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Ansprache am Leibnizschen Gedächtnistage

28. Juni 1883. Sitzungsberichte d. K. P. Akademie d. Wissenschaften 1883 S. 731-734.

Der heutige Tag gehört zunächst der Erinnerung an den großen Mann, dessen Name unsere Gesellschaft zur königlichen Morgengabe empfangen hat. Der Gelehrte und besonders der deutsche Gelehrte ist sich deutlicher seines Sonderstrebens bewußt als derjenigen Eigenschaft, die doch seine beste und bedeutendste ist, das Glied eines großen Ganzen zu sein; von dem Wunderbau der Weltwissenschaft sieht das geistige Auge, meist noch kurzsichtiger als das leibliche, in der Regel nur den einen Saal, nur die kleine Ecke, an welcher der einzelne Arbeiter im besten Fall als Untermeister tätig ist. Wir dürfen uns glücklich preisen, daß uns gleichsam als dauernder Obermeister zu ewigem Gedächtnis Leibniz hingestellt ist, jener Gelehrte, für den es keine akademische Klasse gab, an dessen mannigfaltige Leistungen noch heute fast jeder von uns im besonderen anknüpfen kann, dessen Universalität darum nicht minder ein Wunderwerk ist, weil sie mitberuhte auf den Verhältnissen einer Zeit, in der die noch knospenden Wissenschaften sich enger zusammenfanden als jetzt die aufgeblühten und damit getrennten. Es war ein königlicher Gedanke diese Stätte der Gesamtforschung unter den Schutz eines Geistes zu stellen, dem die Wissenschaft ein Ganzes war und in dem alle Forscher ihr brüderliches Zusammenstehen leibhaftig erkennen.

Aber es ist nur eine Fortsetzung und Vertiefung desselben Gedankens, wenn wir diesen Tag überhaupt auffassen als den Gedächtnistag unserer großen Toten.

Das laufende Jahr ist in verschiedener Weise für uns ein Jahr des Gedächtnisses; und dieser Tag ist vorzugsweise dazu geeignet wenn nicht mit ausführlicher Rede, doch mit erinnerndem Worte es auszusprechen, daß wir solches Gedächtnis bewahren und ehren.

Das große Erinnerungsfest des protestantischen Deutschlands an Martin Luther steht in wenigen Monaten bevor; wenn unsere Akademie zunächst wieder in gleicher Weise zusammentritt, wird es gefeiert sein. Die Akademie der Wissenschaften hat keinen Anspruch darauf sich an dieser Festfeier selbständig zu beteiligen; wohl aber darf und soll es ausgesprochen werden, wie die deutsche Wissenschaft und die freie Forschung sich innerlich derselben anschließt. Jene beiden jungen deutschen Professoren der Universität Wittenberg, der sächsische Theologe und der schwäbische Philologe, welche den Geisteszwang der Scholastik und damit die Hierarchie des italienischen Klerus für alle Zeiten gebannt und in unserem Deutschland unmöglich gemacht haben, vollzogen damit ein Werk, dessen Würdigung zunächst dem Staatsmann und dem Patrioten zukommt; aber dies Werk ist denn doch auch eine große wissenschaftliche Leistung. Das Zurückführen der christlichen Wissenschaft auf die heiligen Originale und diese allein, unter Beseitigung aller konventionellen und traditionellen Interpretation und Interpolation, ist völlig gleichartig dem Zurückführen des Studiums der griechischen Philosophie auf den wirklichen Aristoteles anstatt auf seine mittelalterliche Überwucherung, des Studiums des römischen Rechts auf Papinian und Ulpian statt auf Bartolus und Baldus. Auch die beginnende historische Forschung ist daran ernstlich beteiligt. Als von der langen Reihe jener Urkundenfälschungen, welche dem katholischen Klerus insbesondere für die Begründung seiner weltlichen Herrschaft als übliche Rechtsgrundlage gedient haben, der erste Zipfel gelüftet ward und Laurentius Valla die Konstantinische Schenkungsurkunde an den römischen Bischof als das nachwies, was sie ist, da war es von wesentlichem Einfluß auf Luthers damals sich innerlich entscheidende Stellung gegenüber dem Papsttum, daß dasselbe diese ›schamlosen Lügen‹ in seine Dekretalen aufgenommen hatte. Es sind die deutsche Feder und das deutsche Wort gewesen, welche Deutschland aus den römischen Fesseln befreiten. So ist es denn auch nur in der Ordnung, daß ebenderselbe Mann, dem wir die wiederhergestellte Geistesfreiheit verdanken, zugleich der Begründer unserer Sprache geworden ist, daß das mächtige deutsche Lied, die süße deutsche Musik, die Kunst Cranachs und Dürers ebenfalls in Martin Luther ihren Schutzpatron hatten und haben. Denn eine feste Burg ist der Protestantismus immer noch und wird es bleiben. Die Akademie der Wissenschaften darf sich glücklich schätzen, daß es ihr vergönnt ist bei dem schönsten Denkmal, welches die Nation ihrem Befreier zu errichten vermag, einer würdigen Gesamtausgabe seiner Werke, deren Beginn das Jahr 1883 bezeichnen wird, beratend und leitend in hervorragender Weise mitzuwirken.

Ein anderes Erinnerungsfest, das vor wenigen Monaten unter unserer Teilnahme und in unserer nächsten Nähe begangen worden ist, wird auch am heutigen Tage und an dieser Stelle erwähnt werden dürfen. Wenn Leibniz für seine Zeit in sich eine Akademie war, so darf wohl gesagt werden, daß für die wissenschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart und insbesondere unserer zweigeteilten Gesellschaft kein treuerer, vollerer und schönerer Ausdruck gefunden werden kann, als die beiden edlen Brüder ihn gewähren, deren Abbilder jetzt unsere Nachbaranstalt schmücken; nebeneinander stehend in inniger persönlicher Vereinigung, mit reger Teilnahme des einen an der Forschung des andern, und doch in scharf begrenzter Besonderheit, wie gleich hoch aufstrebende Doppelhöhen, von denen jede für sich selbständig ist und doch keine die andere entbehren kann. Darin wieder sind sie unter sich und auch wieder Leibniz wahlverwandt, daß jeder von ihnen auf das Ganze hinstrebt und soll man sagen der Segen oder der Fluch der jetzigen Forschung, die Specialität für Wilhelm wie für Alexander stets durch das gewaltige Gefühl des Gesamtziels gebändigt und geadelt worden ist. Der große Naturforscher, der so viele Erze geschmolzen, so viele Pflanzen bestimmt, so viele Höhen gemessen, hat es nicht verschmäht auf Blättern, die jedem deutschen Knaben und Mädchen ein Hausschatz sind, den seelischen Eindruck der tropischen Natur empfänglichen Gemütern mitzuteilen, und er hat die Jahre des Alters daran gesetzt die Welt im ganzen in ihrer physischen Bedingtheit zu schildern – vielleicht der letzte Mann, der ein solches Werk wenn nicht durchführen, so doch wagen konnte; und welche Großartigkeit und zugleich welche Demut liegt auch in diesem Wagnis. – Und den Kosmos der geistigen Welt hat in ähnlichem Sinn der Bruder aufgebaut. So ohne Beispiel und ohnegleichen wie der Dichter Goethe, ist auch der Leser Wilhelm Humboldt; es ist wohl in der Geschichte der Literatur weiter nicht dagewesen, daß der Schöpfung des klassischen Werkes die volle Würdigung so unmittelbar nachfolgte wie dies bei Hermann und Dorothea durch ihn geschehen ist. Nie ist die Tagesliteratur voller und richtiger gewürdigt worden wie von diesem zugleich mit allem Sinnen und Sehnen im klassischen Altertum waltenden Kenner; und doch ist die Literatur für ihn nur ein Beet seines Gartens. Die Musik und die bildende Kunst stehen ihm innerlich nicht minder nah, und weiter umfaßt sein mächtiger Gedanke alle Probleme des menschlichen Daseins in ihrer historischen Entwickelung – wie er selbst es sagt:

Großes ewig muß der Mensch erzeugen,
Weil zum Himmel auf sein Wesen strebt;
Doch das Große muß der Zeit sich beugen,
Das im Busen wieder Größres webt,
Schlingen so sich hin ein Götterreigen,
Wo das Schöne Schöneres belebt.
Denn das Leben aus dem Tod entfalten
Ist der Menschheit schmerzumwölktes Walten.

Er ist wohl der erste gewesen, welcher die Sprache nicht als Einzelobjekt, sondern in ihrer Allgemeinheit als das eigentliche Substrat der Völkerindividualität und der Humanität überhaupt im besonderen sowohl wie in voller Allgemeinheit aufgefaßt hat, und der in ähnlicher Weise es unternommen hat den Staat nach seiner allgemeinen humanen Seite hin zu begreifen und zu beschränken. Die goldenen Worte, den Menschen nicht um der Sache, die Kraft nicht um des Resultats willen zu vernachlässigen, den Staat so zu gestalten, daß in ihm dem einzelnen das höchstmögliche Maß der Kraftentwickelung, das heißt der Freiheit und damit des Glückes verbleibt, werden vielleicht nie befolgt, aber sicher auch nie vergessen werden.

Unseres Volkes und unserer Wissenschaft Zukunft steht unter dem Schutz seiner großen Toten. Der Boden, der Martin Luther, der Leibniz und die Brüder Humboldt gezeugt hat, wird auch weiter Nachfolger zeugen, die ihrer und des deutschen Namens würdig sind.



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