweifel wahnsinnig geworden. Eines war klar: die Gesundheit war nicht zum kleinsten Teil eine Temperamentsfrage. Auch Zahler, dieser Speckbrocken, dieser Stiergewichtsmann und Sohn eines ungebildeten Vaters blieb merkwürdigerweise dem aufreibenden Dschungelleben nicht ganz gewachsen. Sogar er schien sich aufgeregt zu haben. Etwas ging auch bei ihm aus dem Leim. Sogar seine unerschütterliche Maschinerie schien einen Knacks abbekommen zu haben. »Er sieht zwar durchaus nicht mager und eingefallen aus«, sagte die Wirtin im Oriental Hotel, »aber neulich hier ist es ihm passiert, daß er eine ganze Nacht lang laut herausschreien und brüllen mußte vor lauter Schmerzen irgendwo im innersten Leib, sodaß das ganze Hotel zusammenlief.«

Nun ist es allbekannt, daß ein Mensch, der ein 251 merkwürdiges und so und so unordentliches Leben hinter sich hat, ungeheuer erschrickt, wenn plötzlich ein großer Schmerz ihn zerreißen will. Auch er, der Kongomann hatte Sünden auf dem Buckel, sogar brandschwarze, von denen er selber wußte. Jedoch statt die günstige Gelegenheit zur Pflege und Schonung in der Stadt zu benützen, machte er rasch entschlossen kehrt und floh »heim« in seine Bambushütte, und verkroch sich in sein dunkles Urwaldloch zurück wie eine vergiftete Ratte. Und niemand hielt ihn in Bangkok zurück.

Das furchtbare Klima, die brutale Hitze der Tage, die ewigen Konserven-, Reis- und Hühnergerichte, vor allem aber die fiebrigen, schlaflosen Nächte mit über 30 Grad Celsius, beladen mit geil-phantastischen Träumen, setzten Roberts Wandergebein unerträglich zu. Er wurde nervös und aufgeregt und konnte, auch wenn er müde gelaufen war, nicht schlafen. Statt unterm Schleier des Moskitonetzes wohltätiger Ruhe sich hinzugeben, flanierte er in den Dörfern und Weilern, wo er Reisehalt machte, von Hütte zu Hütte, maßlos geplagt von neugieriger Unruh, sog die Bilder kindlich naiven indischen Lebens in sich hinein, betäubte sich, wie ein Chinese mit Opium, an seiner eigenen seelischen Trunkenheit.

Wollte wenig Erfreuliches bei seiner Berufsarbeit herausschauen und litt er unter dem unbarmherzig auf Geld gerichteten Betrieb, in dem er bis an die Nase steckte – bis zur Bewußtlosigkeit wollte er in sich aufnehmen, bis zur Neige kosten, was das seltene Land an wahren Freuden, an echtem Erleben bot. Es ist kein 252 Zufall, daß der nüchterne Brite von allen Europäern diesen Tropenzauber am besten aushält, dachte Robert manchmal. Zuviel Erleben tötet einen Menschen. Wer Nacht um Nacht statt zu schlafen denkt, wer sein Essen verträumt, soll sich nicht wundern, wenn er früher oder später für sein Leben der Ekstase büßt. Je nervöser Imfeld wurde, umso stärker litt er unterm Klima und Ungeziefer, und tausend tägliche Quälereien erschwerten ihm das Leben. Kleine weiße Würmer zu Millionen, die er sich durch zu vieles Bananenessen zugezogen hatte, fraßen ihn fast auf, daß er innert wenigen Tagen zum Geripp und vor ewigem Hunger fast wahnsinnig wurde. Schlimmer, und geradezu furchtbar war jetzt dieser Parasit, der Imfelds ausgemergelten, unterernährten Körper vor einiger Zeit schon befiel. Entsetzlich, wie der arme Imfeld aussah! Was war das? Der Aussatz? Herrgott wie und wo hatte er sich infiziert? Ueber und über, vom Nacken über die Brust, über den Rücken, den Leib entlang auf die Schenkel, ganz voll war er von dem Zeug, Ring an Ring, Mond an Mond fraß ein Parasit sich weiter auf seiner armen Haut. Scheußlich zu schauen, wie Pestilenz oder Syphilis, und einfach entsetzlich, wie das, wenn Schweiß in die Wunden rann, Tag und Nacht juckte, brannte und biß. Ohnmächtig hatte er im Urwald zusehen müssen, wie das Uebel auf ihm wucherte und wuchs, umsonst hatte er seine Reiseapotheke zu Rat gezogen, seine medizinischen Reisebücher hatten versagt: »Herrgott, mich hats!«

Unscheinbar, eigentlich sogar lustig, hatte es begonnen: als ein kleiner Ring von der Größe eines 253 Fünffrankenstückes am Oberschenkel, als ein erstaunlich regelmäßiger, blutiger, beißender Kreis, – ein wenig Jod drauf, die Wunde verschwand – um wiederzukehren an anderer Stelle. Und dann nach wenigen Tagen rapiden Wachstums hatte er schon am ganzen Leib fast mehr Wunde als gesunde Haut. Innig vertraut mit allem Schrecklichen der Welt und so und so ein loser Bruder, packte Angst und Entsetzen Imfeld, und wenn in den kühlen Morgenstunden das Jucken und Brennen des Aussatzes nachließ, sodaß er notdürftig hätte schlafen können, marterte ihn die Angst vor seiner unheimlichen Krankheit: Armer Robert, dich hats!

Und dann hatte ihm der väterliche Mr. Clark gesagt: »Sie haben Ringworm, pfui Teufel, das ist ein harmloser Parasit, der wie der Hausschwamm eines morschen Stubenbodens auf Ihrer Haut lebt. Nicht schlimm, aber schwer zu vertreiben. Es gibt nur ein Mittel: schmieren Sie sich den ganzen Leib jede Nacht mit Hühnermist ein.«

»O Clark, Sie glauben, daß es nichts Schlimmes sei, wie gut!« hatte Robert sich gefreut. Der Arzt, zu dem er sich endlich wagte, lachte auch harmlos über den dreckigen Kerl: »Sie müssen einen Monat oder zwei täglich die Wäsche auskochen und wechseln, sonst werden Sie Ihren Ringworm nie los.« Kann man aber so sauber sein auf Dschungelreisen? – Imfeld war und blieb verseucht, und wenn er auch während der kühlern Zeit die Krankheit auf ein erträgliches Maß einzudämmen vermochte, völlig loswerden sollte er die Sporen dieses Pilzes, mit denen er sich immer neu 254 infizierte, erst dann, als er das heiße, feuchte, furchtbare Tropenklima endgültig verließ.

Alle diese Unannehmlichkeiten und Strapazen, die körperlichen und die seelischen, heizten Robert zu einem ungesunden Abenteuerleben auf. Wohl hatte er im Lauf seiner indischen Lehrjahre gemerkt, daß seine Seele nie inbrünstiger hoffte, nie in lichtere Höhen aufschwang, daß sein Herz nie flotter in seiner Brust schlug, als wenn er, ganz vergraben unterm Brotberuf, ganz erdrückt von Intrigen, still sich beiseite stehlen durfte, in seine eigene innere Welt entfliehend, aber – das fragte er sich jetzt voll Qual! – hat das alles keine Grenze? Oder ist es wirklich um so besser für mich, je ärger ich leide? Gilt dieses Hell-Dunkel-Prinzip bis in alle Extreme hinaus? Darf ich wirklich nirgends schöner als im Hurenhaus von Engeln träumen? Ist der heimatliche Schnee am weißesten und beglückendsten in der Erinnerung vom Sumpf und Urwald Hinterindiens aus gesehn?

Viel herrlicher ist es, als der gesicherte Spießer wissen kann, verkauft, vom Leben verraten, zu äußerster Notwehr gereizt zu sein, zum Beißen, Dreinschlagen und nach den Göttern spucken. Glücklich, wer auch diese Situation zum Besten zu drehen vermag! Wie herrlich, sich jetzt sein eigenes Recht konstruieren zu dürfen, ein Recht der Gewalt und Brutalität, des Lebens Grausamkeit mit Grausamkeit gegen sich selbst zu vergelten.

Während Imfeld bisher an Fährnissen und Exzessen nur gerade das auf sich genommen hatte, was sein Beruf mit sich brachte, – jetzt begann er 255 Bachab-Gedankengänge zu nähren, sich an Leib und Seele sowieso schon verkauft vorzukommen, stürzte sich mit künstlich gesteigerter, bitterer Wollust und mit dem Gedanken: es ist ja offenbar gleich, wo du stirbst! in die zweifelhaftesten Unternehmen, die er eigentlich lieber vermieden hätte. Nicht nur kümmerte er sich immer weniger um sein leibliches Wohlergehn, um Essen und Trinken und Wohnen, nicht nur geriet er so in die scheußlichsten Spelunken, Spiel- und Dirnenhöhlen der Städte hinein, sondern eine geheime Sucherlust, ein Trieb, dem man Sehnsucht sagen möchte, juckte, saugte ihn mit unwiderstehlicher Gewalt in die finstersten, engsten Rätselgäßchen hinein, zwang ihn, Hütten, die ihn nichts angingen, zu betreten, und plötzlich stand er in diesem Zustand der Besessenheit in einem fremden Gebäude unter schnarchenden Leuten, bis ihn in einem jähen Moment des Erwachens das Erstaunen vor sich selbst und die Angst, totgeschlagen zu werden, in hellem Galopp aus der gefährlichen Gegend wegtrieb.

Wie urgewaltig diese Stimmungen Robert jetzt in der Hauptstadt manchmal packten! Meist etwa nach dem dritten, vierten Stengah. Wie da plötzlich alles selbstverständlich wurde, wie er da ganz auf einmal wußte: jetzt verlässest du den gemeinsamen Tisch, jetzt adieu ihr andern, ich habe keine Zeit mehr für euer Geschwätz und euren Geldkram. Ich muß auf Entdeckung! Dann saß er plötzlich in der Rickshaw, und der Trab des chinesischen menschlichen Pferdes mußte rasch Erfüllung bringen. »Pai! – lauf!« brüllte Robert und ebenso plötzlich schrie er »yut! – halt!«, 256 stieg an unglaublicher Winkelgäßchenecke aus und verschwand im Dunkeln. »Es braucht sich deswegen niemand zu bekreuzigen,« dachte er dabei, »ich bin nun einmal in diesem Land, muß hier sein. Gleichgültig, ob ich nächste Woche im Urwald liegen bleibe oder in einem Jahr in der Heimat wieder reinere Träume haben werde, – meine Pflicht ist, heute Abend völlig und ganz zu leben!« Wenn einmal gar nichts Wesentliches an innerm Gewinn dabei herausschauen wollte, und nach einer solchen Bummelnacht nichts übrig blieb, als eine tiefgründige Verachtung seiner selbst, dachte Robert: wenigstens ist diese echt, und vielleicht muß man alles, alles bis zum Fundament abbrechen, um mit dem Lebensneubau erfolgreich zu beginnen.

Im gleichen rasenden Tempo, in dem Robert sich von diesem gefährlichen östlichen Leben aufsaugen ließ, wuchs seine Vorliebe für dunkeläugige Frauen. Jene anfängliche Zurückhaltung des gebildeten Europäers der Braunen gegenüber, die dem Neuling selbstverständlich schien, und vor allem jene tief begründete Neigung zur Vorsicht, die hier in der östlichen Riesenstadt mit ihrem unkontrollierten impulsiven Leben alle Weiber als unsauber und gefährlich verwarf, diese ganze geistig-leibliche Barriere am Eingang gleichsam ins bodenlose Schwimmbassin des Lebens, begann Robert immer weniger ernst zu nehmen.

Abends vor dem Laubenbau des Trocadero im Hotelviertel paradierten in Reigen ganze Scharen jener strammen, rundlichen Fräuleins, die auf siamesisch Luck Thong – Goldkinder, Goldmädels heißen, was sie auch wirklich sind. Barfuß bis ans Knie, im bunten 257 koketten Hosenrock, obenaus fast nackt und braun wie Ponies, mit gestutzter Bürstenmähne, oder in saubern, weißen, äußerst dünnen Leinenblusen leuchteten sie verlockend lieb durch die warme tropische Nacht, warben, lockten, verführten wie schöne helle Nachtblumen. Und wenn man auf siamesisch ein solches Luck Thong, das nächtlicherweile spazierte, fragte: »Pai nai? – wohin gehst?« erhielt man die offene Antwort: »Pai ha farang – einen Weißen suchen!«

Wenn man spät nachts nach schwerem Whiskygelage unter die südlichen Sterne trat, umwarben auf leisen Sohlen, wiegenden Ganges herantänzelnd diese Dirnen die rauhen Zechbrüder, Weibchen voll blühenden Lebens, daß fast die Blusen zersprangen, bittend und kichernd: »Nimm mich mit! Dazu bin ich da!« Dann verschwand der eine oder andere Kamerad in der Rickshaw, gefolgt von einer zweiten ähnlichen Kutsche, in der er in munterm Galopp einen dieser Erdenengel oder zwei – warum auch nicht! – ein ganzes Sträußchen dieser Blumentierchen seiner Sehnsucht zu sich heim entführte. Wie herrlich doch hier ein armer, in Bann und brutaler Enge schweizerischer Bürgerlichkeit aufgewachsener junger Mensch leben konnte, nehmen und fressen nach Herzenslust und ohne die geringste Einbuße an persönlicher Freiheit. Herrlich, einfach herrlich! Immer wahnsinniger, immer unbedachter griff Robert zu. »Wenn ich noch lange in diesem verrückten Land bleibe, erwischt es mich plötzlich.«

Das volle Geschäftsleben flutete durch die New Road, die helle Sonne blendete Imfeld, als er eines 258 Morgens, noch die Schatten der verbummelten Nacht im Gesicht, aus dem Dämmerlicht eines unförmlichen chinesischen Gebäudekomplexes trat, der vorn Theater, zu beiden Seiten Schweinestall, und Coiffeurladen, rückwärts aber noch etwas ganz anderes war. Wie verrückt heute die chinesischen Ladenschilderfahnen baumeln, ihre großen Zeichen in der Luft herumschlenkern, wie alle Welt fröhlich ist und mir zulacht. Ich will zum japanischen Photographen gehen, dachte Robert. Möchte gern wissen, wie ich aussehe! Und als er später sein Konterfei bekam, das nicht halb so viel von den Ereignissen der Nacht verriet, dachte er: Irgendein Segen scheint doch dabei gewesen zu sein.

So wurden Roberts »Erholungs«-Aufenthalte in der hinterindischen Riesenhauptstadt ebenso intensiv, wie sie kurz blieben. Den Kopf und das Herz noch voller Ereignisse, riß ihn schon die Eisenbahn oder das Motorboot in den Dschungel zurück. Auch dort, in den Walddörfern, war er jetzt manchmal verrückt. In letzter Zeit bestand sein Hauptspaß darin, mitten in der Nacht durch die Dorfstraße zu gehn, das bellende Gekläff der Pariahunde nachahmend, jener elenden Geschöpfe, von denen kaum zwei unter zehn vor Hunger und Not sich auf den Beinen zu halten vermögen. Und es dauerte meist nicht lange, bis als Antwort das erbarmungsloseste Geheul dieser armen Teufel von Hunden, die niemand fütterte und niemand tot schlug, das ganze Dorf aus dem Schlaf herausriß. Und dann lachte Robert jedesmal, wenn aus dem Dunkel der Hütten etwa ein Fluch herausgepoltert kam – Tuna maka haya! – grobe Worte eines aus wollüstigen Träumen aufgeweckten Chinesen. 259

 


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