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Einundvierzigstes Kapitel.
Bob

Erst lange nachdem ich wieder in meine Zelle zurückgebracht worden war, kam ich wieder soweit zur Besinnung, daß ich den Grund erkannte, warum ich nicht freigesprochen worden war: der Richter wollte abwarten, bis die Diebe eingebracht würden, um festzustellen, ob ich wirklich nicht ihr Spießgeselle sei.

Man war ihnen auf der Spur, wie der Staatsanwalt gesagt hatte, und in Bälde mußte ich den Schmerz und die Schande erleben, mit ihnen vor dem Schwurgericht zu erscheinen.

Wann würde das wohl geschehen? Wann würde ich wohl ins Kreisgefängnis überführt werden? Was für ein Gefängnis war dies und wo befand es sich wohl?

Ueber all diese Gedanken verging mir die Zeit schneller, als am Abend zuvor; außerdem war ich auch nicht mehr so ungeduldig, denn jetzt wußte ich ja, daß es zuwarten hieß.

Kurz vor Einbruch der Nacht vernahm ich die Klänge eines Klapphorns und erkannte sofort Mattias Art, es zu blasen: offenbar wollte mir der gute Junge zu wissen thun, daß er meiner gedenke und über mich wache. Diese Töne stiegen über die meinem Fenster gegenüberliegende Mauer zu mir empor. Offenbar befand sich Mattia auf der Straße jenseits dieser Mauer, und wir waren nur durch einen ganz kleinen Raum voneinander getrennt – ach, daß meine Blicke nicht durch die Mauern dringen konnten! Aber wenn dies auch nicht möglich war, so drang doch der Ton bis zu mir und das Geräusch von Schritten und allerlei Stimmengewirr, das ich vernahm, verrieten mir, daß Mattia und Bob da drüben eine Vorstellung gaben.

Warum hatten sie wohl diesen Platz gewählt? Rechneten sie hier auf eine gute Einnahme, oder wollten sie mir eine Zerstreuung bereiten?

Plötzlich hörte ich Mattias helle Stimme auf französisch rufen: »Morgen bei Tagesanbruch!«

Dann erklang das Klapphorn sofort aufs neue.

Es war kein besonderer Aufwand an Verstand erforderlich, um zu verstehen, daß diese französischen Worte nicht an Mattias englische Zuhörer gerichtet waren, dagegen war es nicht ebensoleicht zu erraten, was sie mir bedeuteten, und wiederum vertiefte ich mich in eine endlose Folge zweckloser Vermutungen. Das eine lag ja auf der Hand, daß ich bei Tagesanbruch wach und auf der Hut sein mußte; bis dahin mußte ich mich eben in Geduld zu fassen suchen, falls ich konnte.

Sobald es Nacht geworden war, streckte ich mich auf meiner Pritsche aus und suchte einzuschlafen, was mir aber erst nach einiger Zeit gelang.

Als ich wieder erwachte, war es stockdunkle Nacht; die Sterne erglänzten an dem tiefblauen Himmel und kein Ton war zu hören; offenbar war der Tag noch ferne. Ich setzte mich wieder auf meine Bank, denn ich wagte nicht zu gehen aus Angst, Aufmerksamkeit zu erregen, falls zufällig gerade ein Wächter die Runde machte. Bald schlug es irgendwo drei Uhr; ich war also zu früh aufgewacht, wagte aber doch nicht, noch einmal einzuschlafen, was ich wahrscheinlich auch nicht gekonnt hätte, denn ich befand mich in fieberhafter Aufregung und Angst.

Langsam, mit bleierner Schwere schlich Viertelstunde um Viertelstunde dahin, und ich zählte jeden einzelnen Schlag der Kirchenuhren. Manchmal ließ aber das Schlagen so lange auf sich warten, daß ich glaubte, ich müsse es überhört haben oder an der Uhr etwas nicht in Ordnung sein.

An die Wand gelehnt, hielt ich meine Augen fest aufs Fenster gerichtet, und endlich schienen mir die Sterne zu erbleichen und der Himmel sich weißlich zu färben. Hähne krähten in der Nachbarschaft – ja das war der Anbruch des Tages.

Auf den Fußspitzen schlich ich mich nach dem Fenster, um es zu öffnen, was mit äußerster Behutsamkeit gemacht werden mußte, um jedes Krachen zu verhüten. Welch ein Glück für mich, daß ich das Fenster öffnen konnte, denn sonst hätte ich Mattia auf ein etwaiges Zeichen gar nicht antworten können. Allein mit dem Oeffnen des Fensters war noch nicht alles gethan – da waren auch noch die eisernen Gitterstangen und die dicken Mauern und die mit Eisenblech gepanzerte Thür. Es war Wahnsinn, hier auf Freiheit, auf ein Entkommen zu hoffen, aber dennoch hoffte ich darauf.

Die Sterne verblaßten immer mehr und mehr, der kühle Morgenwind durchschauerte mich so, daß ich vor Kälte zitterte, aber ich wich nicht vom Fenster, sondern sah hinaus und lauschte, ohne zu wissen, was ich sehen und auf was ich horchen sollte.

Weißlicher Nebel breitete sich wie ein riesengroßer Schleier über den Himmel, und auf der Erde traten die Umrisse der einzelnen Gegenstände immer deutlicher hervor.

Das war das Tagesgrauen, von dem Mattia gesprochen hatte: ich hielt den Atem an und lauschte, aber ich hörte nichts, als das Pochen meines Herzens.

Endlich glaubte ich ein leichtes Kratzen an der Mauer zu vernehmen, aber da ich gar keine Schritte gehört hatte, meinte ich schon, ich habe mich getäuscht; gleichwohl lauschte ich angestrengt – das Kratzen dauerte fort, und dann sah ich plötzlich einen Kopf über die Mauer emporragen, und trotz der Dunkelheit erkannte ich Bob.

Auch er sah mich, wie ich mich ans Gitter drückte.

»Bob!« machte er ganz leise.

Dann winkte er mir, ich solle mich vom Fenster entfernen, und ohne zu verstehen, was das bedeuten sollte, gehorchte ich ihm. Nun zog er ein langes, glänzendes Rohr hervor, das aussah, als sei es von Glas und legte es an den Mund. Nun wußte ich, daß es ein Blasrohr war; ich hörte ein leichtes Zischen und gleichzeitig flog eine kleine weiße Kugel durch die Luft und fiel vor meinen Füßen nieder. Augenblicklich war Bobs Kopf wieder hinter der Mauer verschwunden und ich hörte und sah nichts mehr.

Natürlich stürzte ich mich sofort auf die Kugel, die aus einem dünnen, um ein Bleikügelchen gewickelten Stück Papier bestand. Auf diesem Papier glaubte ich Schriftzüge zu erkennen, aber es war noch zu dunkel, als daß ich sie hätte entziffern können; ich mußte warten, bis es Tag wurde.

Vorsichtig machte ich das Fenster wieder zu und kehrte dann schleunigst, meine Kugel in der Hand, auf meine Pritsche zurück.

Langsam, viel zu langsam für meine Ungeduld färbte sich der Himmel gelb, und endlich ergoß sich auch ein rosiger Schimmer über meine Kerkermauern: nun entrollte ich mein Papier und las: »Morgen abend wirst du in das Kreisgefängnis überführt; du wirst in Begleitung eines Polizeibeamten in einem Coupé zweiter Klasse reisen; setze dich neben die Thür, durch die du eingestiegen bist; wenn ihr fünfundvierzig Minuten – zähle sie genau – gefahren seid, wird euer Zug wegen einer Kreuzung langsamer fahren; dann öffne die Thür und spring mutig hinaus: wirf dich vorwärts, strecke die Hände vor und suche womöglich auf die Füße zu fallen. Sobald du auf der Erde bist, klettere die Böschung linker Hand hinauf – dort erwarten wir dich mit einem Wagen und einem guten Pferd, um dich fortzubringen. Fürchte dich nicht, sei mutig und halte den Kopf hoch – in zwei Tagen sind wir wieder in Frankreich. Also springe weit vor und falle auf deine Füße.«

Gerettet! Ich brauchte nicht vor dem Schwurgericht zu erscheinen, ich mußte nicht mitansehen, was sich dort ereignen würde!

Ach, der wackere Mattia, der gute Bob! Ich wußte ja gewiß, daß er Mattia edelmütig geholfen hatte, denn dieser allein hätte sich nicht alles so ausklügeln können, und außerdem hieß es ja auch: »Wir werden da sein.«

Wie gut war das alles ausgedacht! Gewiß wollte ich mutig hinausspringen! Lieber wollte ich sterben, denn mich als Dieb brandmarken lassen.

Meine Freude wurde indessen durch einen traurigen Gedanken getrübt: was wurde aus Capi? Allein schnell verscheuchte ich diesen Gedanken wieder; es war ja nicht möglich, daß Mattia Capi aufgeben wollte, und wenn er ein Mittel gefunden hatte, mir zum Entkommen zu helfen, so fand er gewiß auch eines für Capi.

Nun las ich meinen Zettel noch zwei- oder dreimal durch, und nachdem ich ihn dann zerkaut und verschluckt hatte, konnte ich nichts andres mehr thun, als ruhig schlafen, was denn auch so gründlich geschah, daß ich erst erwachte, als mir der Schließer das Essen brachte.

Die Zeit verging ziemlich rasch, und am andern Tag trat des Nachmittags ein mir unbekannter Polizeibeamter in meine Zelle und hieß mich ihm folgen. Mit Vergnügen bemerkte ich, daß er ein Mann von etwa fünfzig Jahren war und nicht mehr sehr behend aussah.

Alles ging ganz, wie Mattia es geschrieben hatte, und als der Zug abfuhr, saß ich neben der Thür, durch die wir eingestiegen waren; ich fuhr rückwärts und der Polizeibeamte hatte sich mir gegenüber niedergelassen. Außer uns befand sich niemand mehr in dieser Abteilung des Wagens.

»Sprichst du englisch?« fragte er.

»Ein wenig.«

»Verstehst du's?«

»So ziemlich, wenn man langsam mit mir spricht.«

»Nun, so hör', mein Junge! Ich will dir einen guten Rat geben. Sei dem Gericht gegenüber nicht allzuschlau, sondern gestehe lieber; damit gewinnst du dir das Wohlwollen aller Welt. Nichts ist so widerwärtig, als wenn man es mit Leuten zu thun hat, die angesichts der überführendsten Beweise noch zu leugnen versuchen: dagegen nimmt man auf die, die gestehen, auch gerne jede Art von Rücksicht und erweist ihnen alle Art von Gefälligkeiten. So würde auch ich dir gleich eine Krone schenken, wenn du mir sagen würdest, wie alles zugegangen ist – das Geld würde dir im Gefängnis sehr zu statten kommen.«

Ich war schon im Begriff zu erwidern, ich habe nichts zu gestehen, aber ich sah noch zu rechter Zeit ein, daß es besser für mich sei, ich suche mir »das Wohlwollen des Mannes zu gewinnen«, – wie er sich ausdrückte – und schwieg.

»Ueberleg dir's nur,« fuhr er fort, »und wenn du im Gefängnis einsiehst, wie gut mein Rat ist, so laß mich rufen, denn du darfst nicht dem ersten besten gestehen, sondern mußt dir jemand auswählen, der Teilnahme für dich fühlt, und du stehst, daß ich ganz geneigt bin, etwas für dich zu thun.«

Ich nickte zustimmend.

»Du brauchst nur nach Dophin zu fragen – du merkst dir doch meinen Namen gut?«

»Ja, mein Herr!«

Ich lehnte an der Thür, deren Fenster geöffnet war, und bat, die Gegend betrachten zu dürfen, und da der Beamte wahrscheinlich mein Wohlwollen gewinnen wollte, sagte er, ich könne hinaussehen, so lange ich wolle. Was hatte er auch zu befürchten, während der Zug mit vollem Dampf dahinsauste?

Bald wurde ihm die Zugluft, die ihm gerade ins Gesicht blies, zu kalt und er rückte von der Thür in die Mitte des Wagens. Ich dagegen war gar nicht empfindlich gegen die Kälte; sachte ließ ich meine linke Hand durchs Fenster hinausgleiten und klinkte von außen die Thüre auf, während ich sie mit der rechten Hand festhielt.

Die Zeit verging, die Lokomotive pfiff und mäßigte ihre Geschwindigkeit; nun war der Augenblick gekommen: rasch stieß ich die Thüre auf, sprang so weit, als ich konnte, und wurde in den Graben geschleudert; glücklicherweise kamen meine Hände, die ich vorwärts gehalten hatte, auf die grasbewachsene Böschung zu liegen, aber die Erschütterung war so heftig gewesen, daß ich ohnmächtig zur Erde stürzte.

Als ich wieder zu mir kam, glaubte ich mich noch auf der Eisenbahn zu befinden, denn ich fühlte mich noch immer durch eine rasche Bewegung vorwärts getragen und vernahm auch ein beständiges Rollen – aber ich lag auf einer Schütte Stroh.

Merkwürdig! Mein Gesicht war feucht, und meine Stirne und meine Wangen wurden sanft gestreichelt.

Ich schlug die Augen auf und sah einen häßlichen, gelben Hund, der sich über mich beugte und mich leckte; dann fielen meine Blicke auf Mattia, der neben mir kniete.

»Du bist gerettet,« sagte er, schob den Hund beiseite und küßte mich.

»Wo sind wir?«

»Im Wagen. Bob fährt uns.«

»Nun, wie geht's?« fragte Bob.

»Ich weiß nicht: gut, glaube ich.«

»Bewege deine Arme und Beine,« rief Bob.

Auf dem Stroh ausgestreckt, that ich, wie mir geheißen wurde.

»Gut,« sagte Mattia, »er hat nichts gebrochen.«

»Aber was ist denn geschehen?«

»Du bist aus dem Zug gesprungen, wie ich dich's geheißen habe, aber die Erschütterung hat dich betäubt, so daß du in den Graben gefallen bist; als wir dich nicht kommen sahen, hielt ich das Pferd, während Bob die Böschung hinabkletterte und dich auf seinen Armen herauftrug. Zuerst hielten wir dich für tot. Welche Angst! Welcher Schmerz! Aber nun bist du gerettet!«

»Und der Polizeibeamte?«

»Setzt seine Reise in dem Zug fort, der nicht angehalten hat.«

Nun wußte ich das Wesentlichste und sah mich um; ich bemerkte den gelben Hund, der mich mit Capis zärtlichen Augen betrachtete, aber es konnte nicht Capi sein, denn Capi war ja weiß.«

»Und Capi,« sagte ich, »wo ist denn Capi?«

Ehe mir Mattia antworten konnte, war der gelbe Hund auf mich gesprungen und leckte mir winselnd das Gesicht.

»Aber das ist er ja,« erklärte Mattia, »wir haben ihn nur färben lassen.«

Nun erwiderte ich die Zärtlichkeitsbeweise des guten Capi und küßte ihn ebenfalls.

»Warum hast du ihn gefärbt?«

»Das ist eine Geschichte, die ich dir erzählen muß.«

Das gab aber Bob nicht zu.

»Nimm du jetzt die Zügel, aber halte sie fest,« sagte er zu Mattia, »unterdessen werde ich den Wagen unkenntlich machen.«

Der Wagen war mit einer über Reifen gezogenen, leinenen Plane bedeckt; nun streckte Bob die Reifen im Wagen aus, faltete die Plane vierfach zusammen und deckte mich damit zu; dann hieß er Mattia sich neben mir unter der Plane verstecken. Dadurch gewann der Wagen ein ganz andres Aussehen, denn er hatte keine Plane mehr, und statt drei Personen befand sich nur eine in ihm; wenn man uns nun nach der Beschreibung verfolgte, so mußten die Nachforschungen irregeführt werden.

»Wohin fahren wir denn?« fragte ich Mattia, als er sich neben mir ausgestreckt hatte.

»Nach Littlehampton, einem kleinen Ort an der See, wo ein Bruder von Bob ein Schiff befehligt, das regelmäßig nach Frankreich fährt, um Butter und Eier aus Isigny in der Normandie nach England zu bringen. Kommen wir durch, und wir kommen sicherlich durch – so haben wir es einzig und allein Bob zu verdanken; was hätte auch ich armer, dummer Teufel für dich thun können? Bob hat den Einfall gehabt, dich aus dem Zug springen zu heißen, dir mein Briefchen ins Gefängnis hineinzupusten, er hat seine Kameraden überredet, uns das Pferd zu leihen, und nun wird er uns auch einen Platz aus dem Transportschiff verschaffen, denn du kannst dir denken, daß du sofort verhaftet würdest, wenn du dich aus einem Dampfschiff einschiffen wolltest. Gelt, es ist doch gut, wenn man Freunde hat?«

»Und wer ist denn auf den Gedanken gekommen, Capi zu entführen?«

»Ich, aber Bob ist darauf verfallen, ihn gelb färben zu lassen, um ihn unkenntlich zu machen, als wir ihn dem klugen Fahnder Jerry – wie ihn der Staatsanwalt nannte – entführt hatten. Uebrigens hat sich der Herr in diesem Fall nicht allzu klug angestellt, denn er hat sich Capi wegstibitzen lassen, ohne es überhaupt zu merken. Allerdings hat Capi, nachdem er mich gewittert hatte, das Meiste dazu gethan, und außerdem kennt Bob die Kniffe der Hundediebe.«

»Und dein Fuß?«

»Ist beinahe geheilt, ich habe gar keine Zeit gehabt, an ihn zu denken.«

Dank dem guten Pferde und Bob, der ein vortrefflicher Kutscher war, kamen wir rasch vorwärts, aber trotzdem mußten wir Halt machen, um das Pferd zu füttern und es etwas verschnaufen zu lassen. Wir hielten aber nicht bei einem Wirtshaus, sondern im freien Wald. Bob zäumte sein Pferd ab und hing ihm einen mit Haber gefüllten Freßbeutel um den Hals, den er aus dem Wagen nahm. Da die Nacht sehr finster war, kamen wir nicht leicht in die Gefahr, überrascht zu werden.

Nun erst konnte ich mit Bob sprechen und ihm in gerührten Worten für seine Hilfe danken, aber er ließ mich gar nicht zu Wort kommen, sondern schüttelte mir die Hand und sagte: »Ihr seid mir gefällig gewesen, und nun bin ich es euch gewesen: heute mir, morgen dir, und außerdem bist du der Bruder Mattias, und für einen so guten Jungen wie Mattia thut man viel.«

Ich fragte ihn, ob wir noch weit nach Littlehampton hätten, worauf er erwiderte, es sei noch mehr als zwei Stunden, und wir müßten uns beeilen, weil das Schiff seines Bruders alle Samstag nach Isigny in See steche, und weil er glaube, daß die Flut sehr früh komme, – es war nämlich Freitag abend.

Wir streckten uns wieder unter der Plane auf dem Stroh aus, und das ausgeruhte Pferd verfiel in die schärfste Gangart.

»Hast du Angst?« fragte mich Mattia.

»Ja und nein; ich habe sehr Angst, wieder gefaßt zu werden, aber das kommt mir nicht sehr wahrscheinlich vor; aber fliehen heißt seine Schuld eingestehen. Das quält mich am meisten, was soll ich zu meiner Verteidigung vorbringen?«

»Bob und ich haben daran wohl gedacht, aber Bob sagte, es handle sich hauptsächlich darum, zu verhindern, daß du vors Schwurgericht kommest, denn selbst wenn man freigesprochen werde, sei es arg, das durchgemacht zu haben. Ich habe aber nicht gewagt, meine Meinung darüber zu sagen, weil ich fürchtete, meine fixe Idee, dich nach Frankreich zu bringen, könne mich beeinflussen.«

»Du hast ganz recht gehabt, und mag es kommen, wie es will, ich werde euch stets dankbar sein.«

»Sei ganz ruhig, es kommt nichts. Erst auf der nächsten Station hat dein Polizeibeamter seine Anzeige gemacht, und bis die Nachforschungen angeordnet wurden, ist auch wieder Zeit vergangen, während welcher wir uns im Galopp entfernt haben. Außerdem können sie ja auch unmöglich wissen, daß wir uns gerade in Littlehampton einschiffen wollen.«

Das stand fest: wenn man uns nicht jetzt schon auf der Spur war, so hatten wir alle Aussicht, uns ungefährdet einschiffen zu können; aber ich war nicht so überzeugt, wie Mattia, daß der Polizeibeamte noch viel Zeit verloren hatte, als der Zug hielt, und hierin lag eine sehr große Gefahr.

Unterdessen fuhren wir immer in vollem Trab auf der einsamen Landstraße dahin; ab und zu begegnete uns einmal ein Wagen, aber keiner überholte uns. Schweigend lagen die Dörfer, durch die wir kamen, und nur selten schimmerte noch ein Licht aus einem Fenster; einige Hunde beehrten uns mit ihrer Aufmerksamkeit und verfolgten uns mit ihrem Gebell. Wenn Bob einmal anhielt und sein Pferd etwas verschnaufen ließ, nachdem er eine Steigung recht rasch zurückgelegt hatte, sprangen wir vom Wagen und legten das Ohr an die Erde, um zu lauschen, aber selbst Mattia, der das allerfeinste Gehör hatte, vernahm keinen verdächtigen Laut. Wir fuhren dahin, umhüllt von der Finsternis und dem Schweigen der Nacht.

Nun krochen wir nicht mehr, um uns zu verstecken, sondern um uns zu erwärmen, unter die Plane, denn seit geraumer Zeit wehte eine scharfe Brise, und wenn wir die Lippen mit der Zunge berührten, so fühlten wir einen gewissen Salzgeschmack – wir näherten uns dem Meer. Bald bemerkten wir einen in regelmäßigen Zwischenräumen auftauchenden Lichtschein: das war ein Leuchtturm – wir waren bald am Ziel.

Bob hielt sein Pferd zurück, ließ es in Schritt fallen und lenkte es sachte in einen Richtweg; dann stieg er ab und hieß uns das Pferd halten und hier auf ihn warten, während er nachsehen wolle, ob sein Bruder nicht schon fort sei, und ob wir uns ungefährdet an Bord des Schiffes begeben könnten.

Ehrlich gestanden, wurde mir die Zeit lang bis zu Bobs Rückkehr. Mattia und ich sprachen kein Wort und lauschten nur dem Rauschen des Meeres, dessen Wogen sich in kurzer Entfernung von uns mit eintönigem Geräusch am Gestade brachen, was unsre Aufregung nur noch mehr steigerte; Mattia zitterte so heftig, wie ich selbst.

»Das thut die Kälte,« sagte er leise zu mir.

Ob das richtig war? Jedenfalls ist es Thatsache, daß wir uns gegen die Kälte empfindlicher zeigten und heftiger zitterten, wenn auf den Wiesen, durch die der Richtweg führte, ein Schaf oder eine Kuh einen Stein ins Rollen brachte oder an einen Zaun anstieß.

Endlich nahten sich Schritte aus der Richtung, in der Bob sich entfernt hatte; nun kam er zurück und mit ihm die Entscheidung meines Geschickes.

Bob kam nicht allein; als er näher kam, sahen wir, daß er einen Mann bei sich hatte, der eine Matrosenbluse aus Wachstuch anhatte und eine wollene Mütze auf dem Kopfe trug.

»Das ist mein Bruder,« sagte Bob, »er will euch gern an Bord nehmen; er wird euch führen, und wir müssen hier Abschied voneinander nehmen, weil es nicht herauszukommen braucht, daß ich hier war.«

Ich wollte Bob noch einmal danken, aber er schnitt mir das Wort ab, indem er mir die Hand schüttelte und sagte: »Darüber wollen wir gar kein Wort mehr verlieren, man muß einander gegenseitig helfen. Ich denke, wir werden uns schon einmal wieder sehen. Mich freut's nur, daß ich Mattia habe einen Gefallen thun können.«

Mattia und ich folgten nun seinem Bruder durch die stillen Straßen der Stadt und gelangten mit einem Umwege auf den Quai; der Seewind blies uns ins Gesicht.

Schweigend wies Bobs Bruder auf eine aufgetakelte Schaluppe, und wir verstanden, daß dies sein Schiff fei. Einige Minuten später befanden wir uns an Bord und wurden von dem Besitzer in eine kleine Kabine hinuntergeführt.

»Ich steche erst in zwei Stunden in See,« sagte er nun, »bleibt hier und verhaltet euch ganz ruhig.«

Als er die Kabine von außen abgeschlossen hatte, warf sich mir Mattia lautlos in die Arme und küßte mich: er zitterte nicht mehr.


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