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Universitätsreden.


Rede bei Antritt des Rektorates

15. Oktober 1874. Gedruckt nach einem von Herrn Geheimrat Vahlen freundlichst zur Verfügung gestellten Exemplar. Das in der Buchdruckerei der Königlichen Akademie der Wissenschaften (G. Vogt) zu Berlin auf 12 Seiten 4° wohl als Manuskript gedruckte Exemplar trägt keinen Titel und keine Jahresangabe.

Es ist wieder ein Jahr vorübergegangen in dem Kreislauf der ehrwürdigen und einflußreichen Anstalt, der anzugehören unser gemeinsamer Stolz und unser gemeinsames Band ist. Wieder tritt ein anderer Mann an diese Stelle, um dasselbe zu sagen, was die meisten von Ihnen schon oft vernommen haben und was doch immer wieder gesagt werden darf und kann und soll. Wie der Bergmann, jedesmal wenn er in den Schacht einfährt, sein Glückauf spricht, und es darum nicht heute unterläßt, weil er es gestern auch getan hat, so sagt jeder von uns, der auf diesen Platz berufen wird, das akademische Glückauf für das beginnende Jahr im gleichen Sinn, wenn auch ein jeder in anderer Sprache, und warum nicht auch ich in der meinen? Glückauf also für Lehrer und für Lernende! Auch wir brauchen das Glück, nicht weniger als der Bergmann und der Winzer; auch wir haben unsere guten Jahre, die Jahre, wo ein besonderer Segen auf dem Unterricht ruht und der edle Stein, den wir bilden, der edle Wein, den wir pflegen, sichtlich und glücklich gedeiht, so daß Lehrer und Lernende sich noch in später Zeit an solche rege Epoche mit besonderer Freude erinnern. Möge das Jahr, das wir beginnen, für unsere Universität ein solches Segensjahr, ein gutes und glückliches werden!

Die Gefährdung, die von vielen Seiten her der deutschen Wissenschaft überhaupt und insonderheit dem Universitätsstudium droht, ist wohl dazu angetan den Wünschen für das Glück unserer Anstalt einen ernsten Stempel aufzudrücken.

Wir alle sind stolz auf die großen Erfolge, die unsere Nation bei dem Denken auch der Jüngeren unter uns erreicht hat; wir sind stolz darauf, daß sie die Stelle der immer geführten und oft angeführten Großmacht mit der der führenden vertauscht hat; wir wissen auch wohl, und sind vor allem stolz darauf, daß dieser ungeheure Umschwung die rechten Männer gefunden hat, die ihn ins Werk setzten, aber daß er erstrebt und verdient und möglich geworden ist durch die unablässige so geniale wie resignierte Arbeit dreier Generationen unseres Volkes. Wie deutlich dies heute empfunden wird, zeigt vielleicht nichts so bestimmt wie die Verschiebung der Auffassung des preußischen Regiments während der Epoche von den Freiheitskriegen bis auf die Gegenwart. Wohl die meisten meiner Altersgenossen, und gar manche jüngere, sind aufgewachsen in jener Anschauung, daß Preußen in dieser Epoche in politischer Atonie und Lethargie immer tiefer verkommen sei und eine Entwickelung durchgemacht habe, die beginnend mit der Entlassung Wilhelm von Humboldts und Boyens naturgemäß habe endigen müssen mit der Schlacht bei Bronzell. Nicht bloß die Aufschließung der Archive, sondern vor allem das Zutagetreten der letzten Ergebnisse jenes Regiments hat es bewirkt, daß heutzutage diese Auffassung fast in ihr Gegenteil umgeschlagen ist, daß man sich wieder erinnert an die Ordnung des Finanzsystems und die Wehrordnung, an die Schöpfung des Zollvereins, und daß den Männern der lange schuldig gebliebene Dank abgetragen wird, welche für die großen Feldherrn und Staatsmänner unserer Zeit den Boden geschaffen haben, auf dem sie ihre Erfolge erringen konnten. Erst die Erfolge Hannibals haben gelehrt, was Hasdrubal für seine Nation getan hat. Es beschränkt unsere Dankbarkeit gegen die lebenden Führer nicht, daß sie uns erscheinen als die rechten Schnitter hinter den rechten Säemännern; aber es hebt unseren Stolz, daß wir unseren Erfolg nicht zwei kurzen Kriegen, nicht wenigen großen Männern allein verdanken, sondern daß er in langer und harter Arbeit errungen worden ist, zum großen Teil von solchen, die es wohl wußten, daß sie Kanaan nur von ferne schauen würden. Was der Zufall gibt, kann er auch wieder nehmen; aber wir meinen das verdient zu haben, was wir jetzt sind. Wenn dem aber so ist, werden wir es auch behaupten, es sei denn, daß die nachfolgenden Geschlechter sich das Recht vergeben sollten unseren Platz einzunehmen. Es ist das Ihre Sache, meine Herren Kommilitonen. Sie erben was unsere Generation und die unserer Väter und Großväter geschaffen haben; aber solche Erbschaft kann nur der Erbe antreten, der weiter schafft und das Erbe ebenso mehrt, wie wir es gemehrt haben. Es ist mir nicht bange, daß die deutsche Jugend aus der Art schlägt.

Freilich also sind wir stolz darauf Deutsche zu sein, und wir haben dessen auch kein Hehl. Unter allen Prahlereien ist keine leerer und falscher als die Prahlerei mit deutscher Bescheidenheit. Wir sind durchaus nicht bescheiden, und wir wollen es weder sein noch also heißen. Im Gegenteil, wir wollen fortfahren in Kunst und Wissenschaft, in Staat und Kirche, in allem Leben und Streben durchaus und überall nach dem Höchsten, und nach allem Höchsten zugleich zu greifen. Es gibt keinen Kranz, der für uns zu glänzend oder zu unscheinbar wäre, zu hoch oder zu niedrig hinge; wir finden es nur in der Ordnung, daß unsere Diplomaten wie unsere Soldaten, unsere Physiologen wie unsere Matrosen überall in erster Reihe stehen; und wo wir in der zweiten sind, wie zum Beispiel in den meisten Zweigen der Kunstindustrie, wird dies von der ganzen Nation als ein Vorwurf, als ein Makel auf ihrem Schilde empfunden.

Aber wenn wir uns auch bescheiden keinesweges bescheiden zu sein, so sind wir darum nicht blind. Wir wissen es wohl und täuschen uns darüber nicht, daß nicht bloß nach dem Großen und Schweren, das gewonnen ist, noch ebenso Großes und ebenso Schweres zu gewinnen bleibt, sondern daß sogar von dem schon Gewonnenen durch die Erfolge selbst nicht weniges in Frage gestellt wird und den neuen Verhältnissen gemäß gesteigert und gleichsam wiedererobert werden muß. In dieser Hinsicht haben unsere Erfolge uns nicht übermütig gemacht. Man spricht wohl von einem Siegesrausch; aber er ist wohl ein Privilegium der romanischen Nationen, die es ja allerdings fertig bringen, in Ermangelung von Siegen und Siegern die Anniversarien der Niederlagen und die glorreichen Besiegten mit solchem Rausche zu feiern. Die Deutschen haben zu dieser Art des Rausches, wie es scheint, kein Talent, eher zu dem Gegenteil. Wenn meine Wahrnehmung mich nicht täuscht, so ist eben durch unsere Erfolge bei allen ernsthaften Männern das Gefühl dessen, was uns noch fehlt, zu einer schmerzlichen Deutlichkeit, zu einem peinlichen Druck gesteigert, die man in dem früheren beschränkten Verhältnisse nicht kannte. Wir wünschen nichts weniger als auf unsern Lorbeeren auszuruhen; auf Lorbeeren ruht es sich schlecht. So weit und nun noch weiter! das ist die Losung der Zukunft: den gestalteten Staat so ausgestalten, daß deutscher Handel und deutsches Gewerbe, deutsche Kunst und deutsche Wissenschaft, deutsche Gesellschaft und deutsches Leben der Machtstellung der Nation ebenbürtig bleibe oder ebenbürtig werde.

Das ist denn auch die Losung der deutschen Gelehrten, und insbesondere der Universitätslehrer. Die deutsche Forschung und in noch unmittelbarerem Eingreifen in das praktische Leben der akademische Unterricht hat bei dem Fundamentalbau unserer Nation in wesentlichster Weise mitgewirkt; Wilhelm von Humboldts Gründung der Berliner Universität hat ihren Platz in der Geschichte gefunden neben Scharnhorsts Wehrsystem und dem Aufbau des Zollvereins. Auch der deutsche Gelehrte darf sich dessen rühmen, was in der schweren Zeit des Werdens, die jetzt hinter uns liegt, die Wissenschaft dem Volke geleistet hat; denn die Leistung jedes einzelnen von uns ist, verglichen mit der Gesamtheit, so verschwindend klein, daß er dieser gegenüber steht wie der Soldat gegenüber der Schlacht, in der er mitgefochten hat. Das eben ist das Eigentümliche und das Bedeutende unserer heutigen wissenschaftlichen Stellung, daß sie sich nicht, wie in der Epoche zum Beispiel von Leibniz, an einen einzelnen großen Namen knüpft, sondern vielmehr die deutsche Forschung sich eines jeden Wissenschaftskreises in hervorragender Weise bemächtigt hat. Mathematik und Physiologie, Geschichte der alten wie der neuen Kunst, die pragmatischen Geschichts- wie die pragmatischen Sprachstudien – die deutsche Forschung durchdringt alle Zweige des gewaltigen Baumes und gar manchen der frischesten und vielverheißendsten Äste hat sie zuerst hervorgetrieben. Lange bevor die deutschen Waffen auf dem Schlachtfeld den Sieg gewannen, hat die deutsche Forschung auf ihrem Gebiet die gleiche Anerkennung sich erobert und die Nachbarn gezwungen unsere strenge, aber unentbehrlich gewordene Sprache widerwillig zu lernen. Der deutsche Gelehrte hat nicht zu wünschen, daß das werde, was nicht ist, sondern daß das bleibe, was ist. Wie jenem römischen Censor das Gemeinwesen so glücklich und so gesegnet erschien, daß er es nicht ferner wagte die Götter um dessen Mehrung anzurufen und er nur betete, daß sie den Staat erhalten möchten, wie er sei, so mögen wir jetzt sagen, daß unsere Wünsche sich darauf beschränken der deutschen Forschung ihren jetzigen Stand in der Wissenschaft überhaupt und den deutschen Universitäten ihre jetzige Stellung in dem Leben der Nation auch ferner erhalten zu sehen.

Aber was die Kraft gewann, kann die Schwäche nicht behaupten. Wenn die Generation, der Sie angehören, meine Herren Kommilitonen, die Sie berufen sind uns ablösend dereinst an dieser Stelle zu stehen, wenn diese Generation nicht die gleiche Energie einsetzt festzuhalten was wir besitzen, wie diejenige war, die diesen Besitz geschaffen hat, so geht Forschung und Lehre abwärts. Stillstand gibt es überhaupt nicht und am wenigsten auf unseren Gebieten; wer nicht vorwärts geht, bleibt zurück und geht also zurück. Aber Sie werden es schwerer haben als wir es hatten; denn die privilegierte Stellung, die lange Zeit die gelehrte Forschung im Leben der Nation eingenommen hat, ist zu Ende, und was die Universitäten in der kaiserlosen, der schrecklichen Zeit gewesen sind, die letzte Zufluchtsstätte der allgemeinen deutschen Wirksamkeit und man möchte fast hinzufügen, die letzte Zufluchtsstätte der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, das können und dürfen sie nicht ferner sein unter dem glücklich begonnenen Regiment der neuen deutschen Kaiser.

Es gibt eine preußische Provinz, welche im Unglück mannhaft den Vorkampf geführt und sich damals die Achtung der ganzen Nation erworben hat, und welche jetzt, nachdem das erreicht ist, wofür sie Gut und Blut hingegeben hat, in träger Verdrießlichkeit, in kümmerlicher Krittelei, in dem Verschließen gegen den lauten Jubel, gegen die freudige Hoffnung des gesamten Volkes eine peinliche Ausnahmestellung einnimmt, ja sogar dem gemeinen Feind alles edlen Menschentums, dem Evangelium der notwendigen Abschaffung der Civilisation, der Oligarchie des Pöbels eine gefährliche Angriffstelle gewährt. Der deutsche Gelehrte und, was ja ziemlich damit zusammenfällt, vor allem der deutsche Professor hat sich an diesen Zuständen eine Warnung zu nehmen. Auch wir haben den Vorkampf mit Ehre geführt, und was das vielverhöhnte unpraktische Professorenparlament gewollt hat, das einige Deutschland mit der preußischen Spitze, das hat es nicht umsonst gewollt. Aber freilich, so wie man damals wollte, ist es denn doch keineswegs gekommen; und die privilegierte literarisch-politische Stellung, die den Universitäten einst zukam, war mit den Mißständen des früheren Systems so eng verwachsen, daß sie jetzt unvermeidlich aufhört. Auch wir haben Veranlassung genug zu verdrießlicher Auffassung der Dinge, zum ärgerlichen Beiseitetreten, in der Tat auch guten Grund zu ernsten Klagen und zu ernsteren Besorgnissen.

Die Stellung insbesondere der kleineren, überhaupt aber aller Universitäten ist schwer gefährdet, und es wird die ganze Weisheit unseres Regiments erfordern, um die unvermeidlichen Modifikationen des Universitätswesens durchzuführen, ohne dasselbe in seinen lebensfähigen Teilen zu beschädigen. Immer schwieriger wird es die gemeine Grundlage vornehmer Bildung festzuhalten, die der eigentliche Kern und Stamm unserer Anstalten ist. Mit der wachsenden Mannigfaltigkeit der Lebenstätigkeit und dem fröhlichen Aufblühen auch derjenigen Zweige, die der akademischen Bildung ferner stehen, wenden zahlreiche lernende wie lehrende Kräfte sich von den Universitäten ab, die unter den früheren Verhältnissen notwendig die unseren geworden sein würden. Der Begriff der geistigen Bildung, die Erziehung des Menschen zu reiner und voller Menschlichkeit vergröbert sich zusehends und setzt sich in immer steigendem Maße dem Publikum in die Vorstellung um, daß es ankomme auf die Erwerbung praktisch nützlicher Fertigkeiten, auf die möglichst frühe Abrichtung zu irgend einem sogenannten Beruf. Die Verwaltung gibt diesem unrichtigen und schädlichen Begehren mehr nach als billig; die specialen Vorschulen gewinnen übermäßigen Raum und in den für das akademische Studium bestimmten Vorbildungsanstalten wird durch die Massenhaftigkeit des Lehrstoffs die Möglichkeit des rechten freien liberalen Lernens mehr und mehr erdrückt. Den Universitäten sucht man in ähnlicher Weise zu Hülfe zu kommen durch stetige Erstreckung des Lehrstoffs und vergißt dabei immer mehr, daß die Universität, wie das Gymnasium, in der Hauptsache eine propädeutische Anstalt ist und eine Menge von Gegenständen der Forschung notwendigerweise dem Selbststudium überlassen bleiben muß.

Aber zum großen, vielleicht zum größten Teil liegt die Gefahr für die Universitäten nicht in den Umständen und den Personen, die sie regieren, sondern in den Universitäten selbst, in dem falschen Wege des Lehrens und des Lernens, vor allem wieder in dem verhängnisvollen Vergessen des propädeutischen Charakters der Universitätsbildung. Es gilt dies, wie ich meine, für die meisten Zweige der Wissenschaft; aber es käme mir wie eine Anmaßung vor, wenn ich im allgemeinen darüber reden wollte. Gestatten Sie mir nur für meinen Arbeitskreis, die Geschichtswissenschaft auszuführen, was ich mit diesem Tadel meine.

Die Geschichtskunde gehört zu den Gebieten der Wissenschaft, die nicht unmittelbar durch Lehren und Lernen erworben werden können. Sie ist dafür teils zu leicht, teils zu schwer.

Die Elemente der Geschichtskunde können nicht gelernt werden, weil jeder sie ohnehin besitzt. Die Geschichte ist ja nichts anderes als die deutliche Erkenntnis tatsächlicher Vorgänge, also zusammengesetzt teils aus der Ermittelung und der Sichtung der darüber vorliegenden Zeugnisse, teils aus der Zusammenknüpfung derselben nach der Kenntnis der einwirkenden Persönlichkeiten und der bestehenden Verhältnisse zu einer Ursache und Wirkung darlegenden Erzählung. Jenes nennen wir historische Quellenforschung, dieses pragmatische Geschichtschreibung. Aber diese Tätigkeit treiben nicht wir Historiker allein, sondern jeder von Ihnen, meine Herren; jeder denkende Mensch überhaupt ist ein solcher Quellenforscher und Pragmatiker. Sie können keinen Vorgang, der unter Ihren Augen sich vollzieht, auffassen, ohne beides anzuwenden; jeder Geschäftsmann, der eine verwickelte Sache behandelt, jeder Rechtsverständige, der einen Rechtsfall erwägt, ist Quellenforscher und Pragmatiker. Die Elemente der historischen Wissenschaft sind, man möchte sagen, noch einfacher und noch selbstverständlicher als die der Sprachwissenschaft und der Mathematik; und eben darum weder lehrbar noch lehrhaft.

Nun kann ja freilich in gewisser Hinsicht von jeder Wissenschaft gesagt werden, daß sie von dem ausgeht, was sich von selbst versteht. Aber darin unterscheidet sich die Geschichtsforschung von ihren Schwestern, daß sie ihre Elemente zu eigentlich theoretischer Entwickelung zu bringen nicht vermag. Wo die Geistesfähigkeit, auf der sie beruht, der richtige Blick, wie man sie treffend bezeichnet, überhaupt vorhanden ist, kann sie ohne Zweifel durch den weiteren Bildungsprozeß wesentlich gesteigert werden, aber nicht eigentlich durch theoretische Lehre, sondern nur durch praktische Übung. Die richtige Schätzung der vorliegenden Zeugnisse, die rechte Verknüpfung des scheinbar Unzusammenhängenden oder Sichwidersprechenden zur tatsächlichen Folge treten überall in so unendlicher Einfachheit der Prinzipien und so unendlicher Mannigfaltigkeit der Anwendung auf, daß jede Theorie entweder trivial ausfallen müßte oder transcendental. Daß Zeugen vom Hörensagen nur so viel gelten, wie der Gewährsmann des Hörenden gilt, ist so ziemlich der einzige Lehrsatz, den die Quellenforschung aufzuweisen hat; und die divinatorische Sicherheit des Urteils, die den eminenten Historiker bezeichnet, ist in neun Fällen unter zehn nichts als eine unbewußte Anwendung dieses Lehrsatzes auf komplizierte Probleme. Der Schlag aber, der tausend Verbindungen schlägt, der Blick in die Individualität der Menschen und der Völker spotten in ihrer hohen Genialität alles Lehrens und Lernens. Der Geschichtschreiber gehört vielleicht mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten.

Darum aber ist es ein Irrtum, wenn dem Geschichtsstudium selbst, der quellenmäßigen pragmatischen Forschung auf der Universität ein anderer Platz eingeräumt wird als ein sekundärer. Ohne Zweifel ist für den künftigen Historiker die schon in früher Zeit wohlgeleitete Übung auf seinem Forschungsgebiet von wesentlichem Nutzen; die Übung allein macht freilich den Meister nicht, aber noch niemand ist anders Meister geworden als nach langer und harter Übung. Aber in der kurzen Universitätszeit ist für diese Übung kein Raum; und es ist eine gefährliche und schädliche Illusion, wenn der Professor der Geschichte meint in der Weise Historiker bilden zu können, wie Philologen oder Mathematiker allerdings auf der Universität ausgebildet werden können. Mit mehr Recht als von diesen kann man es von dem Historiker sagen, daß er nicht gebildet wird, sondern geboren, nicht erzogen wird, sondern sich erzieht.

Handelte es sich nun hier bloß um die größere oder geringere Wertschätzung des historischen Studiums auf der Universität, so wäre eine Differenz darüber am Ende ziemlich gleichgültig. Aber der übertriebene Wert, der auf das direkte historische Studium gelegt wird, hat insofern sehr praktische und sehr schädliche Folgen, als darüber die wirklich für die Geschichte nötige Vorbereitung sehr häufig verabsäumt und damit eine gewisse specifisch historische Pseudovorbildung großgezogen wird, die an der wirklichen Historie wie ein Krebsschaden nagt.

Denn freilich gibt es eine dem Historiker unentbehrliche Propädeusis; nur ist dies nicht die unmittelbare der Historie selbst, sondern die mittelbare, die Kenntnis der Sprache und die Kenntnis des Rechts der Epoche. Es kann töricht scheinen dies besonders zu demonstrieren; aber überflüssig ist es leider nicht. Es gibt selbst unter den Gelehrten historische Fanatiker, welche meinen mit der sogenannten methodischen Behandlung der Quellen auskommen zu können, auch wenn man die Sprache der Quellen mangelhaft oder gar nicht beherrscht. Man hört wohl die Theorie aufstellen, daß das genaue Verständnis der Quellen eine specifisch philologische Aufgabe sei und für den Historiker es genüge im allgemeinen sich durchfinden zu können; und diese Theorie ist der Praxis der Trägheit nur allzu willkommen. Das letzte Resultat dieser Richtung sind jene monströsen Historien der Juden oder der Assyrier, geschrieben von solchen, die mit großer Unbefangenheit sich dazu bekennen die betreffenden Sprachen nicht zu verstehen; und wie zahlreich auch auf dem Gebiet der klassischen wie der mittelalterlichen Geschichte diejenigen Historiker sind, die weder Griechisch noch Lateinisch noch Deutsch wirklich verstehen, ist leider den Wissenden bekannt genug. Das Übelste hierbei sind nicht die einzelnen Mißverständnisse, die daraus entstehen, sondern der Mangel an geistiger Durchdringung des Gegenstandes. Die Sprache ist immer eines jeden Volkes größtes, dauerndstes, mannigfaltigstes Monument; um nur Rom zu nennen, wer dem Ennius und dem Horaz, dem Petronius und dem Papinian nicht nachzuempfinden vermag, der wird ewig von Roms Geschicken reden, wie der Blinde von der Farbe, mag seine pragmatische Quellenforschung auch noch so korrekt sein.

Ähnlich verhält es sich mit dem Studium des Rechts, wobei ich allerdings nicht zunächst die eigentliche Jurisprudenz meine, sondern die Kenntnis des öffentlichen Rechts, der Verfassung des betreffenden Staats, die freilich wieder durchaus untrennbar ist von der Kenntnis des Privatrechts desselben Volkes. Es bedarf der Auseinandersetzung darüber nicht, daß diese Verfassung und ihre Wandelungen eben die Geschichte selber sind, und natürlich kann kein Historiker von ihr eigentlich absehen. Aber es gibt zwei wesentlich verschiedene Arten dieses Studium aufzunehmen: man kann entweder die Verfassung in ihrer Gesamtheit als ein mehr oder minder bleibendes System studieren oder die einzelne Frage, wie sie eben konkret in den Pragmatismus eingreift. Ersteres sollte geschehen, und letzteres pflegt zu geschehen. Wie viele von denen, die von Archonten und Strategen, von Konsuln und Prätoren erzählen, haben jemals diese Magistraturen in der Gesamtheit ihrer Rechtsstellung ernstlich erwogen? wie viele, die über Bischöfe und Kurfürsten ausführlich handeln, haben das römisch-kanonische und das deutsche Reichsrecht für diese Institutionen lebendig vor Augen? Und doch darf der pragmatischen Geschichtserzählung nur derjenige sich unterfangen, der von diesen ihren wichtigsten Faktoren eine deutliche Anschauung hat. Dieselbe Oberflächlichkeit, wie sie auf dem Gebiet der Sprachforschung die Pseudohistorie charakterisiert, zeigt sich auch auf dem Gebiet des Staatsrechts; nur zu oft redet man auch hier von dem, was man nicht, oder, was schlimmer ist, was man nur halb versteht in flacher Wiederholung undeutlicher Überlieferung.

Ich will es Ihnen nur bekennen, meine Herren: wenn ich auf Ihren Papieren den Studenten der Geschichte finde, so wird mir bange. Es kann dies ja freilich heißen, daß dieser junge Mann entschlossen ist vorzugsweise für ein gewisses Gebiet der historischen Forschung sich die nötigen Vorkenntnisse der Sprache und der Staatseinrichtungen anzueignen; und ich weiß auch, daß bei nicht wenigen von Ihnen es dies heißt. Aber es kann auch heißen, daß man meint diese Dinge so ziemlich entbehren zu können, im Geschichtsstudium eine Zuflucht zu finden vor den Unbequemlichkeiten der strengen Philologie, auszukommen mit der methodischen Quellenforschung und dem methodischen Pragmatismus. Wo es dies heißt, da läßt die Nemesis nicht lange auf sich warten. Die Quellenforschung wird zu jenem handwerksmäßigen Zerzupfen des Materials, das höchstens Geduld erfordert – und nicht die geniale Geduld des das ferne Ziel vorahnenden Forschers, sondern die banausische Geduld der groben Arbeit. Der Pragmatismus wird entweder Kleinkrämerei oder Schwindel. Der Mangel der echten Propädeusis rächt sich dadurch, daß die falsche entweder platt wird oder phantastisch oder auch beides zugleich, und in allen Fällen der historische Geist entweicht.

Nehmen Sie, meine lieben jungen Kollegen von der Historie, sich ein Beispiel an der Rechtswissenschaft. Die Aufgabe des praktischen Juristen ist in wesentlichen Punkten derjenigen des Historikers ähnlich; aber nie ist es jemand in den Sinn gekommen die Aneignung der großen Kunst des juristischen Pragmatismus in erster Reihe von der Universitätszeit zu erwarten. Dazu, den einzelnen Rechtsfall richtig zu erkennen, kann die Universität mehr anleiten als es unmittelbar lehren; und so sollte auch der Historiker auf der Universität sich für seine künftige Tätigkeit mehr mittelbar als unmittelbar vorbereiten. Wer mit eindringender Kenntnis der griechischen, römischen, deutschen Sprache und der Staatseinrichtungen dieser Völker die Universität verläßt, ist zum Historiker vorgebildet; wer diese Kenntnis nicht hat, ist es nicht. Wenn Sie nach diesem trachten, was not ist, so wird Ihnen dann Quellenforschung und pragmatische Darstellung so gewiß von selber zufallen, wie die fruchtbare Wolke den Regen niedersendet. Und wenn Sie dieses nicht sich aneignen, so pflücken Sie die Frucht, die fault ehe man sie bricht. Sie werden durch Leistungen, welche eigentlich keine sind, nur die schon zu lange Reihe derjenigen vermehren, welche meinten die Historie als ein Handwerk lernen zu können und welche später zu ihrem Schrecken erfahren, daß sie eine Kunst ist.

Ich könnte fortfahren mit Klagen und mit Tadel. Aber es ziemt sich nicht für diese Stelle und für diesen Tag die schwarzen Wolken zu zählen und zu beschreiben, die über der Zukunft der deutschen Universitäten schweben. Sie sollen und sie werden uns nicht beirren, weder in unserem Anteil an der allgemeinen Freude an dem Erreichten, noch in unserem guten Mut für die Zukunft. Die deutsche Jugend wird nicht aus der Art schlagen; sie wird dereinst, auch unter erschwerten Bedingungen, das Werk weiterführen, das wir ihr übergeben, und schon jetzt zu dieser Weiterführung sich vorbereiten. Sie haben dazu, was Sie vor allem brauchen: die volle Freiheit des Lernens. Kein formales Gesetz schreibt Ihnen vor, wie Sie Ihre akademischen Jahre zu benutzen haben; keine Zwischenprüfung fragt nach, ob diese Benutzung überhaupt und in welcher Weise sie stattgefunden hat. Kein Volk in der Welt setzt auf seine Jugend das gleiche Vertrauen, wie es das unsrige tut; und die akademische Jugend hat dies Vertrauen bis jetzt gerechtfertigt. Gehen Sie auch ferner Ihre eigenen Wege – und wenn der Weg oftmals in die Büsche leitet und man wohl denkt, daß es ein Irrweg sei, öfter als man zu hoffen wagen durfte, hat sich gezeigt, daß viele Wege zum gleichen und rechten Ziel führen können. Bei jedem rechten Menschen von Eigenart ist der eigene Weg für ihn der beste; und jedem von Ihnen steht er offen.

So lassen Sie uns denn, meine Herren, die gemeinschaftliche Arbeit lehrend wie lernend beginnen, in vollem Bewußtsein der Schwierigkeit der Aufgabe, und ebendarum mit dem vollen und ganzen Entschluß ihrer Herr zu werden. Wo die Gefahr ist, da ist die Ehre. Es gibt bequemere Wege ins Leben als den, der durch unsere Hörsäle führt; darum eben gehen diesen Weg die Besten. Die Matrikel des deutschen Studenten ist immer noch ein Adelsbrief, durch den er eintritt in die Reihe der freiwilligen Kämpfer für Recht und Wahrheit und geistige Freiheit. Sie ist aber auch ein Schuldbrief; wer sie annimmt, verpflichtet sich damit in diesem Kampf seinen Mann zu stehen und die schlimmen Feinde aller geistigen Entwicklung, die Trägheit, die Vieltuerei, die Scheinbildung nicht über sich Herr werden zu lassen. Sie, meine Herren Kommilitonen, haben diesen Adelsbrief, diesen Schuldbrief entweder empfangen oder sind im Begriff ihn entgegenzunehmen. Führen Sie denselben, ein jeder an seinem Teil, zu Ehren und Frommen des Landes.



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