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Fünftes Kapitel.
Unterwegs

Wenn man auch Kinder zu vierzig Franken das Stück kauft, so braucht man deshalb doch noch lange kein Menschenfresser zu sein, der sich einen Vorrat von frischem Fleisch einthut, um ihn zu verzehren.

Vitalis wollte mich nicht verspeisen und war, was bei den Kinderkäufern allerdings eine Seltenheit ist, kein böser Mann, wovon ich bald den Beweis erhalten sollte.

Auf dem Grat des Berges, der das Stromgebiet der Loire und das der Dordogne scheidet, hatte er mich wieder bei der Hand genommen, und rasch waren wir den südlichen Abhang hinuntergestiegen.

Nachdem wir etwa eine Viertelstunde gegangen waren, ließ er meinen Arm los.

»Jetzt,« sagte er, »kannst du ruhig neben mir hergehen, aber vergiß nicht, daß Capi und Zerbino dich schnell gefaßt haben, wenn du versuchen würdest, durchzugehen; sie haben beide scharfe Zähne.«

Ich wußte, daß ich jetzt unmöglich entkommen konnte, und daß es also unnütz war, es zu versuchen.

Ich stieß einen Seufzer aus.

»Dir ist's schwer ums Herz,« fuhr Vitalis fort, »ich verstehe das und nehme dir's nicht übel. Du kannst offen weinen, wenn es dir danach zu Mute ist. Nur versuche dir klar zu machen, daß ich dich nicht zu deinem Unglück mit mir fortführe. Was wäre aus dir geworden? Höchst wahrscheinlich wärest du ins Findelhaus gekommen; die Leute, die dich aufgezogen haben, sind nicht deine Eltern. Deine Mama, wie du sie nennst, ist gut gegen dich gewesen, und du hast sie lieb; du bist trostlos, weil du von ihr fort mußt. Das ist alles gut und schön, aber du mußt bedenken, daß sie dich nicht gegen den Willen ihres Mannes hätte bei sich behalten können. Dieser Mann ist übrigens auch nicht so hart, als du glaubst. Er hat nichts zu leben; er ist verkrüppelt, kann nicht mehr arbeiten und denkt, er brauche auch nicht Hungers sterben, um dich zu ernähren. Suche schon heute zu verstehen, mein Junge, daß das Leben nur allzu oft ein Kampf ist, in dem man nicht thun kann, was man will.«

Ohne Zweifel waren dies Worte der Weisheit oder wenigstens der Erfahrung; aber in diesem Augenblick sprach eine Thatsache lauter als alle Worte, und dies war – die Trennung.

Ich sollte sie nicht wiedersehen, die mich erzogen, die mich geliebkost hatte, sie, die ich liebte – meine Mutter.

Dieser Gedanke schnürte mir die Kehle zusammen und drohte mich zu ersticken.

Unterdessen marschierte ich neben Vitalis weiter und suchte mir zu wiederholen, was er mir eben gesagt hatte.

Gewiß, es war alles wahr, Barberin war nicht mein Vater, und es lag kein Grund vor, der ihn genötigt hätte, für mich Hunger zu leiden; schickte er mich jetzt fort, so that er's, weil er mich nicht behalten konnte, und ich durfte nicht daran denken, sondern mußte mich der in seinem Hause glücklich verlebten Jahre erinnern.

»Ueberlege, was ich dir gesagt habe, Kleiner,« wiederholte Vitalis von Zeit zu Zeit, »du wirst dich gar nicht so unglücklich fühlen bei mir.«

Nachdem wir eine ziemlich steile Schlucht hinabgestiegen waren, langten wir auf einer unabsehbar weiten, mit roter Erika und einzelnen Wacholdergebüschen bedeckten Heide an.

»Du siehst,« sagte Vitalis und wies mit der Hand auf die öde, im Winde wogende Heide, »du siehst, daß es vergebliche Mühe wäre, davonzulaufen, denn Capi und Zerbino hätten dich schnell eingeholt.«

Ach Gott, ich dachte nicht mehr ans Davonlaufen. Wohin, zu wem hätte ich auch gehen sollen?

Schließlich war dieser große, alte Mann mit dem weißen Bart vielleicht ein ganz guter Herr und gar nicht so schlimm, als ich anfangs geglaubt hatte.

Lange wandelten wir dahin durch die trostlose Einöde, in der wir, soweit der Blick reichte, nichts sahen, als einige Hügel mit kahlen Gipfeln.

Ich hatte mir vom Reisen einen ganz andern Begriff gemacht, und wenn ich manchmal in meinen kindlichen Träumen mein Dorf vergessen hatte, so versetzte ich mich dann in wunderschöne Gegenden, mit denen die Wirklichkeit nicht die mindeste Aehnlichkeit hatte.

Zum erstenmal in meinem Leben machte ich einen derartigen Marsch in einem Zug, ohne mich auszuruhen.

Mein Herr ging mit großen, regelmäßigen Schritten immer zu und trug Herzblatt bald auf der Schulter, bald auf seinem Reisesack, während die Hunde sich dicht bei ihm hielten.

Von Zeit zu Zeit sagte ihnen Vitalis ein freundliches Wort, bald auf französisch, bald in einer mir fremden Sprache.

Weder er noch sie schienen an Müdigkeit zu denken, aber mit mir stand's anders; ich war völlig erschöpft; denn zu der körperlichen Abspannung hatte sich auch die gemütliche Aufregung gesellt und meine Kräfte aufgerieben.

Mühsam schleppte ich meine Beine nach und vermochte nur mit größter Anstrengung meinem Herrn zu folgen, trotzdem wagte ich nicht, ihn um eine Ruhepause zu bitten.

»Deine Holzpantoffeln machen dich so müde,« sagte er zu mir, »in Ussel kaufe ich dir Lederschuhe.«

Dies Wort machte mir wieder Mut.

In der That hatte ich mir nie etwas so glühend gewünscht, als Lederschuhe. Die Söhne des Schultheißen und die des Wirtes hatten auch solche, und wenn sie des Sonntags in die Messe kamen, so schritten sie lautlos über die Steinfliesen, während wir übrigen Jungen mit unsern Holzschuhen einen Höllenlärm verursachten.

»Ist es noch weit nach Ussel?«

»Das ist die Stimme des Herzens,« sagte Vitalis und lachte, »du möchtest also gerne Lederschuhe haben? Gut, ich verspreche dir welche, mit schönen Nägeln beschlagen, und auch eine Samthose, eine Jacke und einen Hut. Das trocknet hoffentlich deine Thränen und macht dir Füße für die sechs Meilen, die wir noch vor uns haben.«

Genagelte Schuhe! Ich war geblendet. Schon die Schuhe an und für sich waren etwas Wunderbares für mich, aber, als ich gar von Nägeln hörte, vergaß ich mein Leid.

Schuhe, genagelte Schuhe! Eine Samthose! Eine Jacke! Einen Hut!

Ach, wenn mich Mutter Barberin so sehen könnte – wie würde sie sich darüber freuen und wie stolz wäre sie auf mich!

Trotz der Schuhe und der Samthose, die mir am Ende der sechs Meilen winkten, glaubte ich doch, nicht mehr so weit gehen zu können.

Der bis dahin blaue Himmel hatte sich nach und nach mit grauen Wolken bedeckt, und bald fiel ein feiner Regen, der nicht mehr aufhörte.

Vitalis mit seinem Schaffell war dagegen geschützt und konnte auch Herzblatt, der sich beim ersten Regentropfen in sein Versteck verkrochen hatte, Zuflucht gewähren. Aber die Hunde und ich hatten nichts, um uns damit zu bedecken, und waren bald bis auf die Haut durchnäßt; selbst die Hunde waren besser daran als ich, denn sie konnten sich von Zeit zu Zeit schütteln, während mir dies natürliche Hilfsmittel versagte und ich unter einem Gewicht marschieren mußte, das mich fast erdrückte und erstarrte.

»Erkältest du dich leicht?« fragte mein Herr.

»Ich weiß nicht, ich glaube nicht, daß ich jemals einen Schnupfen hatte.«

»Das ist gut, sehr gut, aber ich will dich doch nicht unnötig einer Erkältung aussetzen; heute gehen wir nicht mehr weiter. Dort drüben liegt ein Dorf, in dem wollen wir übernachten.«

In dem Dorf gab es kein Wirtshaus, und niemand wollte einen Mann aufnehmen, der eine Art Bettler zu sein schien und einen Jungen und drei Hunde mit sich führte, von denen der eine so schmutzig war, als der andre.

»Hier gibt's kein Nachtquartier,« sagte man und schlug uns die Thüren vor der Nase zu. So gingen wir von Haus zu Haus, aber nirgends wurde uns aufgethan.

Endlich erklärte sich ein Bauer, der barmherziger war als seine Nachbarn, bereit, uns eine Scheuer aufzuschließen, unter der Bedingung, daß wir kein Licht machten.

»Gebt mir Eure Streichhölzer,« sagte er zu Vitalis, »ich gebe sie Euch morgen früh zurück, ehe Ihr weiter zieht.«

Nun hatten wir wenigstens ein Dach über dem Kopf und einen Schutz vor dem Regen, der nicht mehr auf unsre Körper herniederrieselte.

Vitalis war ein vorsichtiger Mann und machte sich nicht ohne Nahrungsmittel auf die Wanderschaft. In dem Rucksack, den er auf der Schulter trug, befand sich ein großes Stück Brot, das er in vier Teile zerschnitt.

Nun sah ich zum erstenmal, wie er Gehorsam und Disziplin in seiner Truppe aufrecht erhielt.

Während wir auf der Suche nach unserm Nachtlager von Thür zu Thür gewandert waren, hatte sich Zerbino in ein Haus geschlichen und war, ein Stück Brot im Maul, sofort wieder herausgekommen. Vitalis hatte nichts gesagt als: »Auf heute abend, Zerbino.«

Ich dachte nicht mehr an diesen Diebstahl, bis ich sah, daß Zerbino eine ganz bedrückte Miene annahm, als unser Herr das Brot zerschnitt.

Vitalis und ich saßen, Herzblatt in unsrer Mitte, nebeneinander auf zwei Bündeln von Farnkräutern; die drei Hunde standen in einer Reihe vor uns, Capi und Dolce die Augen fest auf ihren Herrn gerichtet, Zerbino aber ließ Kopf und Ohren hängen.

»Der Dieb trete aus dem Glied,« befahl Vitalis, »und verfüge sich in diese Ecke; er bekommt kein Abendbrot.«

Alsbald verließ Zerbino seinen Platz und schlich in die Ecke, die ihm die Hand seines Herrn angewiesen hatte; er verkroch sich unter dem Farnkraut, so daß wir ihn nicht mehr sahen und nur noch kläglich winseln hörten.

Nachdem er dies Urteil gefällt hatte, reichte mir Vitalis mein Brot, und während er das seine aß, teilte er Herzblatt, Capi und Dolce in kleinen Bissen den ihnen bestimmten Anteil zu.

Während der letzten Monate, die ich bei Mutter Barberin verlebt hatte, war ich ganz gewiß nicht verwöhnt worden, aber dessen ungeachtet erschien mir der Wechsel hart.

Ach, wie gut hätte mir selbst ohne Butter die warme Suppe gedäucht, die uns Mutter Barberin alle Abend zu bereiten pflegte!

Wie köstlich wäre mein Platz in der Kaminecke gewesen, wie wohlig hätte ich mich in meine Bettdecke gewickelt und sie bis über die Nase heraufgezogen!

Aber ach, jetzt war nicht mehr von Bettdecken die Rede, und wir mußten uns glücklich preisen, ein Bett von Farnkraut gefunden zu haben.

Todmüde, mit geschundenen Füßen, zitterte ich vor Kälte in meinen durchnäßten Kleidern.

Es war völlig Nacht geworden, aber ich dachte nicht ans Schlafen.

»Du klapperst ja mit den Zähnen,« sagte Vitalis, »bist du krank?«

»Ein wenig.«

Ich hörte ihn seinen Rucksack öffnen.

»Mein Kleidervorrat ist nicht sehr groß,« sagte er, »aber da ist ein trockenes Hemd und eine Weste, in die du dich einwickeln kannst, wenn du deine nassen Kleider ausgezogen hast. Dann kriechst du unter das Farnkraut, wirst schnell wieder warm und schläfst ein.«

Mit dem Warmwerden ging es indessen nicht so schnell, als Vitalis glaubte, und lange warf ich mich auf meinem Farnkräuterlager hin und her, denn ich war viel zu schmerzerfüllt und unglücklich, als daß ich hätte einschlafen können.

Würde es nun alle Tage so sein? Ruhelos im Regen weitermarschieren, in einer Scheuer schlafen, vor Kälte zittern, ein Stück trockenes Brot zum Nachtessen, und dabei keine Mutter Barberin, gar niemand, um mich zu bemitleiden und lieb zu haben?

Als ich mir dies mit schwerem Herzen und thränenfeuchten Augen überlegte, fühlte ich einen Hauch über mein Gesicht wehen. Ich streckte die Hand aus und griff in das wollige Fell Capis.

Leise und vorsichtig hatte er sich mir genähert; nun beschnüffelte er mich sachte, und sein Atem lief mir über das Gesicht und die Haare.

Was wollte er?

Bald legte er sich ganz dicht neben mich auf das Heidekraut und fing an, mir sanft die Hand zu lecken.

Ganz ergriffen von dieser Liebkosung, richtete ich mich halb auf und küßte ihn auf seine kalte Nase.

Er ließ einen erstickten Ton vernehmen, schob seine Pfote in meine Hand und rührte sich nicht mehr.

Ich vergaß Ermüdung und Herzeleid; meine zugeschnürte Brust atmete leichter: ich war ja nicht mehr allein, ich hatte einen Freund!


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