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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Rettung

Unsre Stellung auf den allzuschmalen Absätzen wurde nach und nach so unerträglich, daß wir beschlossen, diese so weit zu verbreitern, daß wir auch liegen konnten. Wir machten uns alle an die Arbeit, und da wir diesmal feste Stützpunkte unter den Füßen hatten, kamen wir sehr rasch damit zu stande.

Welche Wohlthat war es, als wir uns nun der ganzen Länge nach ausstrecken konnten, statt immer mit baumelnden Füßen auf der nämlichen Stelle sitzen zu müssen.

Obgleich uns das Stück Brot Carrorys nur in ganz kleinen Portionen zugeteilt worden war, hatten wir doch den letzten Bissen verzehrt. Als uns der Magister das letzte Stückchen verabreicht hatte, verrieten die Blicke der Häuer nur allzu deutlich, daß sie nicht mehr länger zugesehen und sich gewaltsam Nahrung zugeeignet hätten, wenn noch etwas dagewesen wäre.

So gesprächig wir anfangs waren, so schweigsam wurden wir nach und nach, und schließlich sprachen wir fast gar nichts mehr.

Wie lange befanden wir uns hier? Waren es zwei oder sechs Tage? Erst im Augenblick der Erlösung konnten wir es erfahren, vorausgesetzt, daß dieser überhaupt noch kam. Ich für meine Person zweifelte nachgerade stark daran.

Uebrigens schien ich damit nicht allein zu sein, denn einzelne Seufzer und Ausrufe verrieten mir, daß meine Gefährten auch von Zweifeln verzehrt wurden.

Nur der Magister schien sich vorgenommen zu haben, uns nicht nur gegen die Folgen der Katastrophe, sondern auch gegen uns selbst zu beschützen, und immer wieder suchte er uns zu ermutigen.

»Ich habe euch doch schon mehr als zwanzigmal vorgerechnet, daß die Pumpen lange schöpfen müssen, ehe sie des Wassers Herr werden. Habt nur Geduld!«

»Deine Berechnung bringt uns jedenfalls nicht da heraus!« diese Ueberlegung kam von Pagès.

»Wer dann?«

»Der liebe Gott.«

»Wohl möglich,« entgegnete der Magister, »da er uns hereingebracht hat, kann er uns auch wieder hinaushelfen.«

»Er und die Mutter Gottes; auf diese beide setze ich mein Vertrauen, und nicht auf die Steiger. Als ich eben zur Mutter Gottes betete, fühlte ich einen leisen Hauch an meinem Ohr und eine Stimme sprach: Wenn du von jetzt an als guter Christ leben willst, so sollst du gerettet werden. Und ich habe es gelobt.«

»Ist das ein Esel mit seiner Mutter Gottes,« rief Bergounhoux und richtete sich auf.

Pagès war Katholik und Bergounhoux Calvinist, weshalb sie über die Macht und Bedeutung der heiligen Jungfrau natürlich ganz verschiedener Meinung waren und sich nun darüber zu zanken anfingen.

Gleichzeitig hatten sie sich erhoben auf ihrem engen Absatz und waren drauf und dran, thätlich zu werden.

Der Magister stieg über die Schulter Onkel Gaspards auf den oberen Absatz hinauf und warf sich zwischen sie.

»Wenn ihr euch prügeln wollt,« sagte er, »so wartet wenigstens, bis ihr wieder über Tage seid!«

»Wenn wir aber nicht mehr hinaufkommen?« entgegnete Bergounhoux.

»So ist bewiesen, daß du recht, und Pagès unrecht hatte, da er ja auf sein Gebet die Antwort erhalten hat, er werde gerettet werden.«

Die Antwort hatte das Verdienst, beide Teile zufriedenzustellen, und der Streit legte sich, aber unsre Gedanken hatten dadurch eine düstere Färbung angenommen und ließen sich durch nichts mehr erheitern.

»Ich glaube fest, daß ich hinauskomme,« erklärte Pagès nach einer Weile, »aber offenbar befinden wir alle uns nur hier, weil sich unter uns schlechte Menschen befinden, die Gott züchtigen will.«

Dabei schleuderte er Bergounhoux einen bedeutungsvollen Blick zu, allein der Häuer wurde nicht zornig, sondern bestätigte die Worte seines Gegners.

»Das steht fest,« sagte er, »daß Gott einem unter uns Gelegenheit geben will, Buße zu thun und eine Schuld zu sühnen. Ist's Pagès? Bin ich's? Ich weiß es nicht. Ich für meine Person kann nur sagen, daß ich mit ruhigerem Gewissen vor Gottes Thron treten würde, wenn ich in den letzten Jahren ein bessrer Christ gewesen wäre, und ich flehe inbrünstig zu ihm um Vergebung meiner Sünden.«

Mit diesen Worten sank er auf seine Kniee nieder und schlug sich an die Brust.

»Und ich,« rief Pagès, »will gewiß nicht behaupten, ich habe keine Sünden auf dem Gewissen – im Gegenteil, das beichte ich euch allen, aber mein guter Engel und der heilige Johannes, mein Schutzpatron, wissen, daß ich nicht absichtlich gesündigt und niemand wissentlich unrecht gethan habe.«

Ich weiß nicht, war es die Einwirkung dieses düsteren Gefängnisses, Todesangst, Magenschwäche oder der geheimnisvolle Lichtschimmer, den unser einziges Lämpchen über diese merkwürdige Scene goß, aber ich fühlte mich wirklich von diesem öffentlichen Sündenbekenntnis so tief ergriffen, daß ich ganz bereit gewesen wäre, mit Pagès und Bergounhoux niederzuknieen und zu beichten.

Plötzlich hörte ich hinter mir laut aufschluchzen: ich drehte mich um und sah den riesigen Compeyrou auf beiden Knieen liegen.

»Der Sünder bin ich,« rief er. »Mich will der liebe Gott strafen, aber ich bereue, ich bereue! Hört die Wahrheit, die ganze Wahrheit: ich schwöre, das Unrecht gut zu machen, wenn ich wieder ans Tageslicht komme, und erlebe ich das nicht, so müßt ihr es gut machen. Vor einem Jahr ist Rouquette zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden, weil er in dem Zimmer der Mutter Vidal eine Uhr gestohlen hat. Er ist unschuldig! Ich hab's gethan, und die Uhr liegt unter meinem Bett versteckt; unter der dritten Steinfliese werdet ihr sie finden.«

»Ins Wasser, ins Wasser mit ihm!« riefen Pagès und Bergounhoux, wie mit einer Stimme.

Wären sie noch mit Compeyrou, der längst mit Carrory den Platz gewechselt hatte, auf einem Absatz gewesen, so hätten sie ihn ohne Zweifel in den Abgrund gestoßen, nun aber legte sich der Magister ins Mittel, ehe sie zu uns heruntersteigen konnten.

»Laßt ihm Zeit zur Reue,« rief er; »soll er mit diesem Verbrechen vor Gottes Thron treten?«

»Ich bereue, ich bereue!« wimmerte Compeyrou, schwach, wie ein Kind, trotz seiner herkulischen Stärke.

»Ins Wasser mit ihm!« wiederholten die beiden andern.

»Nein!« schrie der Magister. »Ich verteidige ihn, und wenn ihr ihn ins Wasser werfen wollt, so müßt ihr mich auch mit hinunterstoßen!«

»Gut, so wollen wir ihn nicht ins Wasser werfen, aber nur unter der Bedingung, daß du ihn allein in seinem Winkel liegen läßt und daß sich niemand um ihn kümmert oder mit ihm spricht.«

»Das ist nicht mehr als billig,« sagte der Magister, »das hat er wohl verdient.«

Nachdem das Urteil über Compeyrou gefällt war, rückten der Onkel Gaspard, der Magister und ich dicht zusammen, so daß ein leerer Raum zwischen uns und ihm entstand.

Stundenlang blieb er regungslos und zerknirscht auf der Erde liegen und stöhnte nur von Zeit zu Zeit: »Ich bereue, ich bereue!«

»Jetzt ist's zu spät,« rief Pagès ihm zu, »jetzt bereust du, weil du Angst hast! Vor einem Jahr hättest du bereuen sollen, du Feigling du! Jetzt ist's zu spät!«

Ohne ihnen direkt zu antworten, keuchte er wiederum mühsam: »Ich bereue, ich bereue!«

Offenbar war er von Fieber befallen worden; er bebte am ganzen Leib, und man hörte seine Zähne klappern.

»Ich habe Durst,« sagte er, »gebt mir den Stiefel.«

Es war kein Wasser mehr in dem Stiefel, und ich stand auf, um welches zu holen, aber Pagès, der dies sah, rief mir zu, ich solle bleiben, und gleichzeitig hielt mich Onkel Gaspard am Arm zurück.

»Wir haben uns das Wort gegeben, uns nicht um ihn zu kümmern.«

Noch einigemal klagte er über Durst, als er dann aber sah, daß wir ihm nicht zu trinken geben wollten, stand er auf, um selbst ans Wasser hinunterzugehen.

»Er wird Schutt abbröckeln!« rief Pagès.

»Laßt ihm wenigstens seine Freiheit,« sagte der Magister.

Compeyrou hatte mich hinabgleiten sehen und legte sich nun auf den Rücken, um es ebenso zu machen: allein ich war leicht und geschmeidig, er dagegen schwer und unbeholfen. Kaum hatte er sich auf den Rücken gelegt, so gab auch schon die Kohlenschicht unter ihm nach, und ohne sich mit seinen ausgespreizten Beinen und seinen in der Luft fuchtelnden Armen halten zu können, glitt er in den schwarzen Schlund hinab. Das Wasser spritzte bis zu uns hinauf, dann schloß es sich über seiner Beute.

Ich beugte mich vor, aber Onkel Gaspard und der Magister hielten mich je an einem Arm zurück.

»Jetzt sind wir gerettet,« riefen Bergounhoux und Pagès, »jetzt kommen wir von hier heraus.«

Tieferschüttert, halb tot vor Schrecken und Entsetzen sank ich zurück.

»Es war kein rechtschaffener Mensch,« sagte Onkel Gaspard.

»Und schmälerte unsern Anteil an Sauerstoff,« murmelte der Magister vor sich hin.

Ich hörte dies Wort zum erstenmal und fragte den Magister, was er damit habe sagen wollen.

»Etwas Ungerechtes und Selbstsüchtiges, mein Junge, und das ist mir leid.«

»Aber was denn?«

»Der Mensch lebt von Brot und von Luft: Brot haben wir gar keines, und an Luft sind wir auch nicht mehr viel reicher, denn die, die wir verbrauchen, erneuert sich nicht, und deshalb sagte ich, als ich ihn verschwinden sah, er werde uns nun keine Luft mehr verzehren – ich werde mir dies Wort zeitlebens zum Vorwurf machen.«

»Na,« sagte Onkel Gaspard, »du kannst dich beruhigen – er hat sein Schicksal nicht gestohlen.«

»Jetzt wird noch alles wieder recht werden,« rief Pagès und schlug mit seinen beiden Füßen an die Wandungen der schwebenden Strecke.

 

Ging auch nicht alles so gut und schnell als Pagès hoffte, so war dies doch keineswegs der Fehler der Obersteiger und Arbeiter, die an unsrer Rettung arbeiteten, denn sie waren bei der Abteufung des Ganges, den sie unablässig weitertrieben, auf so große technische Schwierigkeiten gestoßen, daß sie am siebenten Tag unsrer Gefangenschaft erst zwanzig Meter tief gedrungen waren. Allerdings hätte diese Arbeit unter andern Verhältnissen einen Zeitraum von mindestens einem Monat erfordert, aber bei den Arbeitskräften und dem Feuereifer, die hier am Werk waren, wollte es nur wenig heißen, und es gehörte die ganze edle Beharrlichkeit unsres Obersteigers dazu, die begonnene Arbeit, die man allgemein für ganz vergeblich hielt, fortzusetzen. Jedenfalls, sagte man, seien alle Bergleute verloren, und es handle sich nur noch darum, die Grube auszupumpen, und dann werde man eines schönen Tages auch die Leichname finden. Was lag also daran, ob man einige Stunden früher oder später eindrang?

Das war die Ansicht der Sachverständigen und des Publikums: selbst die Verwandten, die Frauen und die Mütter der Grubenarbeiter hatten Trauer angelegt – sie waren überzeugt, daß keiner lebend aus La Truyère hervorgehen werde.

All dieser Einwendungen ungeachtet ließ der Obersteiger neben den Wasserhebungsarbeiten auch den Gang weitertreiben – durch solche Beharrlichkeit hat Kolumbus die neue Welt entdeckt.

Aber wie reich belohnt fühlte sich auch der wackere Mann, als am siebenten Tag, bei einer Ablösung des Häuers, einer der Arbeiter einen schwachen Ton, wie leichtes Klopfen zu hören vermeinte. Er glaubte sich zu täuschen und rief einen seiner Kameraden herbei, mit ihm zu lauschen. Schweigend horchten beide eine Weile, und dann drang ein schwacher, in regelmäßigen Pausen sich wiederholender Ton bis zu ihnen herauf.

Die frohe Kunde flog von Mund zu Mund, stieß aber auf mehr Zweifel als Glauben. Der Obersteiger stürzte in den Gang. Also hatte er doch recht gehabt! Da drunten befanden sich lebende Menschen, die man noch retten konnte!

Mehrere Personen waren ihm gefolgt; er schob die Bergleute beiseite, zitterte aber so vor Aufregung, daß er nichts hören konnte.

»Ich höre nichts,« sagte er verzweiflungsvoll.

»Das ist der Berggeist, der uns einen Streich spielen will und nur klopft, um uns zu täuschen,« sagte ein Arbeiter.

Aber die beiden Häuer behaupteten steif und fest, sie hätten sich nicht getäuscht und das Klopfen sei Antwort gewesen auf ihre Schläge. Es waren erfahrene, in den Gruben altgewordene Männer, auf deren Worte etwas zu geben war.

Der Obersteiger hieß alle hinausgehen und behielt nur die beiden Häuer bei sich zurück.

Nun klopften sie in kräftigen, regelmäßigen Schlägen das Sammelsignal der Bergleute und drückten sich mit angehaltenem Atem an die Wand, um zu horchen. Nach wenigen Augenblicken vernahmen sie schwache, hastige aber regelmäßige Schläge. Um ihrer Sache ganz sicher zu sein, klopften sie nochmals, worauf sie die nämliche Antwort erhielten.

Es war kein Zweifel mehr möglich: da unten waren Männer am Leben, die man noch retten konnte.

»Wie ein Lauffeuer durcheilte die Kunde die Stadt, und eine noch größere, noch erregtere Menge als am Tag der Katastrophe strömte nach der Grube hinaus. Frauen, Mütter, Kinder und Verwandte der Opfer kamen und zitterten und strahlten vor Hoffnung in ihren Trauergewändern.

Wieviele mochten wohl noch am Leben sein? Vielleicht sehr viele. Meiner jedenfalls – vielleicht auch der Eure ...

Man wollte den Obersteiger umarmen, aber dieser blieb gegen die Ausbrüche der Freude so unempfindlich, als er es gegen Zweifel und Spott gewesen war, und dachte an nichts, als an das Rettungswerk, das er nun um so mehr beschleunigen mußte. Statt eines Ganges ließ er nun deren drei abteufen, weil die vernommenen Schläge so schwach gewesen waren, daß sich danach nicht beurteilen ließ, wo sich die Gefangenen befanden.

Eifriger als je wurde jetzt gearbeitet, die benachbarten Gewerkschaften schickten um die Wette ihre besten Häuer nach La Truyère, und die Hoffnung, die durch die Abbäue genährt wurde, wurde noch verstärkt durch die Aussicht, über die Strecke zu den Verunglückten gelangen zu können, denn in den Schächten sank das Wasser.

 

Als wir das von dem Obersteiger geklopfte Signal vernahmen, schrieen wir laut auf vor Freude und erwarteten, ohne weiter nachzudenken, man werde uns nun sofort die Hand reichen und uns herausholen.

Aber dann kam wiederum ein Rückschlag, und die Freude mußte der Verzweiflung weichen.

Das Klopfen der Häuer verriet, daß die Arbeiter uns noch sehr ferne waren – vielleicht noch zwanzig, dreißig Meter. Wie lange würden sie noch brauchen, um bis zu uns durchzudringen? Unsre Vermutungen gingen weit auseinander und schwankten von sechs Tagen bis zu einem Monat. Wie sollten wir noch einen Monat, eine Woche oder auch nur sechs Tage ausharren können? Wer von uns würde in sechs Tagen noch leben? Wie viele Tage waren wir schon ohne Nahrung geblieben?

Nur der Magister zeigte noch einigen Mut, schließlich wurde aber auch er von unsrer hoffnungslosen Niedergeschlagenheit angesteckt. Wohl hatten wir Wasser genug zu trinken gehabt, aber schließlich hatte uns der Hunger dermaßen gequält, daß wir faules Holz im Wasser zerkrümmelten und verschlangen.

Carrory, der gierigste von uns allen, hatte den einen ihm noch gebliebenen Stiefel zerschnitten und kaute nun beständig das Leder.

Als ich sah, zu was der Hunger meine Gefährten trieb, fiel mir eine Schauergeschichte ein, die mir Vitalis einmal erzählt hatte: schiffbrüchige Matrosen hatten den Schiffsjungen getötet und verzehrt. Wie nun, wenn mir auf unsrem öden Kohleneiland das nämliche Schicksal beschieden war, wie dem armen Schiffsjungen! Wohl würden der Magister und Onkel Gaspard mich verteidigen, aber den übrigen traute ich nicht über den Weg, am allerwenigsten vertrauenerweckend schien mir aber Carrory mit seinen weißen Zähnen, die er an dem Schuhleder wetzte.

Das waren zweifelsohne tolle Befürchtungen, aber unsre Lage war auch danach! Die tiefe Finsternis, in der wir uns befanden, erhöhte noch unser Grauen und Entsetzen. Eine Lampe um die andre war erloschen, und als wir nur noch zwei mit Oel versehene Lampen besaßen, hatte der Magister angeordnet, daß sie für den äußersten Notfall aufgespart werden sollten. Seither lebten wir also in völliger Finsternis, was nicht nur sehr unheimlich, sondern auch sehr gefährlich war, da wir durch eine einzige ungeschickte Bewegung ins Wasser hinabrollen konnten.

Seit dem Tod Compeyrous waren wir nur noch zu dreien auf unsrem Absatz und hatten deshalb ein wenig mehr Platz: die eine Ecke hatte der Magister, die andre der Onkel Gaspard inne und ich befand mich zwischen diesen beiden.

Manchmal, wenn wir aus dem Halbschlaf aufschreckten, während dessen wir von Himmel und Erde, von Essen und Trinken träumten, pochten wir an die Wandungen, um unsern Rettern zu zeigen, daß wir noch am Leben seien, aber nur langsam, furchtbar langsam gewannen die bis zu uns dringenden Schläge ihrer unermüdlich weiterarbeitenden Keilhauen an Stärke.

Einmal wurde die Lampe angezündet, und ich glitt hinab, um im Stiefel Wasser zu schöpfen, und da entdeckte ich, daß das Wasser im Loch um einige Centimeter gesunken war.

»Das Wasser fällt.«

»O Gott!«

Nochmals gerieten wir in einen wahren Hoffnungstaumel. Man wollte die Lampe brennen lassen, um den Rückgang der Fluten beobachten zu können, aber trotz des stürmischen Widerspruchs, der sich gegen ihn erhob, bestand der umsichtige Magister darauf, daß sie wieder ausgelöscht wurde. Dagegen versprach er, von Zeit zu Zeit eine anzünden zu lassen, um zu sehen, wie die Sache stand.

Wir hatten alle zur Genüge getrunken und brüteten nun wieder stunden-, vielleicht tagelang unbeweglich vor uns hin, während unser Lebensflämmchen nur durch das nach und nach immer stärker werdende Geräusch der Pumpen und der Hauen angefacht wurde.

Es war kein Zweifel, die Wasser sanken, und mit dem Abbau kam man uns immer näher – aber würde man noch rechtzeitig zu uns gelangen? Wohl schritt die Arbeit unsrer Retter von Minute zu Minute fort, doch wurde auch unsre körperliche und geistige Schwäche immer größer und quälender. Seit dem Tag der Ueberschwemmung hatten meine Gefährten nichts mehr gegessen, und – was noch viel schrecklicher war – wir atmeten eine Luft ein, die von Tag zu Tag ungesunder und schädlicher wurde. Glücklicherweise verminderte sich der atmosphärische Druck in demselben Maß, in dem das Wasser sank; wäre er so stark geblieben als in den ersten Stunden, so wären wir unfehlbar am Schlag gestorben. Schon das kleinste Aufhören der zu uns herabdringenden regelmäßigen Töne versetzte uns in fieberhafte Aufregung, und nun entstand während einer dieser durch die Ablösung der Häuer veranlaßten Unterbrechungen ein ganz entsetzliches Getöse, ein gewaltiges Brausen – später erfuhren wir, daß es von dem Ventilator herrührte, der aufgestellt worden war, um den an unsrer Befreiung arbeitenden Häuern frische Luft zuzuführen.

»Neue Fluten stürzen in die Grube!« rief Carrory.

»Das ist kein Wasser,« sagte der Magister.

»Das Wasser wird steigen, und diesmal heißt es sterben!«

»Nun, dann mache ich lieber gleich ein Ende, ich kann nicht mehr!«

»Zünde die Lampe an, Magister! Ich will noch an meine Frau und Kinder schreiben.«

»Schreib auch für mich!«

»Und für mich.«

Es war Bergounhoux, der die Lampe verlangt hatte, um, ehe er starb, seiner Frau und seinen Kindern einen letzten Gruß zu senden; er zog ein Stück Papier und ein Endchen Bleistift aus der Tasche und fing zu schreiben an.

»Wir, Gaspard, Pagès, der Magister, Carrory und Remi sind hier in der schwebenden Strecke eingeschlossen und dem Tode nah.«

»Ich – Bergounhoux – flehe zu Gott, er möge meiner Witwe den Mann und meinen Waisen den Vater ersetzen. Ich sende ihnen meinen Segen.«

»Und du Gaspard?«

»Gaspard hinterläßt alles, was er besitzt, seinem Neffen Alexis.«

»Du, Magister?«

»Ich habe niemand,« sagte der Magister betrübt, »um mich wird niemand trauern.«

»Du, Carrory?«

»Ich wünsche, daß man meine Kastanien verkauft, ohne sie zuvor zu rösten.«

»Wir haben unser Papier nicht für Dummheiten.«

»Das ist keine Dummheit.«

»Willst du denn niemand mehr einen Gruß schicken? Deiner Mutter?«

»Meine Mutter beerbt mich.«

»Und du, Remi?«

»Remi schenkt seine Harfe und Capi dem Mattia; er umarmt Alexis und bittet ihn, Lieschen aufzusuchen, ihr seinen letzten Kuß und eine getrocknete Rose zu bringen, die in seiner Jacke steckt.«

»Nun müssen wir alle unterschreiben.«

»Ich mache ein Kreuz,« sagte Pagès.

»So,« sagte Bergounhoux, »jetzt bitte ich, daß niemand mehr mit mir spricht und man mich in Ruhe sterben läßt. Lebt wohl, Kameraden!«

Damit kam er von seinem Absatz herunter und küßte uns drei, stieg wieder auf den seinen hinauf, umarmte auch Pagès und Carrory, raffte ein Häufchen Kohlenstaub zusammen, legte den Kopf darauf, streckte sich der Länge nach aus und rührte sich nicht mehr.

Durch das Briefschreiben und Bergounhoux' gänzliche Hoffnungslosigkeit wurden wir natürlich nicht ermutigt, und gleichwohl waren die Schläge der Häuer immer näher gekommen, und der Magister erklärte, sie müßten uns bald erreichen; stieß aber damit auf allgemeinen Unglauben.

Bald darauf hörten wir ein eigentümliches Scharren auf dem Kohlenschiefer der schwebenden Strecke und ein Plätschern im Wasser, als ob kleine Kohlenstückchen hineingefallen wären.

Man zündete die Lampen an, und wir sahen, daß es Ratten waren, die, wie wir in einer Luftglocke Zuflucht gefunden hatten und nun, da das Wasser gesunken war, ihren Schlupfwinkel verließen, um Nahrung zu suchen. Daß sie bis zu uns gelangt waren, lieferte den sichersten Beweis dafür, daß das Wasser nicht mehr bis zu den »Firsten« ging.

Die Ratten waren für uns, was für Noah in der Arche die Taube mit dem Oelblatt gewesen ist – sie verkündeten uns das Ende der Sündflut.

»Bergounhoux,« rief der Magister, »fasse wieder frischen Mut.«

»Damit ich noch einmal enttäuscht in Verzweiflung zurückfalle! Nein, ich will nicht mehr hoffen; ich bin auf das Sterben gefaßt – kommt dennoch die Rettung, so sei Gott gelobt und gepriesen.«

Ich war ans Ende der schwebenden Strecke hinabgeglitten, um nach dem Wasserstand zu sehen, und fand nun einen großen leeren Raum zwischen dem Wasser und der »Firste« des Stollens.

»Fange uns Ratten zum Essen,« rief Carrory.

Aber, um Ratten zu fangen, hätte man flinker sein müssen, als ich es war; indessen fühlte ich mich durch die Hoffnung so neu belebt, daß ich auf unsren Absatz zurückkehrte und sagte: »Magister, ich habe einen Gedanken: daß die Ratten sich im Stollen herumtreiben, beweist, daß man durchkommen kann. Ich will bis an die ›Fahrten‹ schwimmen und rufen, dann kommen sie und holen uns – das geht viel schneller als durch die neuen Abbäue.«

»Das verbiete ich dir!«

»Aber, Magister, ich schwimme wie ein Fisch!«

»Aber die schlechte Luft?«

»Die Ratten kommen ja auch durch, und die Luft wird für mich nicht schlechter sein, als für sie.«

»Geh, Remi,« rief Pagès, »ich schenke dir auch meine Uhr.«

»Gaspard, was sagt Ihr dazu?« fragte der Magister.

»Nichts: wenn er glaubt, bis zu den ›Fahrten‹ kommen zu können, so soll er gehen – ich habe nicht das Recht, ihn davon abzuhalten.«

»Und wenn er ertrinkt?«

»Und wenn er sich retten kann, statt hier in Erwartung ohne Hilfe zu sterben?«

Der Magister überlegte noch einen Augenblick, dann ergriff er meine Hand: »Du hast Mut, Kleiner, thue was du willst; ich halte das, was du vorhast, für unmöglich, aber es wäre nicht zum erstenmal, daß das Unmögliche glückt. Gib mir einen Kuß!«

Ich küßte auch den Onkel Gaspard und stieg dann, nachdem ich meine Kleider ausgezogen hatte, ins Wasser hinab.

»Ihr müßt aber immer rufen,« sagte ich, ehe ich zu schwimmen anfing, »damit ich mich nach euren Stimmen zurechtfinden kann.«

Nun war die Frage die, ob der leere Raum unter der Firste des Stollens groß genug war, um mich frei bewegen zu können. Davon hing alles ab.

Nach einigen Stößen fand ich, daß ich gut schwimmen konnte und mich nur hüten mußte, mich allzurasch zu bewegen, damit ich den Kopf nicht anstieß. Das Abenteuer, das ich unternommen hatte, war also ausführbar, aber was winkte am Ziel – Tod oder Rettung?

Ich blickte zurück und sah das Licht der Lampe sich auf den schwarzen Fluten wiederspiegeln – ich hatte also einen Leuchtturm.

»Geht dir's gut?« rief der Magister.

»Ja!«

Vorsichtig schwamm ich weiter.

Da in der Nähe unsrer schwebenden Strecke sich mehrere Stollen kreuzten, lag für mich die Schwierigkeit darin, mich in der Dunkelheit nicht zu verirren und den Weg nach den »Fahrten« zu finden; dazu hatte ich auf dem Boden der Förderstrecke einen sichren Wegweiser in den Schienen; ich brauchte nur diesen zu folgen, so war ich sicher, an die »Fahrten« zu gelangen. Von Zeit zu Zeit tastete ich mit dem Fuß nach den eisernen Geleisen, mit diesen unter und den Stimmen meiner Gefährten hinter mir, konnte ich mich nicht verirren.

Die immer schwächer werdenden Stimmen und das immer lauter werdende Stampfen der Pumpen, bewiesen, daß ich vorwärts kam. Endlich sollte ich also das Tageslicht wieder schauen, und durch mich würden meine Genossen gerettet werden! Dieser Gedanke hielt meine Kräfte aufrecht!

Aber plötzlich fühlte mein Fuß die Schienen nicht mehr, die er suchte, ich tauchte unter, um sie mit den Händen zu suchen, aber es war vergeblich! Ich ging von einer Seite des Stollens zur andern, allein ich fand nichts! – Nach einer Weile versuchte ich mein Heil zum zweitenmal, war aber nicht glücklicher, als beim ersten Tauchen – keine Geleise!

Ohne es zu merken, war ich von der Förderstrecke ab in einen andern Stollen geraten, und mußte nun umkehren.

Aber wie? Meine Kameraden riefen entweder nicht mehr, oder, was für mich aufs gleiche herauskam, hörte ich nicht mehr; ich war also dem Untergang preisgegeben und fühlte mich einen Augenblick völlig gelähmt von Todesangst – da, plötzlich ertönten die Stimmen aufs neue, und ich wußte wieder, wohin ich mich zu wenden hatte.

Nach etwa zwölf Stößen tauchte ich nochmals unter und fand das Geleise wieder, also mußte hier die Kreuzungsstelle sein; ich suchte die Drehscheibe, die Einmündung der Stollen, allein ich fand sie nicht; rechts und links, überall stieß ich an die Seitenwandungen an.

Ich verfolgte die Schienen so weit sie gingen – plötzlich waren sie zu Ende, und nun erst begriff ich, daß die Wasserfluten die Geleise weggerissen hatten. Unter diesen Umständen mußte ich von meinem Vorhaben abstehen und zu meinen Kameraden zurückkehren, deren Stimmen mich in die schwebende Strecke zurückführten.

»Komm nur, komm!« rief mir der Magister entgegen.

»Ich habe den Durchgang nicht finden können.«

»Das thut nichts; der Durchstich schreitet gewaltig fort; wir hören uns gegenseitig, und bald können wir mit ihnen sprechen.«

Nach der ersten Freude über diese Botschaft fühlte ich, daß ich durch und durch kalt und erstarrt war; da aber keine warmen Kleider da und nichts zum Abtrocknen vorhanden war, grub man mich bis an den Hals in den Kohlengries ein, der immer eine gewisse Wärme behält, und Onkel Gaspard und der Magister drückten sich fest an mich. Dann berichtete ich ihnen über meine Entdeckungsreise und erzählte, wie ich die Schienen verloren hatte.

»Du hast gewagt, unterzutauchen?«

»Warum nicht? Nur habe ich leider nichts gefunden.«

Aber wie der Magister gesagt hatte, war das jetzt nicht mehr von Belang; denn nun war unsre Rettung durch den Abbau so gut wie gesichert.

Die Zurufe wurden immer deutlicher, und bald konnten wir die langsam gesprochenen Worte verstehen: »Wie viele seid ihr?«

Onkel Gaspard, der von uns allen am lautesten und deutlichsten sprach, erwiderte: »Sechs.«

Draußen blieb es still; offenbar hatten sie eine größere Zahl erhofft.

»Beeilt euch,« rief Onkel Gaspard, »unsre Kräfte sind zu Ende.«

»Eure Namen?«

Er nannte unsre Namen.

Für die oben Versammelten war dies wohl der ergreifendste Augenblick. Sobald sie erfahren hatten, daß man mit uns in Verbindung treten könne, waren die Angehörigen und Freunde der verunglückten Grubenarbeiter herbeigeeilt, und nur mit Mühe war die Menge am Eingang des Stollens zurückzuhalten.

Als der Obersteiger verkündete, daß wir nur unsrer sechs seien, waren alle schmerzlich enttäuscht, aber doch gab noch keiner die Hoffnung auf, denn unter diesen sechs mußte sich doch der ersehnte Eine befinden!

Nun wiederholte er auch unsre Namen.

Ach! Von hundertundzwanzig Müttern oder Frauen sahen nur vier ihre Hoffnung verwirklicht! Welcher Jammer, welche Thränenströme!

Auch wir dachten an die, die hätten gerettet werden sollen.

»Wie viele sind gerettet worden?« fragte Onkel Gaspard.

Man antwortete nicht.

»Frage, wo Marius ist,« bat Pagès.

Auch auf diese Frage blieb man die Antwort schuldig.

»Sie haben's nicht gehört.«

»Sag lieber, sie wollen nicht darauf antworten.«

»Fragen Sie doch, wie lange wir hier sind,« sagte ich.

»Vierzehn Tage.«

Vierzehn Tage. Selbst die unter uns, die in ihren Berechnungen am höchsten gegriffen hatten, waren über fünf oder sechs Tage nie hinausgekommen.

»Faßt Mut! Nur noch wenige Stunden, und ihr seid befreit! Jetzt ist aber genug gesprochen, das verzögert nur die Arbeit.«

Ich glaube, diese wenigen Stunden waren die längsten während unsrer ganzen Gefangenschaft.

Von Zeit zu Zeit wurden wieder neue Fragen an uns gerichtet.

»Seid ihr sehr hungrig?«

»Ja, sehr.«

»Könnt ihr noch warten? Wenn ihr allzu schwach seid, macht man ein Bohrloch und läßt euch Suppe herunter, aber dadurch wird eure Befreiung verzögert; könnt ihr warten, so kommt ihr schneller heraus.«

»Wir warten – macht nur voran!«

Die Pumpen hatten ihre Thätigkeit nicht eine Minute eingestellt, und das Wasser nahm stetig ab.

»Das Wasser sinkt!« meldete der Magister nach oben.

»Wir wissen es und kommen durch den neuen Abbau oder durch die Stollen in Bälde zu euch.«

Die Schläge der Häuer wurden schwächer, offenbar glaubten sie, jeden Augenblick durchzustoßen, und wandten jede Vorsicht an, um nicht einen Einsturz zu verursachen, der uns hätte erschlagen oder in das Wasser hinunterreißen können. Außerdem hatten wir, wie uns der Magister erklärte, auch die Ausdehnung der Luft zu fürchten, die sich mit der Gewalt einer Kanonenkugel durch das erste Loch Bahn brechen und alles über den Haufen werfen würde. Wir mußten also immer so scharf auf unsrer Hut sein, wie die Häuer draußen.

Schon bröckelten unter den Schlägen der Keilhauen kleine Kohlenstückchen und rollten ins Wasser hinab, aber merkwürdigerweise wurden wir immer schwächer, je näher der Augenblick unsrer Befreiung kam: ich wenigstens hatte nicht mehr die Kraft, mich aufrecht zu halten, und lag unfähig, mich auch nur auf den Arm zu stützen, in meinem Kohlengries; ich zitterte und fror doch gar nicht.

Endlich stürzten auch größere Stücke herab: der Durchstich war gemacht, und wir wurden ganz geblendet von der Helle der Lampen; aber sofort waren wir aufs neue in Finsternis versunken, denn ein furchtbarer Wirbelwind, der Kohlen und Schutt aller Art mit sich riß, hatte sie ausgelöscht.

»Es ist nur der Luftzug, habt keine Angst, man zündet die Lampen draußen wieder an. Wartet nur ein wenig.«

Warten, immer warten!

Aber im nämlichen Augenblick wurde es laut im Stollen; ich drehte mich um und wurde eine große Helle gewahr, die sich auf dem plätschernden Wasser auf uns zu bewegte.

»Mut! Mut!« rief man, und während sich den Männern auf dem oberen Absatz Hände entgegenstreckten, drang man durch den Stollen bis zu uns.

Der Obersteiger war an der Spitze; er erkletterte zuerst die schwebende Strecke, und ehe ich ein Wort hatte sagen können, lag ich in seinen Armen.

Es war die höchste Zeit; meine Sinne schwanden. Aber trotzdem fühlte ich noch, daß man mich in Decken einhüllte und hinaustrug. Ich schloß die Augen, aber bald zwang mich eine Art Blendung, sie wieder zu öffnen.

Es war das Tageslicht, wir waren im Freien!

Ein weißer Gegenstand warf sich auf mich – es war Capi, der mit einem Satz dem Obersteiger in die Arme gesprungen war und mir das Gesicht leckte. Währenddem fühlte ich, daß auch meine rechte Hand ergriffen und geküßt wurde.

»Remi,« sagte Mattia mit leiser Stimme. Nun blickte ich um mich und sah eine ungeheure Menschenmenge, die sich teilte, um uns Raum zu geben. Alles schwieg, denn man hatte den Leuten anempfohlen, uns nicht durch Zurufe aufzuregen, aber ihre ganze Haltung, ihre Blicke sprachen statt ihrer Lippen.

In der ersten Reihe glaubte ich weiße Chorhemden und in der Sonne glitzernde, goldene Ornamente zu bemerken – die Geistlichkeit von Varses, die am Eingang der Grube für unsre Errettung gebetet hatte und nun bei unserm Erscheinen im Staube niederkniete.

Zwanzig Arme streckten sich mir entgegen, aber der Obersteiger, glücklich und stolz über seinen Erfolg, gab mich nicht ab, sondern trug mich selbst in die Kanzlei, wo für uns alle Betten bereitstanden.

Zwei Tage später ging ich mit Mattia, Alexis und Capi in den Straßen von Varses spazieren, und alles blieb stehen, um mich anzusehen. Manche kamen mit thränenden Augen auf mich zu und drückten mir die Hand. Wieder andre wandten sich von mir ab – diese trugen Trauerkleider und fragten voll Bitterkeit, warum das Waisenkind gerettet worden sei, während die Leiche des Familienvaters oder des Sohnes noch als Spielball des Wassers in der Grube hin und her getrieben wurde.

Manche luden mich auch ins Kaffeehaus oder zum Essen ein, um sich alles ausführlich erzählen zu lassen, aber ich dankte ihnen, ohne ihrer Aufforderung nachzukommen. Viel lieber ließ ich mir von Alexis und Mattia erzählen, was sich unterdes über Tage ereignet hatte.

»Als ich mir sagte, du seiest für mich gestorben,« sagte Alexis, »da war ich wie gelähmt, denn ich glaubte sicher, du seiest tot.«

»Das hab' ich nie geglaubt,« erklärte Mattia. »Ich konnte ja nicht wissen, ob du lebend herauskommen würdest, aber davon war ich überzeugt, daß du dich nicht hattest ersäufen lassen, wie eine Ratte, und daß man dich noch irgendwie finden würde, wenn es nur mit den Rettungsarbeiten rasch genug vorwärts ging. Während Alexis dich beweinte, verzehrte mich fast die Angst, weil ich mir sagte, du seiest nicht tot, würdest aber vielleicht doch noch sterben müssen. Ich fragte alle Leute, wie lange man leben könne, ohne zu essen, wann das Wasser ausgeschöpft oder der Durchstich gemacht sein würde, aber niemand antwortete, wie ich es wünschte. Als man nach euren Namen fragte, und der Obersteiger nach Carrory, Remi rief, da hab' ich mich weinend auf die Erde geworfen; die Leute sind dann über mich weggelaufen; aber ich habe es gar nicht gespürt, so glücklich war ich.«

Ich war sehr stolz, daß Mattia ein so großes Vertrauen in mich gesetzt und nicht hatte glauben wollen, ich könnte sterben.


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