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Rede am Leibnizschen Gedächtnistage

2. Juli 1874. Monatsberichte d. K. P. Akademie d. Wissenschaften 1874 S. 449-458.

Wenn ich es versuche der Vorschrift unserer Statuten entsprechend des Mannes zu gedenken, der der geistige Schöpfer unserer Akademie gewesen ist, so erinnere ich damit vor allem an die ernste Verpflichtung, die dieser unser großer Vormann damit uns auferlegt hat. Wie der ruhmvolle Name des Vaters für den Sohn nicht bloß ein stolzer Schmuck ist, sondern auch eine schwer wiegende, oft schwer lastende Schuld, so hat auch unsere Gesellschaft immer, vor allem aber an diesem Tage, sich es zu vergegenwärtigen, daß sie mit Leibniz' Namen das Vermächtnis hoher Ehre überkommen hat, aber auch das Vermächtnis einer Pflichterfüllung, dessen Nichteinlösung die Ehre in ihr Gegenteil umwandeln würde.

Wie oft ist es gesagt worden, daß Leibniz für sich allein eine Akademie war! und wie wenig umschreibt dieser wunderliche Lobspruch den Kreis des unvergleichlichen Mannes. Es ist wahr, wenn er heute unter uns lebte, wir würden nicht wissen, in welche unserer beiden Klassen wir ihn wählen sollten, und in jeder von ihnen könnte er ebensowohl zu den Philologen wie zu den Historikern und den Philosophen, ebenso zu den Physikern wie zu den Mathematikern sich stellen. Aber auch von denjenigen Disziplinen, welche als praktische gelten und darum nach der einmal bestehenden Ordnung, ich weiß nicht ob über oder unter, aber jedenfalls außer der Akademie stehen, ist die Jurisprudenz nicht bloß Leibniz' Fachwissenschaft gewesen, soweit dieses enge Wort auf einen Mann von solcher Spannweite angewandt werden kann, sondern die scharfe und reine Gedankenluft des römischen Rechts, die imponierende Beherrschung der Empirie durch seine fest entwickelten Begriffe hat offenbar auf diesen Geist, der wenig Vorbilder vorfand, in seiner Werdezeit vorzugsweise eingewirkt und vielleicht sein philosophisch-mathematisches Denken mehr als man meint entwickeln helfen. – Aber auch dies reicht noch lange nicht hin, um Leibniz' Wollen und Wirken zu umspannen: war er doch vor allem nicht bloß Gelehrter, sondern auch Staatsmann, und es ist zweifelhaft, welchem dieser beiden Arbeitskreise er mehr Zeit und Anstrengung zugewandt hat. Freilich erscheint uns seine politische Tätigkeit oft wunderlich, vielfach beherrscht von phantastischem Streben und dilettantischem Tun; aber es ist dies ein Vorwurf, der weit mehr gegen die Zeiten und die Nation sich richtet als gegen den Menschen. Die Epoche Leibnizens war, wie die unsrige, erfüllt und beherrscht durch die deutsch-französischen Kriege; und jahrelang hat er sich mit dem Gedanken getragen und Missionen zu dem Zweck übernommen, zwischen den beiden großen miteinander um einen nach seiner Meinung des Kampfes nicht werten Preis ringenden Nationen in der Weise Frieden zu stiften, daß der Doppeladler des Heiligen römischen Reiches an der Donau den Halbmond zwänge, das Lilienbanner nach Athen und Kairo getragen werde und aus solchem Doppelsieg für die gesamte Christenheit der Weltfriede erwachse. Auf Ägypten wies er hin gegenüber den Reunionsprozeduren Ludwigs – la conqueste, schrieb er noch als gereifter Mann, la conqueste d'une belle et grande partie de la terre habitée valoit mieux, que les miserables chicanes du costé des Pays Bas et du Rhin pour quelques villes ou bailliages. In einem Gedicht, das er an den Papst Alexander VIII. richtete, nach seiner Hoffnung den Vermittler zwischen dem deutschen Kaiser und dem französischen König, apostrophiert er im gleichen Sinn den letzteren:

Quid longe diversus abis parvisque fatigas
Consiliis regni grandia sceptra tui?
Quantula pars mundi est, ubi se tua gloria versat?
An tibi pro Nilo Sara vel Illus erunt?

O wie verfehlst du dein Ziel! o wie mit kleinlichen Zwecken
Nützest das Scepter du ab deines gewaltigen Reichs!
Deiner Erfolge Gebiet wie winzig ist es im Weltraum!
Achtest du denn für den Nil wirklich den Ill und die Saar?

Allerdings kann es nicht befremden, wenn auf diese patriotisch-phantastischen Pläne zum Schutze Hollands und der Rheinpfalz aus Paris nur die kühle Antwort kam: Vous sçavez que les projets d'une guerre sainte ont cessé d'estre à la mode depuis St. Louis; und die etwas transcendentale Anschauung über den Raum, welchen die quelques villes ou bailliages, das heißt Elsaß, Lothringen und Flandern, auf dem Erdball einnehmen, hat heutzutage glücklicherweise ebenso aufgehört Mode zu sein. Aber wenn es nicht wahrscheinlich ist, daß unter den Jugendsünden der heutigen Akademiker solche Weltverbesserungsversuche sich befinden, so werden weder sie selbst noch andere Urteilsfähige es verkennen, daß dies lediglich der allgemeinen politischen Gesundung der Nation verdankt wird und daß bei Leibniz selbst jene Verirrungen Zeugnisse des unvergleichlichen Adels seiner Natur sind. Er konnte nicht anders leben und empfinden als im Ganzen der menschlichen Entwickelung, das heißt im Staate; und stets hat er als Gelehrter wie als Mensch sich als Staatsbürger empfunden, stets jede wissenschaftliche Entdeckung für die Praxis, jede praktische Erfahrung für die Wissenschaft genutzt und das schöne und tiefe Wechselverhältnis alles Schaffens mehr als vielleicht ein anderer Sterblicher im eigenen Herzen und im eigenen Kopf vereinigt. Wie konnte aber in jener Epoche zwischen dem Dreißigjährigen und dem Siebenjährigen Kriege ein deutscher Mann sich als Staatsbürger fühlen, ohne entweder Philister zu werden oder Phantast oder auch beides? Von letzterem gewiß, vielleicht auch von ersterem ist Leibniz nicht freigeblieben; aber wie weit reicht der Blick und die Hoffnung dieses Mannes, der als Hofgelehrter in deutschen Duodezresidenzen sein Leben geführt hat! und wie praktisch wird jene Phantasie entwickelt über Ägypten, das Holland des Ostens, wie er es nennt, dessen zukünftige Weltstellung nur vielleicht noch übertroffen werde von dem des amerikanischen Isthmus, wenn dessen Zeit einmal kommen sollte. Es ist noch heute französische Geschichtstradition, freilich, wie üblich, fable convenue, daß Bonaparte durch die im Pariser Archiv bewahrten Vorschläge des deutschen Philosophen zu seiner ägyptischen Expedition angeregt worden sei; und um die Einsicht, wie sehr Frankreich auf das Mittelmeer angewiesen ist, könnte noch mancher heutige kontinentale Staatsmann den großen Phantasten beneiden.

Das ist der Mann, dessen Name unsere Fahne ist, dessen Gedächtnisfest neben dem Friedrichs des Großen, und keines dritten weiter, wir jährlich feiern. Führen wir diesen Namen nicht unnütz? und müssen wir uns nicht scheuen daran zu erinnern, daß die Akademie der Wissenschaften in Berlin von Leibniz herstammt?

Man hat oft gesagt, daß die gelehrten Gesellschaften abwärts gehen. Die Anschauung begegnet nicht selten, daß sie als Notbehelf für den Anfang, etwa wie in der Technik die Zunft, wohl gut und nützlich gewirkt haben, aber durch die Emancipation der wissenschaftlichen Arbeit entbehrlich, wo nicht schädlich geworden sind. Etwas Richtiges liegt wohl in diesem wie in jedem anderen weit verbreiteten Tadel; aber richtig ist er doch nicht. Es würde sehr unweise sein, wenn man daraus die praktischen Konsequenzen ziehen wollte. Alte Bäume kann man wohl umhauen, aber nicht pflanzen; und wie man sich die Linden gefallen läßt, an denen wir wohnen, auch wenn sie einen oder den andern dürren Ast zeigen, so dürfen auch wir, die wir nicht weniger als sie unter dem schweren Kampf um das Berliner Dasein zu leiden haben, auch das gleiche für uns in Anspruch nehmen.

Indes wir bitten wohl um Nachsicht und Duldung, aber nur insofern, als wir überzeugt sind ein gutes Recht zu haben dazusein.

Allerdings vieles, was früher die Akademie Nützliches geleistet hat, ist unter den jetzigen Verhältnissen weggefallen. Die Zeit, wo die deutsche Typographie durch die akademische Offizin gefördert ward, liegt fast so weit in der Vergangenheit wie diejenige, wo die Akademie den K. Preußischen Kalender herausgab; die deutsche Technik steht auch in dieser Hinsicht auf eigenen Füßen, und wenn hier staatliche Förderung überhaupt noch am Orte ist, wofür sich allerdings vieles geltend machen läßt, so müßte diese dann wenigstens in einem solchen Maßstab eintreten, daß sie jener selbständigen Technik ebenbürtig sich zur Seite stellt, und würde damit von selbst der akademischen Vormundschaft entwachsen.

Auch die stehenden Veröffentlichungen der akademischen Arbeiten sind durch die energische Entwickelung der Literatur zwar nicht überflüssig, aber doch aus der ersten Reihe in die zweite gedrängt worden. Das encyklopädische Wissen hat mehr und mehr vor der Fachwissenschaft den Platz geräumt. Seinerzeit war es ganz richtig erwogen, daß die Akademie die rechte Stätte sei für allseitige Diskussion neuer wissenschaftlicher Gedanken und daß jeder in ihr gehaltene Vortrag wenigstens an die Majorität der dabei Anwesenden sich richte. Aber im Lauf der Zeit hat diese Erwägung ihre Realität verloren. Ebenso behaupten in allen Zweigen der Literatur die Fachschriften, vor allem die Fachzeitschriften jetzt durchaus die erste Stelle. Es würde ebenso töricht sein dies wegzuleugnen wie dagegen anzukämpfen. Die Zeiten sind nicht mehr, wo das Erscheinen eines Bandes der Philosophical Transactions oder der Acta eruditorum ein Ereignis war; und es ist gut, daß sie nicht mehr sind. Auch hier hat die Wissenschaft die Samenhüllen gesprengt und alle Zweige führen, für sich emporsprossend, ihr eigenes Leben, kaum dessen noch eingedenk, daß sie nicht auf sich selbst stehen, sondern derselben unsichtbaren Wurzel, demselben grauen Stamm entkeimt sind. Diese Einseitigkeit der heutigen Forschung aber birgt in sich wie unendlichen Gewinn, so auch unendliche Gefahr. Eben an Leibniz messen wir ab, wie klein und eng die Welt dessen ist, für den es im Reiche des Geistes nichts gibt als griechische und lateinische Schriftsteller oder Gebirgsgeschiebe oder Zahlenprobleme. Einige Abwehr gegen diese Gefahr bietet denn doch das akademische Zusammensein, indem es den einzelnen daran erinnert, daß sein sogenannter Kreis kein Kreis ist, sondern nur ein Kreisabschnitt; indem es die Achtung und selbst die Teilnahme doch immer noch nicht selten auch da erzwingt, wo von vollem wissenschaftlichem Verständnis nicht mehr die Rede sein kann. Jeder, der die deutschen Universitäten kennt, wird es bestätigen, daß der gemeinsame wissenschaftliche Boden da besser festgehalten wird, wo in einer gelehrten Gesellschaft ein Mittelpunkt für die Vereinigung der überhaupt vereinbarlichen Interessen dargeboten ist. Wenn eine einsichtige Oberleitung der deutschen Universitäten ernstlich diesen Palladien der Nation zu Hülfe kommen will, soweit dies jetzt noch möglich ist, so wird sie, weit entfernt die gelehrten Gesellschaften da wo sie bestehen zu beseitigen, vielmehr Anstalten nach dem Muster wenigstens von Göttingen und Leipzig mit allen größeren deutschen Universitäten verknüpfen.

Aber der eigentliche Beruf namentlich unserer Akademie, der Akademie Leibnizens und Friedrichs, der Akademie der ersten deutschen Stadt und der Hauptstadt des Deutschen Reiches, ist denn doch noch ein anderer; und wenn kein einzelner von uns sich neben Leibniz nennen darf, so können wir doch, falls wir in diesem Sinn tätig sind, uns alle stolz zu seinem Namen bekennen.

Alle Forschung beruht auf dem Ineinandergreifen der Arbeiten verschiedener Individuen; und wenn das Gesetz der Arbeitsteilung überall zu den schwierigsten geistigen und sittlichen Problemen gehört, so gilt dies vornehmlich von dem höchsten und freiesten Gebiet unter allen, eben dem der wissenschaftlichen Forschung. Gelehrter Eigensinn ist sprichwörtlich und in der Tat berechtigt; denn wie für die Forschung keine Überlieferung und kein Glaube gilt und mit Recht jeder jedes für sich so lange in Frage stellt, bis er durch sich selbst überzeugt ist, so liegt in dieser unbedingten Freiheit des Meinens auch die unbedingte Freigebung des Wähnens und selbst des verstockten Beharrens im Verkehrten. Wo der unmittelbar praktische Zweck, insonderheit der Lehrzweck dieser Autarkie des gelehrten Individuums Schranken setzt, ist sie oft unbequem, aber am Ende erträglich; in der Wissenschaft hat sie Kraftvergeudungen und zum Teil selbst Verwüstungen herbeigeführt, von denen man sich auf anderen Gebieten kaum eine Vorstellung macht. Wenn es wahr ist, daß die Natur verschwendet, so hat nichts so naturgemäß sich entwickelt wie das gelehrte Arbeiten. Das acta agere ist für manche Disziplinen recht eigentlich der Wahlspruch. Man erwäge zum Beispiel die Durchforschung der Handschriften, diese erste Grundlage für Philologie und Geschichte und maßgebend auch für zahlreiche andere Forschungsgebiete. Nichts lag näher als wenigstens für die großen festgegründeten Bibliotheken nach gleichen Kategorien unter gemeinschaftlicher Oberleitung ein allgemeines Verzeichnis mit Probevergleichungen aller älteren und wichtigeren Stücke aufzustellen und dies durch stetiges Ergänzen allmählich der Vollständigkeit zu nähern. Die vortrefflichen Benediktiner des siebzehnten Jahrhunderts waren in dieser Hinsicht durchaus auf dem richtigen Wege, und eine durch eine Reihe von Jahren mit ansehnlichen Mitteln fortgeführte Arbeit hätte dies Ziel ohne Zweifel so weit erreicht, als überhaupt wissenschaftliche Ziele erreichbar sind. Dies ist nicht bloß nicht geschehen, sondern es gibt noch heute von keiner großen Bibliothek, mit Ausnahme vielleicht der Florentiner, einen wirklich brauchbaren Katalog. Praktisch macht die Sache sich so, daß für jeden Arbeiter das Geratewohl die Kunde der für die Arbeit erforderlichen Handschriften bringt; oder, wenn es hoch kommt, stellt sich ein opferwilliger Jüngling die Aufgabe etwa dem Priscianus oder Justinus zuliebe ganz Europa zu durchreisen und in jeder Bucht und jedem See nach dieser einen Fischgattung sein Netz auszuwerfen. Daß dies in vielen Fällen gar nicht möglich ist, versteht sich von selbst; und vieles bleibt infolgedessen ungetan, wo nicht das große Korrektiv der gelehrten Verkehrtheit, der Zufall sich ins Mittel legt. – Ebenso und noch schlimmer sieht es in andern Gebieten der Wissenschaft aus; wenige Gelehrte wird es geben, die nicht aus ihrem Kreise dieselben Beschwerden zu führen hätten wie ich aus dem meinen. Aber ich enthalte mich das Verzeichnis fortzusetzen, um nicht der platten Opposition die bequeme Gelegenheit zu gewähren die Schäden des Körpers mit dem Körper selbst zu verwechseln. Abhülfe kann für diese wie der Wurmfraß an der Wissenschaft haftende Kraftverschwendung nur gefunden werden in der Association; denn dies ist ja die Organisation der Arbeit und die Konzentrierung der individuellen Kräfte. Es wäre auch ungerecht und undankbar zu verschweigen, wie Großes und Bedeutendes auf diesem Wege erreicht worden ist. Namentlich in engeren örtlich geschlossenen Kreisen wirken gelehrte Gesellschaften mit großem und dauerndem Erfolg; wie denn zum Beispiel die in unseren Tagen überall ins Leben getretenen Vereine für die Geschichte der einzelnen Städte und Landschaften ein erfreulicher Beleg dafür sind, daß der mit dem stockenden politischen Leben so lange erstarrte Associationstrieb in unserer Nation auch nach dieser Seite hin zu neuem und immer mächtiger sich entwickelnden Leben erwacht ist. Auch weitere Kreise hat die Association gezogen. Was die Gesellschaft für deutsche Geschichte, das römische Institut für archäologische Korrespondenz geschaffen haben, wird unvergessen und unverloren sein. Jene Gesellschaft, gegründet unter der unmittelbaren Nachwirkung der politischen Wiedergeburt Deutschlands, ist das Muster geworden für Belgien, England und Italien; dieses Institut, von Haus aus international, ist doch immer gewesen, was es im römischen Volksmund heißt, das Institut der Prussiani, und hat jetzt die Ehre empfangen die erste von dem ganzen Deutschen Reich unter seine Obhut genommene wissenschaftliche Anstalt zu werden.

Aber die Association reicht für die Bedürfnisse der Wissenschaft nicht aus. Die Wissenschaft fordert viel und sie ist des Volkes; nur das Volk hat die Mittel und nur das Volk auch das Recht ihr Budget auf sich zu nehmen. Auch aus anderen Gründen genügt die Association nicht: sie bietet nicht die erforderliche über das Leben der Individuen hinausreichende Garantie, nicht die Möglichkeit bei eintretendem Verfall sich aus sich selbst zu regeneriren. Es ist nicht Zufall, daß von den beiden zuletzt genannten großen Privatassociationen die eine schon seit Jahren auf ihren eigenen dringenden Wunsch unter der Tutel unserer Akademie steht und bei der anderen über eine analoge Umgestaltung jetzt verhandelt wird. Dies weist den Weg für die weitere Entwickelung.

Alle die wissenschaftlichen Aufgaben, welche die Kräfte des einzelnen Mannes und der lebensfähigen Association übersteigen, vor allem die überall grundlegende Arbeit der Sammlung und Sichtung des wissenschaftlichen Materials muß der Staat auf sich nehmen, wie sich der Reihe nach die Geldmittel und die geeigneten Personen und Gelegenheiten darbieten. Dazu aber bedarf er eines Vermittlers; und das rechte Organ des Staats für diese Vermittelung ist die Akademie. Sie wird in den meisten Fällen geeignete Vertreter des Fachs in sich selbst finden, zu denen nach Umständen Nichtakademiker hinzutreten können; sie wird in ihrer Gesamtheit Männer von allgemeinem gelehrten Interesse und Geschäftskunde zählen, die neben den eigentlich Sachverständigen an der Leitung solcher Unternehmungen zu beteiligen von unschätzbarem Wert ist. Sie wird ihre Schranken erkennen und nicht meinen die Initiative des wissenschaftlichen Schaffens im höchsten Sinne des Wortes entbehrlich machen oder auch hervorrufen zu können; aber sie wird treue Arbeiter ermitteln, die da, wo es die Natur der Sache verstattet, dem genialen Forscher den Weg bahnen und ihm es überlassen ihn zu finden wo nur er es kann. Sie muß die Schutzstatt der jungen Talente, die Vertreterin derjenigen Forscher werden, die noch nicht berühmt sind, aber es werden können. Wirken wir in diesem Sinn, so wirken wir im Sinn von Leibniz. Als er die größte seiner Entdeckungen gemacht hatte, die der Differenzialrechnung, machte er sie bekannt, lange bevor er alle ihre Korollarien zu seiner eigenen Genüge entwickelt hatte. ›Ich war‹, schreibt er in dieser Beziehung, ›vielmehr bedacht auf den allgemeinen Nutzen als auf meinen Ruhm, welchen ich vielleicht mehr hätte fördern können, wenn ich die Methode zurückgehalten hätte. Aber es ist mir angenehm auch in anderer Gärten die Früchte des von mir gestreuten Samens zu sehen.‹ Damit weist er uns den Weg. Was jeder von uns literarisch arbeitet und schafft, das ist wesentlich sein eigen; aber als Akademiker sollen wir bemüht sein Samen zu streuen, der im fremden Garten Früchte trägt, die gelehrte Arbeit, soweit sie dessen bedarf, konzentrieren, steigern, stützen, vor allem den Jüngeren die Wege zu verständiger an rechter Stelle eingreifender Tätigkeit weisen und ihnen dazu die Geldmittel gewähren oder vielmehr deren Gewährung vermitteln.

Wenn wir in diesem Sinn wirken, wirken wir aber auch recht im deutschen Sinn. Vielleicht irre ich mich, aber soweit ich die Wissenschaft kenne, so sind zusammenfassende Unternehmungen, die den Kreis der eigenen Nation überschreiten, bisher nur in Deutschland gelungen, und unsere Akademie hat ihren wesentlichen Teil daran. Für die Inschriften ist seit Niebuhr und Böckh in ihr eine feste Tradition begründet, die ihre Früchte weiterträgt. In der römischen Filialanstalt der Akademie knüpft dieselbe Tradition sich an den Namen Gerhards; und wir dürfen hoffen, daß die derselben neugewährten reichlichen Mittel gerade nach dieser Seite hin Verwendung finden werden. Auch in den astronomischen und den verwandten Arbeiten, die unsere Akademie veranlaßt oder gefördert hat, erscheint die gleiche Richtung. Wenn es der K. Staatsregierung gefallen hat die der Akademie für die Förderung der Wissenschaft zu Gebote gestellten Mittel beträchtlich zu vermehren, so hat sie die uns obliegende Verpflichtung, und namentlich diese Pflicht aller Pflichten, in demselben Verhältnis gesteigert. Wir täuschen uns über die Schwierigkeit unserer Aufgabe nicht. Daß Engländer, Franzosen, Italiener auf diesem Felde neben uns die Garben binden, ist, wie schon gesagt ward, mehr zu wünschen als zu hoffen; der Universalismus in dem Gebiet der Wissenschaft ist bei diesen Nationen nicht einheimisch und Deutschland steht auch hier, wie immer und in allem, auf sich selbst. Aber rechnen dürfen wir auf tätigen Beistand unserer Regierung, welche es nicht verkennt, daß gegenüber den, wie in jeder anderer Hinsicht, so auch in Hinsicht der erforderlichen Geldmittel großartigen Aufgaben der heutigen Wissenschaft die uns direkt gewährten Mittel nur die Möglichkeit bieten anzuregen und einzuleiten und die rechten Männer zu ermitteln, denen der Staat große Dinge und große Summen mit Vertrauen in die Hand geben kann. Daß die alte stehende Beschwerde über die Zurücksetzung der idealen Staatszwecke hinter den realen zum guten Teil unbegründet war, daß die Regierung wohl guten Grund gehabt hat jahrelang die letzteren einseitig im Auge zu behalten, davon haben die großen Ereignisse der letztverflossenen Jahre auch den Gelehrten überzeugt. Aber es ist über diesem notwendigen Zuwarten ein guter Teil der deutschen Wissenschaft zu Grunde gegangen; Institutionen und Personen sind schwer beschädigt, vieles frische und mutige Streben gebrochen, viele hoffnungsvolle Keime verkümmert, viele grüne Triebe verdorrt. Die Männer, die uns jetzt regieren, wissen und sehen dies; es ist leider mit Händen zu greifen und jedem offenbar. Die Opfer für Deutschlands große Siege liegen nicht bloß bei Königgrätz und Gravelotte; auch die deutsche Forschung daheim hat ihre Leichenfelder. Man wird heute Tausende geben müssen, wo noch vor Jahrzehnten Hunderte hingereicht hätten; gespart wird damit nirgends, daß man notwendige Ausgaben unterläßt. Aber wir verzagen nicht. Die deutsche Wissenschaft ist nicht was sie war; aber sie ist noch lebenskräftig und entwicklungsfähig, das Regiment, auf das wir immer stolz sein durften und um das uns heute ganz Europa beneidet, jetzt, im vollen Glanze des Erfolgs, ernstlich bemüht die Wurzeln der Größe Deutschlands zu erhalten und zu erfrischen. Unsere Aufgabe ist schwer und alle Pflichterfüllung unvollkommen; aber wir können dazu tun die deutsche Wissenschaft weiter zu entwickeln und wir wollen es tun; und wenn wir es tun, dann dürfen wir uns nennen die rechten Nachfahren von Gottfried Wilhelm Leibniz.



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