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Rede zur Feier des Geburtstages des Kaisers

19. März 1885. Sitzungsberichte d. K. P. Akademie d. Wissenschaften 1885 S. 215-223.

Wenn Seine Majestät unser Kaiser und König an dem Tage, zu dessen Vorfeier wir heute vereinigt sind, zurückschaut auf einen Lebenslauf von seltener Ausdehnung und fast unerreichter Herrlichkeit, so tut es dem Glanze dieses Lebenslaufes keinen Eintrag, daß der Morgen in Wolken gehüllt war und er jetzt einer der sehr wenigen ist, in welchen die Erinnerung der bangen Jahre tiefer Demütigung und drohender Vernichtung des eigenen Staates noch persönlich lebt. Wohl bleibt der Rückblick auf jene Zeit immer eine ernste aus Freude und Schmerz, aus Stolz und Beschämung gemischte Empfindung. Es kann nicht vergessen werden, daß die besten Männer und die besten Frauen, eben die, welche am meisten und am reinsten den Umschwung der Dinge gefördert hatten, ihn nicht erleben durften, daß nicht alle die Kränze tragen sollten, die sie gewonnen hatten. Es kann noch weniger vergessen werden, daß auf die Epoche der Königin Luise und Scharnhorsts diejenige gefolgt ist, in welcher unser Staat die Fridericianische Erbschaft zu verleugnen schien. Scheint es doch zu den schweren Gesetzen der Weltgeschichte zu gehören, daß Aufschwung und Rückgang miteinander abwechseln müssen. So folgte in Athen auf die gewaltige Erhebung der gesamten Nation gegen die andringende Woge der Fremdherrschaft die Epoche der inneren Spaltung und des Bürgerkrieges, in welchen die kurze Blüte hellenischer Herrlichkeit zu Grunde ging. So brach das römische Bürgertum, nachdem es der Orientalen des Occidents sich mannhaft erwehrt und die Übermacht des bürgerlichen Gemeinwillens über die Heldenkraft des einzelnen Genies glänzend erwiesen hatte, zuerst in dem erschlafften Regiment der Oligarchie, dann unter wüsten Partei- und Prätendentenkämpfen in sich selbst zusammen. So folgte auf den gewaltigen Lord Protector des Brittischen Reiches, den Eckstein, an welchem die Übermacht des katholischen Südens zerschellte, den Mann, auf dessen Taten die Weltstellung Englands noch heute ruht, die Reaktion unter den letzten beiden Stuarts, die nahe daran war die gebrochenen Ketten aufs neue zu schmieden. So folgte auf die glorreichen Jahre, in denen alle geistigen und sittlichen Kräfte des preußischen Volkes sich entfesselten und während deren unser jetziger Herrscher zum ersten Male für die Seinigen und unter ihnen stritt, jene traurige Zeit der kümmerlichen Erschlaffung, des Versagens der Kraft und des Verzagens auch der Besseren, der Verfolgung ebenderjenigen Ideen und Männer, durch welche der große Erfolg gewonnen worden war, bis dann, als Kaiser Wilhelm die Zügel ergriff, Schwert und Feder wieder die Anknüpfung fanden an achtzehnhundertfunfzehn. Wir gedenken heute in Dankbarkeit auch jener schweren Zeiten; denn sie lehren uns, daß in einer Nation, die der eigenen Kraft vertrauen darf, wie kein Erfolg vollkommen, so auch kein Rückschlag dauernd ist.

Aber wir mögen auch heute wohl weiter in die Vergangenheit zurückgreifen und in unserem gefesteten und geschlossenen Deutschen Reiche uns erinnern an die Jugendfahrten der Nation, als Sie übermütig und man möchte sagen leichtsinnig in die alternde römische Welt hineingriff und dort Königreiche gründete, die dann größtenteils nicht viel längere Dauer und nicht größere Bedeutung gehabt haben als diejenigen, welche viele Jahrhunderte später infolge der Kreuzzüge im Orient aus dem Boden sprangen. Die geschichtliche Bedeutung dieser Heerfahrten wird meistens überschätzt; aber wie in späteren Jahren man des Mutes und des Übermutes und selbst der Torheiten der Jugend nicht ungern gedenkt, so lassen wir jetzt uns gern davon erzählen, daß das schöne Toulouse, jener alte Ursitz der provençalischen Muse und heute ihre letzte Freistatt, in der großen Geschichte zuerst eine Rolle spielt als die Königsstadt eines deutschen Schwarmes, dessen Führer vor anderthalb Jahrtausenden von dort aus über den französischen Südwesten geboten und daselbst für ihre Goten wie für die Römer Recht sprachen und Hof hielten.

Wir besitzen eine aus der unmittelbaren Anschauung gegriffene Schilderung von dem Treiben an diesem Hofe, von einem vornehmen Römer herrührend, der selbst in dem Zusammenbruch der Kaiserherrschaft in der Provence eine tätige Rolle gespielt hat und in dessen Prosa und Versen neben der unvermeidlichen rhetorischen Palette die Farben der Wirklichkeit weniger als anderswo mangeln. Dieser Römer ist Gaius Sollius Apollinaris, nach der Sitte dieser Zeit gewöhnlich mit seinem Wahlnamen Sidonius genannt, heimisch in Lyon, entsprossen einem vornehmen gallischen Hause – durch drei Generationen hatten seine Vorfahren in Gallien das oberste Reichsamt verwaltet und auch er selbst hatte nach der Weise der Zeit seine Laufbahn am kaiserlichen Hofe begonnen, wahrscheinlich wie sein Vater als einer der zahlreichen tribuni et notarii, das heißt der Kabinettssekretäre mit Offiziersrang. Früh vermählt mit der Tochter eines der vornehmsten Männer Galliens, des Maecilius Eparchius Avitus, welcher bald nachher selbst auf kurze Zeit den Kaiserthron bestieg, gelangte er rasch zu den höchsten weltlichen Ehren und Ämtern, trat aber dann, etwas über vierzig Jahre alt, über in den geistlichen Stand. Seit drei Generationen gehörte seine Familie zu der Christengemeinde; wie denn der gallische Adel in der Epoche des Theodosius und seiner Söhne etwas früher noch als der italische dem alten Glauben sich abgewandt hat. In dieser Zeit am Ausgang des fünften Jahrhunderts, wo die Macht und das Ansehen des Klerus mit dem Sinken der Staatsgewalt in die Höhe gekommen war, war es nicht ungewöhnlich, daß angesehene Männer in vorgerückterem Alter die säkularen Ehren mit dem Bischofsstab vertauschten; Sidonius selbst ermahnte späterhin wohl seine gleichgestellten Freunde zu solchem Wechsel. Das alte Augustonemetum oder, wie es in dieser Zeit heißt, die Arvernerstadt, das heutige Clermont in der Auvergne, die Heimat seiner Gattin, wählte ihn zu ihrem Bischof. Es war kein Amt des Friedens, das er übernahm. König Eurich, der damalige tatkräftige Herrscher der Westgoten, strebte mächtig nach der Arrondierung seines Gebietes. Er betrachtete sich nicht mehr als römischen Feldhauptmann, sondern als unabhängigen Landesherrn, und wie Toulouse, Bordeaux, Narbonne ihm gehorchten, so erschienen ihm als die natürlichen Grenzen seiner Herrschaft die Rhone und die Loire.

Weit vom Ziele war er nicht. Damals gebot jenseit der Loire in dem gallischen Brittenland, der heutigen Bretagne, der Fürst der Britten, der noch festhielt an der Untertänigkeit gegen Rom; jenseit der Rhone der Fürst der Burgunder, der ebenfalls noch sich als römischer Feldhauptmann gezierte, obgleich er es der Stadt Vaison sehr übel nahm, daß sie Miene machte mehr dem italischen Kaiser als ihm zu gehorchen; im Norden herrschten die Franken unabhängig von Rom gleich den Goten Eurichs. Westwärts von der Loire war Clermont die einzige zu der Zeit, als Sidonius Bischof ward, noch zu dem italischen Kaiser stehende Stadt; gern, so sagt er uns, hätten die Goten selbst Septimanien, den Küstenstrich um Narbonne, hingegeben, um den Abschluß ihrer Herrschaft in der Auvergne zu gewinnen. König Eurich, erzählt Gregor von Tours, setzte den Victorius zum Statthalter über die sieben Städte, das heißt über die ehemals römische Provinz Aquitania prima, zu welcher mit sieben anderen die Arvernerstadt gehörte, und befahl ihm sich dieser noch fehlenden achten zu bemächtigen. Zahlreiche Briefe besitzen wir, welche die Leiden der Belagerung, die Drangsal durch die feindlichen Goten und die fast ebenso schwere Plage der burgundischen Verteidiger, die zerstörten Mauern, die Krankheiten, die Hungersnot wenn nicht schildern, doch andeuten; denn sowohl während der Zeit wie nachher war es nicht ohne Gefahr über solche Vorgänge zu korrespondieren, und zu publizieren. Die Führer der Verteidigung waren Ecdicius, des Sidonius Schwager, ein Sohn jenes ephemeren Kaisers Avitus, und neben ihm der Bischof der Stadt, eben unser Sidonius. Aber sie unterlagen. Ecdicius ging nach Italien, um des dortigen Schattenkaisers Nepos Hülfe, natürlich vergeblich, anzurufen. Sidonius suchte seinen Frieden zu machen; er feiert den Grafen Victorius als seinen weltlichen Schutzherrn und seinen geistlichen Sohn, ungeachtet derselbe vermutlich wie die Goten überhaupt ein arianischer Ketzer und also schlimmer war als ein Heide. Aber dies schützte ihn nicht vor der Ausweisung. So kam er in Bordeaux mit König Eurich zusammen und als vornehmer Besiegter gewissermaßen an dessen Hof, den er eingehend in einem prosaisch-poetischen Schreiben schildert. Bei dieser Schilderung gestatten Sie mir einen Augenblick verweilen zu dürfen; sie hat eine gewisse Aktualität und führt ein in die Lage der Dinge.

Der Gotenkönig ist ein viel umworbener Mann. Um das Jahr 476, wo der Brief geschrieben ward, verkehren an seinem Hofe die Germanen alle, die in Gallien hausen: der lange Burgunder, der von den Goten kürzlich besiegte Franke, der Sachse, den das Piratengewerbe bis an diese Küste führt, selbst der ferne Heruler, zu jener Zeit wahrscheinlich noch an der Ostsee heimisch, aber auch vertreten unter den Mannschaften, mit denen Odoaker ebendamals den letzten Rest des italischen Römerstaates über den Haufen warf. Die Ostgoten, die fünfundzwanzig Jahre zuvor unter dem Hunnenfürsten Attila mit nach Gallien gezogen und mit diesem auf dem Schlachtfelde von Chalons von den vereinten Römern und Westgoten überwunden worden waren, suchen jetzt, infolge ihrer Trennung von den Hunnen nach dem Tode Attilas, gegen diese die Hülfe der westlichen Stammgenossen nach. Man erkennt, daß den barbarischen Hunnen gegenüber Römer und Germanen natürliche Verbündete sind. Aber nicht bloß die Germanen finden sich ein; auch die Herrscher des Römerreichs sind vertreten. Eurich wird, so sagt der Dichter, angefleht, daß die mächtige Garonne den schwachen Tiberstrom mit ihren Lanzknechten möge verteidigen helfen; und mit diesen Bitten der Römer vereinigen sich die des Perserstaats. Wahrscheinlich bezieht sich dies auf die Sperrung der Kaukasuspässe gegen die Bulgaren, wobei Römer und Perser gleichmäßig interessiert waren und über die in diesen Jahren zwischen diesen Großmächten vielfach verhandelt ward. Die Perser forderten von dem Kaiser des Ostreichs Leo zur Besetzung dieser Pässe Unterstützung an Geld oder Mannschaften; und es ist den Verhältnissen dieser Zeit wohl angemessen, daß beide deswegen gemeinschaftlich bei König Eurich angeklopft haben. Bei dieser weitausgreifenden Schilderung darf allerdings nicht vergessen werden, daß der verbannte Bischof in seinen Versen sich beklagt zwei Monate vergeblich auf Audienz bei dem allzu beschäftigten König zu harren, während die unterjochte Welt allerseits dessen Gutfinden einhole, und daß er diese Verse zwar an einen Professor der berühmten Lehranstalt von Bordeaux adressiert, aber ohne Zweifel sie bestimmt wären dem König vor die Augen zu kommen. Selbstverständlich wurden unter diesen Umständen die enkomiastischen Farben nicht gespart und völlig so, wie es hier erscheint, werden die Fäden der Weltpolitik wohl nicht in der Hand des gotischen Volksfürsten gelegen haben. Aber immer gibt der Brief eine Ahnung von der Mächtigkeit und dem Zusammenhang des Völkergewoges, dessen Wellen damals vom Kaukasus bis zu den Pyrenäen schlugen.

Merkwürdiger noch als die germanische Hofhaltung im fremden Land ist die Stellung, welche die Germanen einnahmen gegenüber der römischen Civilisation. Sidonius ist ein rechtes Musterexemplar der vollendeten Bildung, wie diese Zeit sie kannte. Nicht als ob er ein hervorragendes Talent gewesen wäre, wie ja denn der recht gebildete Mann gerade deswegen mit recht geringem Talent auszukommen vermag; aber was damals gelehrt und gelernt ward, ist ihm in reichlichster Quantität und bester Qualität zu teil geworden. Griechisch konnte er wenigstens so viel, um die berühmten Namen aller Gattungen auf seine rhetorischen Schnüre zu ziehen und für jeden derselben einen Gemeinplatz zur Hand zu haben; die Literaturgeschichte jener Zeit überhob mehr noch als die heutige das Publikum der Unbequemlichkeit die Bücher selber zu lesen. Auch wenn sein Sohn ihm eine Terenzische Komödie vorlas, hatte er die entsprechende des Menander in der Hand und las vielleicht auch darin nach – wenigstens sagt er es. Die lateinischen Schulbücher, dieselben, die es heute noch sind, Cicero, Virgil, Horaz, Juvenal sind ihm geläufig; mit den übrigen Schriftstellern hält er es wie mit den Griechen. Er war ein vielbewunderter Poet und Stilist; wenn uns die Gedanken gering erscheinen und die Form gewunden und verdreht, oftmals in dem Grade, daß bei wörtlicher Übersetzung es schwer fällt ernsthaft zu bleiben, so hat er das mit anderen ihrer Zeit berühmten und gleich ihm aus der Mode gekommenen Mustern gemein. Aber er war nichts weniger als ein Stock, ein guter Gesellschafter, ein Meister des Ballspiels und des Würfelns; er erzählt in seiner lebendigen Schilderung des westgotischen Fürsten Theoderich, wie häufig er sich von diesem habe bei dem Würfelbecher besiegen lassen, um die gute Laune desselben für seine Anliegen zu benutzen. Auch als Bischof verleugnet er seine Lebensstellung und seine Lebensart nicht. Er verschwört zwar das Versemachen und manche andere Weltlichkeiten, und hat auch diesen Schwur mit einigen Ausnahmen gehalten; aber er faßte sein geistliches Amt in praktischem Sinne auf, so wie es in der damaligen Zeit aufgefaßt werden mußte. An einer merkwürdigen Stelle spricht er sich aus über den Gegensatz des guten Bischofs und des guten Abts, des Geistlichen und des Mönchs: der heilige Antonius und der heilige Macarius, meint er, verständen es wohl, bei dem himmlischen Richter Fürbitte für die Seelen zu tun, aber nicht, wie der Bischof es soll, für den Leib bei dem irdischen; in zahlreichen einzelnen Fällen erkennt man, wie bei dem Zusammenbruch der weltlichen Ordnung die tüchtigen Bischöfe die Rechtspflege und die Sittenzucht energisch und erfolgreich in die Hand nehmen und den Gewalthabern gegenüber die innere Ordnung und den Frieden des Landes einigermaßen aufrecht halten. Diese höhere Civilisation ist es denn auch, welche in dem nationalen Konflikt den Überwundenen sowohl als Wehr dient wie als Waffe. Von allen Schriftstellern, in denen sonst dieser Konflikt sich spiegelt, ist an vornehmer Herkunft und völliger Durchbildung keiner mit Sidonius auch nur entfernt zu vergleichen; und wie gering man vom absoluten Standpunkt aus über seine literarischen Arbeiten denken mag, nirgends verfolgt man so deutlich wie bei ihm den merkwürdigen Prozeß nicht so sehr der Germanisierung der Römer als der Romanisierung der Deutschen.

Das in Aquitanien errichtete Königtum gehorchte wohl einem germanischen Fürstengeschlecht; in der Tat trägt es mehr den Charakter einer unter einem dreisten und glücklichen Offizier selbständig gewordenen römischen Provinz als den eines auf einer verschiedenen Nationalität fußenden Reiches. Sprache und Sitte, Gesetze und Gerichtsform, Militär- und Civilverfassung wurden im wesentlichen übernommen. Im Militärwesen freilich treten die Heerhaufen, welche im römischen Reich als Bundesmannschaften, foederati neben den eigentlichen Reichstruppen und wenigstens dem Namen nach an zweiter Stelle gestanden hatten, jetzt an den ersten Platz und gelten formell als die eigentlichen Königssoldaten. In der Civilverwaltung fehlen die auf den großen Reichskörper zugeschnittenen Rangklassen und die Spitzen der Beamtenhierarchie; aber dem Wesen nach wurde die sehr ausgebildete Bureaukratie, also nach damaligen Verhältnissen das Wesentliche des Regiments, auf die neuen Königreiche übertragen. Deutlich tritt uns dies in einzelnen Persönlichkeiten entgegen, zum Beispiel in Leo von Narbonne, nächst König Eurich dem einflußreichsten Mann des damaligen Gotenreichs: er war ein vornehmer Römer, ein Nachkomme des berühmten Redners und Konsulars der Antoninischen Zeit Marcus Fronto, seiner Stellung nach Advokat und neben seiner Rechtskenntnis gefeiert als eleganter Poet. Dieser verwaltete bei König Eurich nicht dem Namen, aber der Sache nach das Amt des Chefs des Civilkabinetts, nach römischem Ausdruck des quaestor sacri Palatii; die Erlasse des germanischen Fürsten, sowie die von demselben öffentlich zu haltenden Reden wurden von diesem römischen Literaten konzipiert, auch die diplomatischen Verhandlungen großenteils durch ihn geführt, zum Beispiel die sehr wichtige, welche nach der Wegnahme von Clermont mit dem römischen Hofe stattfand. Der Verbindung mit ihm, welche wieder auf des berühmten Bischofs literarischer Geltung beruht, verdankt Sidonius die rücksichtsvolle Behandlung, welche ihm nach der Unterwerfung der Auvergne von den westgotischen Siegern zu teil ward. Er wußte es wohl, worauf er sich stützen durfte. Einem der Professoren der Rhetorik, die unter westgotischer Herrschaft lehrten, schreibt er, daß jetzt, nachdem die Beamtenhierarchie gefallen sei, welche früher die Stände geschieden, das heißt die formellen nach den Ämtern abgegrenzten Rangklassen der späteren Kaiserzeit, die gute Herkunft allein noch an der Bildung erkannt werden könne und inmitten der siegreichen, aber unrömischen, nämlich ungebildeten Fremden die Schule allein den alten Adel noch auszeichne. Es war dies vollkommen richtig, auch im Sinne der Germanen. Wenn er seinem keineswegs bloß römischen Publikum gegenüber sich aufhält über die rohen Burgunder, ihre Mahlzeiten von Knoblauch und Zwiebeln, ihre von gar nicht parfümiertem Fett triefenden Locken und ihre barbarische Länge; wenn er versichert, daß er zu viel deutsche Worte hören müsse, um lateinische Hochzeitsgedichte machen zu können, so erkennt man eben hier recht deutlich, daß dies auch für die vornehmen Westgoten eine Höflichkeit war und Fürsten und Adlige hier die römische Bildung wenn nicht erwarben, doch wenigstens umwarben. Selbst im östlichen und nördlichen Gallien, wo infolge der bei weitem geringeren Intensität der römischen Civilisation das germanische Wesen mehr den nationalen Stempel bewahrte, war es im Grunde nicht anders. In diesen Gegenden lebte ein anderer Landsmann und Freund des Sidonius und gleich ihm dem höchsten gallischen Provinzialadel angehörig, Syagrius aus Lyon; dieser verstand, wie Sidonius sagt, so gut deutsch wie die Germanen selbst und stand bei ihnen in hohem Ansehen, weil er ihnen die Briefe verdolmetschte, die an sie gelangten und ihnen bei der Abfassung ihrer Gesetze behülflich war, so daß er, heißt es, beinahe ein burgundischer Solon genannt werden könne. Hier sieht man, aus welchen Kreisen und Richtungen die lateinisch abgefaßten Volksrechte der Franken und der übrigen germanischen Stämme hervorgegangen sind, und fängt an zu begreifen, warum die letzten Sprossen der sinkenden römischen Civilisation doch noch vermochten die Keime der neuen Welt zu umranken und auch die eigentlich germanische Entwickelung durch ein halbes Jahrtausend und mehr in ein barbarisch lateinisches Gewand zu hüllen.

Die sogenannten germanischen Staaten des Südens, in Südfrankreich, Spanien, Italien, Afrika sind in der Tat wesentlich nichts als Trümmer des zusammenbrechenden römischen Reiches. Sowie die Centralgewalt in unfähige Hände gerät, stellt die gleiche Erscheinung sich ein, daß die Massen auseinanderfallen. Die Aufgabe des römischen Weltherrschers durfte wohl verglichen werden mit dem Helios der Mythe, der den Sonnenwagen lenkt; so wie Phaethon die Zügel faßt, bricht das Gefährte zusammen. Unter Gallienus und unter Honorius sind es römische Feldherren, die die Sonderherrschaft im Westen aufrichten, nicht so sehr aus Unabhängigkeitsdrang als im Drange der harten Not, welche den Schutz gegen die Barbaren nicht mehr bei dem Reiche findet und deshalb versucht, sich auf die eigenen Füße zu stellen und sich selber zu schützen. Später, wo die fremden Offiziere und die ausländischen Truppen eine größere Rolle im römischen Heere spielen, vollzieht sich die gleiche Bewegung unter deutschen Führern und in der Form der Bildung deutscher Königreiche; im Westen aber unterscheiden diese sich wenig von ihren römischen Vorgängern. Wohl gehören die gewaltigen Recken, die weisen Ordner dieser Staaten auch uns an als unsere Altvordern; aber wir gedenken ihrer wie verschlagener Auszügler in die Fremde, nicht unter den Gründern unsers Volkstums. Sie haben das nicht gewollt und konnten es nicht wollen. Wie der junge Strom nach allen Seiten überschäumt und seine Sprühe weithin wirft, so sind damals germanische Splitter bis an und über das Mittelmeer geflogen; aber gekeimt haben sie nirgends, am wenigsten heimische Saat ausgesät. Der Gedanke, ein Weltreich zu gründen, ist nicht germanisch oder, soweit er germanisch geworden ist, von dem römischen Kaiserstaat übernommen. Unser Volk hat dergleichen Pläne nie wirklich verfolgt und je klarer wir über unser Wesen und das Wesen der Dinge geworden sind, desto entschiedener weisen wir solche Ziele ab. Träume darf man sie freilich nicht nennen. Wenn alle Friedenskongresse nur die Zahl der schönen Worte vermehren werden, so ist das Weltreich allerdings der Weltfriede. Wenn man, wie die Römer es taten, von dem Recht des Stärkeren die letzten Konsequenzen zieht und die Überwindung des Gegners zur Vernichtung steigert, so wird diesem Wege zum ewigen Frieden, wie man auch sonst über ihn denken mag, die praktische Durchführbarkeit nicht abgesprochen werden können. Die Geschichte der römischen Kaiserzeit gibt für dieselbe den tatsächlichen Beleg, allerdings aber auch die Kritik; denn wenn also eine Nation bereichert wird, so vergeht eben die göttliche Welt mit ihrer glänzenden Mannigfaltigkeit und wohl tritt ein Frieden ein, aber der Frieden des Grabes. Wer oberflächlich die Geschichte und die geschichtlichen Karten betrachtet, kann auf den Gedanken kommen, als ob ähnliche Ideen bei Herrschern wie Eurich und Theoderich gewaltet hätten; bei schärferem Zusehen verschwindet der Schein. Weit eher könnte unsere heutige Civilisation, die allgemeine Gleichartigkeit der Kultur im europäischen Staatengebiet und die enge Verschlingung aller materiellen Interessen die Frage hervorrufen, ob nicht die Dinge sich hinneigen zu einer Analogie jenes lateinisch-griechischen Staatenkomplexes, mit welchem die antike Kultur abschloß. An das Schicksal gestellt ist dies eine Frage ohne Antwort; für die Gegenwart aber ist die Antwort leicht. Wir wissen es, daß unsere ganze Nation durchdrungen ist von der Empfindung des ungeheuren Unglücks, welches über die Welt kommen würde, wenn also durch Ströme von Blut dieselbe zur einheitlichen Öde gemacht würde. Wir wissen es, daß unsere Staatsmänner und an ihrer Spitze der hohe Herr, dessen Feier wir heute begehen, das Heil der Nation in der Beschränkung auf die eigenen Grenzen erkennen. Wir wissen es alle und danken es ihm alle, daß unser Kaiser und Herr von all seinen Siegen nichts höher schätzt, als daß sie ihm das Recht und die Macht gaben der Hort des Weltfriedens zu heißen und zu sein.



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