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Ludwig Bamberger.

Die Nation, 10. Jahrgang Nr. 43, 1893 S. 645-646.

Ludwig Bamberger begeht am 22. Juli seinen siebzigsten Geburtstag. Die Liebe und die Verehrung, die jemand im Leben gewinnt, ist wohl an jedem Tage dieselbe; aber ihre Äußerung ist ein Sonn- und Festtagsgeschäft. Der Wanderer soll sich nicht zu viel umsehen, um vorwärts zu kommen, der Mensch durch die Freuden und die Leiden der Erinnerung sich in seinem Wollen und Streben nicht zu oft unterbrechen und irren lassen. Aber die Regel ist da, um die Ausnahme zu verstatten und zu verklären. Rückschau und Rundschau haben auch ihre Zeit und ihre Tage, und die für diesen Tag angezeigte ist eine große und schöne.

Durch die vielbewegten letzten fünf Decennien sind von den Menschen, welchen es auf der Seele liegt von dem, was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, ihren vollen Teil zu nehmen, nicht viele auf ganz glatten Wegen gegangen. Diejenigen Bambergers verdienten eine Selbstbiographie nicht minder wie die von Werner Siemens. Wenn die Jugendeselei wenigstens insofern ihre gute Seite hat, als wem diese erspart bleibt, regelmäßig im späteren Leben nachholt, so ist in dieser Hinsicht unser Mainzer Freund nicht zu bedauern. Es sind jetzt vierundvierzig Jahre her, daß er an einem schönen Maimorgen von Rheinhessen nach der Pfalz ausrückte, um die deutsche Demokratie und vorkommenden Falls die deutsche Republik gründen zu helfen. Dieses Gründertum wird der heutigen an andere Formen dieser Erscheinung gewöhnten Jugend unverständlich sein, zumal bei der in seinem Kopfe wie in zahlreichen anderen damit vereinigten Einsicht in die so gut wie vollständige Aussichtslosigkeit des Beginnens. Aber wer jene Zeiten mitdurchlebt hat, wird sich der Jugendstimmungen erinnern, der Zeit, wo die junge Welt meinte, das einige freie Deutschland dadurch schaffen zu helfen, daß jeder, für sein Teil wenigstens, sich aufopferte. Wie einfältig dies war, wissen wir jetzt auch. Aber in der Kindereinfalt ist auch ein Sinn, und in dem trüben Most jener Zeiten steckte ein edler Wein.

Die Folgen jener vierwöchigen Campagne, die Bamberger selbst mit einem auch in der Torheit klaren und sicheren Menschenverstand und mit einem in guten wie in bösen Tagen gleich getreuen Humor in einem noch in demselben Jahr veröffentlichten und auch heute lesenswerten Bericht geschildert hat, sind bekannt. Die offiziellen Konsequenzen des pfälzischen Bataillonskommandos traten ein, und eine lange Reihe von Jahren galt es sich selbst zu helfen, und wenn nicht die Vaterländer, so doch das Vaterland aus der Ferne zu lieben. Es wird gestattet sein, an dem heutigen Tage ein einzelnes Blatt aus jener Vergangenheit aufzufrischen, eine längst vergessene Rede wieder in das Gedächtnis zurückzurufen, welche Bamberger am 5. Oktober 1862 in Murg am Wallensee bei Gelegenheit der Einweihung des Denkmals für Heinrich Simon gehalten hat.

Um dem Verbannten das Wiedersehen seiner alten nicht mehr reisefähigen Mutter möglich zu machen, hatte Bambergers Familie ohne sein Vorwissen sich an den Großherzog von Hessen mit der Bitte gewandt ihm Amnestie zu erteilen. Diese Bitte war nicht gewährt, ihm aber gestattet worden, auf acht Tage sich nach Mainz zu begeben, unter der Bedingung während derselben sich aller Politik zu enthalten. Bamberger hatte dies abgelehnt, war aber durch diese Vorgänge den Genossen der Verbannung bei der in solchen Kreisen herrschenden argwöhnischen Stimmung als Abtrünniger verdächtig geworden. Er benutzte jene Gelegenheit, um dagegen einzutreten und die Stellung solcher Verbannten überhaupt wie seine eigene den Freunden klar zu legen. Ich gebe den Bericht wenig verkürzt so wieder, wie er damals in den öffentlichen Blättern erschien.

Die Exilierten, so führte er aus, wüßten es am besten, wie es tue, wenn plötzlich die Bahn des Lebens mitten entzwei gebrochen wäre und wie nun zunächst die erste und einzige Frage sei, sich wieder eine Existenz zu verschaffen, wie da alle geistigen Ziele, alles politische Streben zur Seite gesetzt werden müsse, um erst wieder eine materielle Grundlage herzustellen. In solchem Zustande sei, wenn es gestattet sei, das Schicksal des einzelnen mit dem der Gesamtheit zusammenzustellen, auch Deutschland am Schluß des Dreißigjährigen Krieges gewesen; aus solchen Zuständen habe es sich emporzuschwingen gehabt. Mit Gewißheit aber sei vorauszusehen, daß am Schlusse dieser Entwicklung auch die Befreiungstat sich einstellen werde, und wir könnten dem Tag entgegensehen, an dem die Erlösungsstunde schlagen werde. Wie zu den Gläubigen der Priester spreche: Lebe so, als könnte jede Stunde die deines Todes sein! so spreche zu den Verbannten das Vaterland: Handle in jedem Augenblick so, als ob du lange genug zu leben hättest, um den Tag der Freiheit zu schauen; halte dich so aufrecht, daß du mit freier Stirn und mit reinen Händen hintreten kannst am Tage des großen Sieges, um auf dem Altar zu opfern! Zwei Eigenschaften seien es vor allem, die den politischen Menschen machen, die hehre Anschauung vom Vaterland und das Gefühl der persönlichen Würde. Beide entwickeln sich besonders stark bei dem Verbannten und es liege darin eine Ausgleichung für die sonstigen Entbehrungen des Exils. Mit kurzen und meisterhaften Zügen, sagt unser Berichterstatter, schilderte dann der Redner das ganze Elend nicht nur des vermögenslosen, sondern eines jeden Exilierten, so daß den Schicksalsgenossen die Herzen auf- und die Augen übergingen, als er hinwies auf das einsame Sterben der daheim zurückgebliebenen Geliebten, auf die fern von deutscher Sitte und Bildung aufwachsenden Kinder der Verbannten. »Die Rede schüttelte uns alle um so mächtiger, weil sie gar nicht zu rühren beabsichtigte, sondern solche Züge nur realistisch erwähnte, um zu erklären, warum die Vaterlandsliebe und das Selbstgefühl in den Verbannten sich steigern.« Entrückt dem Boden der Heimat und dem täglichen Empfinden ärgerlicher tatsächlicher Schranken stehe vor seinem Auge das Vaterland in seiner fleckenlosen Schönheit und Reinheit und die herbe Notwendigkeit, die ihn zwinge, seinem Berufe, den Ansprüchen seiner Bildung, seinem Stolze zu entsagen, treibe um so mehr das Selbstgefühl und den Lebenstrieb des geistigen Ichs in die Brust zurück, wo sie sich zu festem Erze bilden. »Wenn ihr,« so schloß er, »denen es vergönnt ist, in das Vaterland heimkehrt, so bringt unsern Landsleuten den Gruß der Verbannten und sagt ihnen, daß wir dem Tage entgegensehen, da wir als freie ungebeugte Männer heimkehren werden.«

Sechs Jahre später saß Ludwig Bamberger als Vertreter seiner Vaterstadt im ersten deutschen Zollparlamente. Er kehrte heim, wie er hatte heimkehren wollen und wie wir ihn kannten und kennen, mit freier Stirn und reinen Händen, ein ungebeugter Mann. Das gleiche gilt von zahlreichen anderen damals Rückkehrenden; was Bamberger eigen ist, ist die in der Tiefe seiner Leidenschaft begründete Klarheit und Folgerichtigkeit seines Denkens und Handelns, seine dem Poltern und Schelten ebenso wie dem Schmollen und Grollen absagende und dadurch so überlegene politesse du cœur, die völlige Freiheit von Bitterkeit und. Eigensinn. Die doppelte Einsicht, daß die Regeneration Deutschlands nur in dem mehr oder minder vollständigen Aufgehen der deutschen Kleinstaaterei in Preußen möglich sei und daß sie nicht anders möglich sei als unter Initiative der preußischen Regierung, diese teuer erkaufte aber heilsame Frucht des vorzeitigen Frühlings von 1848 hatte schon in der Verbannung keiner deutlicher, vollständiger, tiefer begriffen. Was jene Bewegung erstrebt hatte, war wohl erreicht, das Traumbild wohl zur Wahrheit geworden, aber auf anderem Wege, als man gehofft und gemeint hatte, durch andere Männer, durch die einstmaligen erbittert angefeindeten Widersacher. Aber dem rechten Mann liegt das Ideal im Ziel und nicht in den Wegen; und in diesem Sinn hat Bamberger, heimgekehrt, ein Vierteljahrhundert hindurch in der Volksvertretung und in der Presse gewirkt.

Was wir ihm schuldig geworden sind, kann in diesem kurzen Festgruß nicht zusammengefaßt werden. Es ist auch kaum erforderlich; wie kurz das Gedächtnis der Menschen für parlamentarische und publicistische Tätigkeit ist, ihn kennt Freund und Feind. Wenn er bei seiner Heimkehr das deutsche Fürstenkollegium, das er mit sehr respektwidrigen Empfindungen verlassen hatte, fast vollzählig wiederfand und für die in dem Kranz fehlenden Blüten nicht er die Schuld trägt, so hat er allerdings zu der Absetzung eines Königs wesentlich beigetragen. Es ist sehr zweifelhaft, ob ohne seine umfassende Sachkenntnis, sein seltenes Talent, Fachfragen dem gesunden Menschenverstand deutlich zu machen, seine glänzende, so scharfe wie anmutige und immer vornehme Feder und sein schlagkräftiges Wort nicht König Silber immer noch in Deutschland regieren würde, und ob nicht die deutsche Nation es zum guten Teil ihm zu danken hat, daß heute die Herren von Kardorff und Arendt einsam trauern. Allerdings ist in anderen Fragen es ihm nicht gelungen, dem gesunden Menschenverstand gleichfalls zu seinem Recht zu verhelfen. Vergeblich hat er, dem das Kredit und das Debet des kolonialen Gründertums im Auslande klar geworden war, gegen den Mut der Unwissenheit und dessen politische Ausnutzung gestritten. Vergeblich hat er in der Arbeiterfrage seinen reinsten Willen und seine beste Kraft eingesetzt. Aber wenn auf diesem Gebiet der größte aller Opportunisten den staatlichen wie den staatsfeindlichen Socialismus mit solchem Erfolg erzogen hat, daß jetzt den Vätern selbst vor dem legitimen wie vor dem illegitimen Kinde zu grauen beginnt, so hat Bamberger das mögliche getan, um nach beiden Seiten hin rechtzeitig zu raten und zu warnen und wenigstens dem Klebetopf, mit welchem die Regierungsweisheit der armen Leute Not zu überkleistern bemüht ist, den Boden auszuschlagen.

Es wirft einen Schatten auf den heutigen Tag, daß in der Leipzigerstraße Nr. 4 heute zwar Herr Ahlwardt zu finden ist, aber nicht mehr Ludwig Bamberger. Hat er recht daran getan, von der hauptsächlichen Stätte seines Wirkens vor der Zeit zu scheiden? Er ist so mutig wie klug und so klug wie mutig; gibt er die Zukunft Deutschlands verloren?

Es ist wahr, daß es übel um unser Vaterland bestellt ist, übler vielleicht als seit Menschengedenken. Die viel erstrebte neue Parteibildung ist erreicht Politische Parteien von ausschlaggebender Bedeutung gibt es nicht mehr. Die gewesenen Konservativen nennen sich jetzt mit anerkennenswerter Offenheit Landwirte und die Liberalen sind mehr eine Reminiscenz als ein politischer Faktor. Die jetzt bestehenden Parteien stehen unter der Signatur des Hasses und des Neides. Allerdings ist die schwere Kunst des Regierens es in Deutschland doppelt. Die zwiespältige Konfession und die fremden Splitter, die unsere Nation in sich aufgenommen hat, sind für jede Regierung sehr ernste Hemmnisse; die Taten noch mehr als die Leiden hemmen des Lebens Gang den einzelnen wie dem Volke. Wenn dem Staatsmann, der ihm seine derzeitigen Bahnen vorzugsweise gewiesen hat, von allen politischen Talenten am meisten dasjenige des Versöhnens gebricht, so hätte wohl alle Milch der menschlichen Güte kaum mehr erreichen können, als das Verschlimmern zu verhüten. Auch wird jede nationale oder religiöse Parteiung selbst von den Gegnern, geachtet werden müssen, wie sehr es immer zu beklagen ist, daß in unserem Vaterlande die Anzahl so groß ist derjenigen, für die das Schwergewicht außerhalb desselben liegt und die nicht mit gutem Gewissen sagen können, daß sie an das Vaterland, das eine, sich anschließen. Dies sind alte Schäden; aber zu ihnen sind neue gekommen. Das jetzige politische Leben hat zu rechnen mit der aggressiven katholischen Partei, die den Protestantenhaß und die Protestantenbekehrung auf ihre Fahne schreibt; nicht minder mit dem Haß derjenigen Christen, welche unter der Fahne des wahrhaftigen Stöcker und des gleichfalls wahrhaftigen Ahlwardt den Kreuzzug predigen gegen die Juden. Die Neidkategorie oder die sogenannten Parteien der materiellen Interessen ist das eigentliche Fundament des gegenwärtigen Parteilebens, überwiegend zur Zeit vertreten durch die beiden Gruppen, welche die Nation exploitieren oder künftig exploitieren möchten zu Gunsten der Großgrundbesitzer oder zu Gunsten der Handarbeiter – denn einen anderen Unterschied zwischen dem Grafen Kanitz und dem Herrn Bebel wird der unbefangene Zuschauer nicht finden können, außer daß das Kesseltreiben der sogenannten Edelsten, richtiger der Begehrlichsten der Nation vom sittlichen Standpunkt aus sehr viel widerwärtiger ist, als alle sociale Roheit und Albernheit und daß der Strohdach-Großbedürftige auf menschliche Teilnahme etwas weniger Anspruch hat, als der um seine Existenz ringende kleine Mann. – Es ist auch wahr, daß durch die eigene Schuld der liberalen Partei die schwere Situation noch weiter erschwert ist. Wo ist die Grenze zwischen rechtem Nachgeben und rechtem Beharren? Die Frage soll wenigstens am heutigen Tag und bei dieser Gelegenheit nicht erörtert werden. Gefahren bestehen. Es wird jedem unserer Parteigenossen unvergessen sein, wie die sogenannte nationalliberale Partei sich entwickelt hat. Vestigia terrent. Auch dieser war es einstmals ehrlicher und völliger Ernst mit den Tendenzen, nach denen sie sich benennt, und es ist der Weg der Gewissensbeschwichtigung, durch welche sie zu einer agrarischen Kommandite und einer gouvernementalen Pepiniere geworden ist. Es sind schwere Fragen, die hier die Freundschaften begründen oder sprengen; und wenn dann diese mit Männern durchgefochten werden sollen, die man weder entbehren noch ertragen kann, so mag auch den Klügsten und den Mutigsten wohl die Verzagtheit anwandeln.

Gewiß droht, wie dies eben Bamberger selbst in diesen Blättern kürzlich ausgeführt hat, der erreichten Einheit der Nation keine Gefahr. In den Schäden selbst ist sie gefestet. Der deutsche Partikularismus weiß den Schutzwall der Reichsverfassung wohl zu schätzen und zu nützen; die Parteien, die der wechselnde Opportunismus groß gezogen hat, die katholische, die agrarische, die socialistische wissen nicht minder, daß ihre Sonderinteressen, wenn auch miteinander sich vielfach befehdend, doch alle auf diesem Nährboden gedeihen auf Kosten der Gesamtheit. Zu besorgen ist nur, daß aus dem Aufgehen der Bismarckischen Saat, wobei natürlich das Unkraut schneller und voller wächst als das gute Korn, aus diesen Kämpfen des Hasses und des Neides Zustände sich entwickeln, in denen für die unparteiische Abwägung der Rechte überhaupt und der kollidierenden Interessen kein Träger mehr gefunden wird, daß die konstitutionelle Ordnung in dieser ihrer Ausgestaltung zum bellum omnium contra omnes hinführt und, verglichen mit der unbeschränkten Monarchie, als eine Reformation in pejus sich darstellt.

Daß die Nation aus dieser Notlage herausgelangt, ist so lange möglich, wie sie besteht. Es kann sein, daß wir einmal zu einer dauernden Regierung gelangen, welche die durch den Interessenkrieg herbeigeführte Schädigung zu erkennen die Einsicht und abzustellen die Kraft hat. Es kann auch sein, daß einer jener gewaltigen Momente wiederkehrt, wie sie auch früher schon durch unser Volk gegangen sind und dieses sich selbst befreit.

Zur Zeit sind für das eine wie für das andere die Aussichten gering. Dies Blatt nennt sich die Nation, vielleicht mit Unrecht. Die Nation wenigstens, welche jetzt der Reichstag widerspiegelt, die Nation des toten Windthorst und des lebendigen Ahlwardt ist in diesen Blättern nicht vertreten, und Ludwig Bamberger zu feiern, hat diese Nation sicher keine Neigung, und, wenn bei der in ihr obwaltenden moralisch-politischen Konfusion doch etwas der Art sich regen sollte, sicher kein Recht. Laudari a laudato viro ist ein berechtigter Stolz; der rechte Mann läßt sich nicht von jedem feiern. Und derer, die es dürfen, sind wenige. Aber diese wenigen werden mit Bamberger sagen, daß trotz alledem und alledem für Deutschland einmal die Erlösungsstunde schlagen muß, wenn nicht für uns, doch für unsere Kinder oder unsere Enkel; sie werden sich sagen, daß es nicht gleichgültig ist, das heilige Feuer des selbstlosen Patriotismus auch in engem Kreise zu wahren; und in diesem Sinn senden wir ihm, dem tapferen und gescheiten Verbündeten den Festgruß zum siebzigsten Geburtstag.



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