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Zweiter Band. Erster Teil. (Fortsetzung.)

Siebzehntes Kapitel.
Ein Padrone in der Rue de Lourcine

Obgleich ich alles abscheulich fand, was ich um mich herum erblickte, betrachtete ich mir doch meine Umgebung so genau, daß ich beinahe den Ernst meiner Lage darüber vergaß.

Je weiter wir in die Stadt hineinkamen, desto weniger entsprach sie meinen Erwartungen, desto greulicher wurde der Schmutz und desto größer das Gedränge.

Nachdem wir lange eine etwas heitere und weniger ärmliche Straße verfolgt hatten, bog Vitalis rechts ab, und bald befanden wir uns in einem ganz armseligen Stadtviertel, wo in zahllosen Kneipen Männer und Weiber um die zinkenen Schenktische herum standen und Schnaps tranken.

An einer Straßenecke las ich den Namen Rue de Lourcine.

Vitalis, der sein Ziel genau zu kennen schien, schob die Gruppen, die ihm im Weg standen, sanft beiseite, während ich dicht hinter Ihm blieb und ihn aus Angst, ich könnte ihn verlieren, an einem Rockzipfel festhielt.

Nachdem wir einen großen Hof und einen Durchgang durchschritten hatten, gelangten wir in eine Art dunklen Schacht, in den sicherlich noch nie ein Sonnenstrahl gefallen war; das war noch häßlicher und beängstigender als alles, was ich bisher gesehen hatte.

»Ist Garofoli zu Hause?« fragte Vitalis einen Mann, der an einer Mauer Lumpen aufhängte und sich mit einer Laterne dazu leuchtete.

»Ich weiß es nicht; gehen Sie nur hinauf und sehen Sie selbst nach – ganz oben im vierten Stock – der Treppe gegenüber.«

»Garofoli ist der Padrone, von dem ich dir gesprochen habe,« sagte Vitalis und begann die schlüpfrigen, mit einer dicken Schmutzkruste bedeckten Treppenstufen zu erklimmen, »und hier befindet sich seine Wohnung.«

Straße, Haus und Treppe hatten nichts Ermutigendes für mich – wie mochte der Herr sein?

Oben angelangt, stieß Vitalis ohne weiteres die dem Treppenkopf gegenüberliegende Thüre auf, und wir befanden uns in einem großen Gelaß, einer Art Speicher. In der Mitte ein großer, leerer Raum, ringsum etwa ein Dutzend Betten. Decke und Wände zeigten eine unbeschreibliche Farbe; vielleicht waren sie früher einmal weiß gewesen, aber Rauch, Staub und Schmutz aller Art hatten im Lauf der Zeit den stellenweise auch abgebröckelten und gesprungenen Gipsverputz völlig geschwärzt.

»Garofoli,« sagte Vitalis als er eintrat, »stecken Sie vielleicht in irgend einer Ecke? Ich sehe niemand – bitte, antworten Sie! Ich bin es, Vitalis!«

Das Zimmer schien, so weit man es bei dem Schein einer an der Wand befestigten Lampe beurteilen konnte, in der That ganz leer zu sein, aber eine schwache, klägliche Kinderstimme antwortete: »Signor Garofoli ist ausgegangen und kommt erst in zwei Stunden wieder nach Hause.«

Nun kam auch der Sprecher ans Licht, ein etwa zehnjähriger Knabe, der sich auf uns zuschleppte. Ich war von dem merkwürdigen Anblick, den er bot, so betroffen, daß ich ihn noch heute vor mir stehen sehe mit seinem unförmlichen, dicken Kopf, der auf einem so schmächtigen Körper saß, daß es den Eindruck machte, er ruhe unmittelbar auf den Beinen. Dieser Kopf hatte einen unendlich schmerzlichen, aber sanften Ausdruck, mit dem die hoffnungslose, verzweifelte Ergebung, die aus seinen Augen sprach, völlig übereinstimmte. Schön war diese Mißgestalt natürlich nicht, aber sie lenkte den Blick auf sich und fesselte ihn durch einen gewissen Reiz, der von den großen, feuchten, treuen Augen und dem ausdrucksvollen Mund ausging.

»Weißt du gewiß, daß er in zwei Stunden zurückkommt?« fragte Vitalis.

»Ganz gewiß, Signor, denn da ist Essenszeit, und nie teilt jemand anders das Essen aus.«

»Nun, falls er vorher kommen sollte, so sage ihm, Vitalis werde in zwei Stunden noch einmal vorsprechen.«

»Ganz recht, Signor.«

Ich schickte mich an, meinem Herrn zu folgen, aber dieser hielt mich mit den Worten davon ab: »Bleibe hier und ruhe dich aus.«

»Du kannst dich drauf verlassen, ich komme wieder,« beruhigte er mich, als er meinen Schrecken sah.

Trotz meiner Müdigkeit wäre ich viel lieber mit Vitalis gegangen, aber da ich gewöhnt war zu gehorchen, blieb ich da.

Als die Schritte meines Herrn auf der Treppe verklungen waren, wendete sich der Junge, der an der Thür gelauscht hatte, zu mir und fragte auf italienisch: »Bist du aus meiner Heimat?«

Wohl hatte ich bei Vitalis das Italienische verstehen gelernt, allein ich sprach es nicht gut genug, um mich dieser Sprache gerne zu bedienen, und erwiderte deshalb französisch: »Nein.«

»Ach, das ist schade,« sagte er traurig und heftete seine großen Augen auf mich, »ich hätte so gerne gehabt, daß du aus meiner Heimat kämest!«

»Woher bist du denn?«

»Aus Lucca – vielleicht hättest du mir dann Nachricht bringen können.«

»Ich bin ein Franzose.«

»Aha, um so besser!«

»Sind dir die Franzosen denn lieber als die Italiener?«

»Nein, ich habe nur um deinetwillen ›um so besser‹ gesagt; denn wenn du ein Italiener wärest, kämest du wahrscheinlich nur hierher, um in die Dienste des Signor Garofoli zu treten, und zu denen, die das thun, sagt man nicht ›um so besser‹!«

Die Worte waren nicht dazu angethan, mich zu beruhigen, und ängstlich fragte ich: »Ist er böse?«

Der Junge beantwortete diese unverblümte Frage nicht, aber der Blick, mit dem er mich ansah, war dafür von einer um so schrecklicheren Beredsamkeit. Als wolle er die Unterhaltung über diesen Gegenstand abbrechen, drehte er mir den Rücken und ging auf einen großen an der hintersten Wand des Raumes befindlichen Kamin zu. In dem Kamin brannte ein gutes mit Abbruchholz unterhaltenes Feuer, und über diesem Feuer brodelte ein großer gußeiserner Fleischtopf.

Auch ich trat an den Kamin heran, um mich zu wärmen, und bemerkte nun, daß dies ein Kochtopf ganz besonderer Art war. Der von einem engen Rohr, woraus der Dampf ausströmte, überragte Deckel war auf der einen Seite durch ein Scharnier, auf der andern durch ein Vorlegeschloß mit dem Kochtopf verbunden.

Daß ich über Garofoli keine neugierigen Fragen thun dürfe, hatte ich begriffen, aber warum nicht über den Topf?

»Warum ist denn der Topf mit einem Vorlegschloß verwahrt?«

»Damit ich mir nicht eine Tasse Fleischbrühe herausnehmen kann. Ich muß nämlich die Suppe kochen, aber der Herr traut mir nicht.«

Unwillkürlich mußte ich lächeln.

»Du lachst,« fuhr er traurig fort, »weil du denkst, ich sei naschhaft, aber an meiner Stelle wärest du's wahrscheinlich auch. Uebrigens bin ich gar nicht naschhaft, sondern nur ausgehungert, und der Duft der Fleischbrühe, der aus der Röhre aufsteigt, macht mir meinen Hunger noch viel grausamer fühlbar.«

»Ja, läßt dich denn der Signor Garofoli Hunger sterben?«

»Wenn du in seinen Dienst kommst, so wirst du schon sehen, daß man nicht Hunger stirbt, daß man bloß Hunger leidet – besonders ich, weil das meine Strafe ist.«

»Eine Strafe – Hunger leiden!«

»Ja, übrigens kann ich dir das auch erzählen, denn wenn Garofoli dein Herr wird, so kannst du dir mein Beispiel zur Lehre dienen lassen. Der Signor Garofoli ist mein Onkel und hat mich aus Barmherzigkeit zu sich genommen. Meine Mutter ist nämlich Witwe und, wie du dir denken kannst, nicht reich. Als Garofoli voriges Jahr nach Hause kam, um Kinder zu holen, bot er ihr an, er wolle mich mitnehmen. Es ist meiner Mutter schwer geworden, mich herzugeben, aber wenn es eben sein muß – und es mußte sein, denn wir waren unsrer sechs Kinder, und ich das älteste. Eigentlich hätte Garofoli lieber meinen Bruder Leonardo, der nach mir kommt, mitgenommen, weil der hübsch ist, und ich so häßlich bin. Um Geld zu verdienen, muß man hübsch sein, denn die häßlichen Kinder bekommen nur Schläge und Schelte. Aber meine Mutter wollte Leonardo nicht hergeben, weil sie sagte, ich sei der älteste, und dadurch habe der liebe Gott mich selbst zum Fortgehen bestimmt. So bin ich also mit meinem Onkel Garofoli fortgezogen. Du kannst dir denken, wie schwer es mir geworden ist, meine Mutter, die weinte, und mein Schwesterchen Christina, das mich so lieb hat, weil es das Jüngste ist und ich es immer herumgetragen habe, zu verlassen, und auch von meinen Brüdern, meinen Kameraden und der Heimat bin ich nicht gern fortgegangen.«

Ach, ich wußte nur zu gut, wie weh eine solche Trennung thut, ich hatte es ja an mir selbst erfahren!

Der kleine Mattia fuhr in seiner Erzählung fort: »Als ich von Hause wegging, war ich ganz allein mit Garofoli, aber schon nach acht Tagen hatte er ein Dutzend Kinder beisammen und brach nun mit ihnen nach Frankreich auf. Ach, mir und meinen Gefährten, die auch alle traurig waren, wurde der Weg sehr lang! Endlich langten wir in Paris an, aber wir waren nur noch zu elf, denn einer war im Spital in Dijon liegen geblieben. In Paris wurden wir ausgelesen; die kräftigsten von uns wurden bei Rauchfangkehrern oder Kaminfegern untergebracht: die, welche zum Arbeiten nicht stark genug waren, mußten auf den Straßen singen oder musizieren. Selbstverständlich war ich zu schwach zum Arbeiten und zu häßlich, um die Leier spielen zu können und gute Einnahmen zu machen, deshalb gab mir Garofoli zwei kleine weiße Mäuse, die ich an den Thüren und an den Durchgängen zeigen sollte, und schätzte meinen Tagesverdienst zu dreißig Sous ein. ›So viel Sous dir am Abend fehlen,‹ sagte er, ›so viel Schläge bekommst du dafür.‹ Ach Gott, dreißig Sous sind schwer zusammenzubringen, aber die Schläge sind auch schwer auszuhalten, besonders wenn sie von Garofoli ausgeteilt werden. Ich that also, was ich konnte, um die geforderte Summe zu verdienen, aber trotz aller Mühe, die ich mir gab, gelang es mir nicht oft. Meine Genossen hatten ihr Geld fast immer bei einander, wenn sie heimkamen, und ich fast nie, und dadurch steigerte sich Garofolis Zorn nur immer mehr. ›Wie fängt's der Schafskopf nur an?‹ sagte er. Es war noch ein andrer Knabe da, der wie ich weiße Mäuse zeigte, auf vierzig Sous eingeschätzt worden war und diese allabendlich nach Hause brachte. Mehreremal ging ich mit ihm aus, um zu sehen, wie er es anfing, und da begriff ich bald, warum er seine vierzig Sous so leicht, und ich meine dreißig so schwer zusammenbrachte. Wenn ein Herr und eine Dame uns was geben wollten, so sagte die Dame immer: ›Dem hübschen Jungen, nicht dem häßlichen‹. Der häßliche, das war ich. Dann ging ich nicht mehr mit meinem Kameraden zusammen, denn wenn es auch traurig ist, zu Hause geprügelt zu werden, so ist es doch noch trauriger, auf der Straße vor allen Leuten böse Worte gesagt zu bekommen. Du weißt nicht, wie das thut, denn dir hat gewiß noch niemand gesagt, du seist häßlich, aber ich ... Nun, kurzum, als Garofoli einsah, daß mit Schlägen nichts auszurichten war, verfiel er auf ein andres Mittel: ›Für jeden Sous, der dir fehlt, ziehe ich dir eine Kartoffel an deinem Essen ab,‹ sagte er. ›Da deine Haut die Schläge nicht zu fühlen scheint, wird vielleicht dein Magen den Hunger desto besser fühlen.‹ Hast du dich je durch Drohungen zu was bringen lassen?«

»Na, das kommt darauf an.«

»Ich mich noch nie; übrigens konnte ich auch wirklich nicht mehr thun, als ich bis dahin gethan hatte. Es würde mir auch gar nichts genutzt haben, wenn ich den Leuten die Hand hingehalten und gesagt hätte: ›Wenn Sie mir nicht einen Sou geben, bekomme ich heute abend keine Kartoffeln.‹ Du lieber Gott, die Leute, die armen Kindern was geben, lassen sich nicht durch solche Gründe bestimmen.«

»Durch welche sonst? Man gibt, um Freude zu machen.«

»Ach, was bist du noch jung! Man gibt, um sich, aber nicht, um andern Freude zu machen. Ach, ich habe das alles lang genug beobachten können! Natürlich war ich nicht dicker geworden, nachdem ich diese Lebensweise vier bis sechs Wochen geführt hatte, sondern sah bleich, so bleich aus, daß ich oft die Leute sagen hörte: ›Das Kind stirbt ja noch vor Hunger.‹ Das Leiden brachte nun fertig, was die Schönheit nicht erreicht hatte; die Leute in der Nachbarschaft bekamen Mitleid mit mir, und wenn ich auch nicht viele Sous einnahm, so bekam ich doch bald hier ein Stück Brot, dort einen Teller Suppe. Das war meine beste Zeit, denn geprügelt wurde ich nicht mehr, und wenn ich auch keine Kartoffeln bekam, so war mir das einerlei, wenn ich vorher schon gegessen hatte. Aber das Unglück wollte es, daß Garofoli mich eines Tages ertappte, als ich bei einer Obsthändlerin einen Teller Suppe aß; nun begriff er, warum ich ohne Klagen die schmale Kost ertrug, und beschloß, daß ich gar nicht mehr ausgehen, sondern zu Hause den Haushalt und das Kochen besorgen solle. Da ich aber, während ich die Suppe kochte, davon hätte essen können, erfand er diesen Kochtopf; jeden Morgen thut er, ehe er ausgeht, das Fleisch und die Gemüse in den Topf und schließt den Deckel zu; ich habe nichts damit zu thun, als ihn im Kochen zu erhalten. Ich rieche die Fleischbrühe, aber daß ich durch diese dünne Röhre nichts davon nehmen kann, ist klar, und deshalb bin ich erst recht bleich geworden, seit ich die Küche besorge, denn der Geruch der Fleischbrühe macht nicht satt, sondern vermehrt nur den Hunger. – Du, sag 'mal, gelt, ich bin sehr blaß? Weil ich nicht mehr ausgehe, höre ich es niemand mehr sagen, und hier ist kein Spiegel.«

Obgleich ich damals noch nicht viel Erfahrung hatte, wußte ich doch, daß man Kranke nicht dadurch erschrecken darf, indem man ihnen sagt, daß man sie krank findet, und erwiderte deshalb: »Du kommst mir nicht bleicher vor, als andre auch.«

»Ich sehe wohl, daß du das nur sagst, um mich zu beruhigen, aber ich würde mich ja gerade freuen, wenn ich recht bleich aussähe, denn dann wäre ich auch recht krank, und ich möchte gern recht arg krank sein.«

Ganz verblüfft starrte ich ihn an.

»Gelt, das kannst du nicht begreifen,« sagte er mit einem Seufzer, »und doch ist es so einfach. Wenn jemand sehr krank ist, so pflegt man ihn entweder, oder man läßt ihn sterben. Läßt man mich sterben, so ist alles überstanden, ich brauche nicht mehr Hunger zu leiden und bekomme keine Prügel mehr. Außerdem sagt man aber auch, die, die gestorben seien, leben im Himmel weiter, und da kann ich von da oben 'runter Mama zu Hause sehen, und vielleicht kann ich, wenn ich den lieben Gott recht schön bitte, dazu helfen, daß Christina nicht unglücklich wird. Will man aber für mich sorgen, so schickt man mich ins Spital, und das wäre mir auch sehr recht.«

Ich selbst hatte eine derartige Angst vor dem Spital, daß mir unterwegs schon der Gedanke daran häufig neue Kräfte verliehen hatte, und deshalb war ich natürlich höchst erstaunt, Mattia so sprechen zu hören.

»Du kannst dir gar nicht denken, wie gut man es im Spital hat,« fuhr er fort, »ich bin schon einmal in Sainte Eugénie gewesen, und dort ist ein großer, blonder Doktor, der hat immer Gerstenzucker in der Tasche; und dann sprechen die Schwestern immer so lieb und sanft mit einem. ›Komm, armer Kleiner, strecke einmal die Zunge heraus!‹ Ach, und ich hab's so gern, wenn man sanft mit mir spricht! Da muß ich immer weinen, und wenn ich weine, bin ich glücklich. Gelt, das ist dumm? Aber Mama hat auch immer lieb mit mir gesprochen, und die Schwestern reden gerade wie Mama, und wenn's nicht die nämlichen Worte sind, so ist's doch die nämliche Musik. Und wenn man wieder besser wird, dann gibt's Fleischbrühe und Wein. Sobald ich hier fühlte, daß ich alle Kraft verlor, weil ich nicht genug zu essen hatte, da habe ich mich gefreut und gedacht: ›So, nun werde ich krank, und dann schickt mich Garofoli ins Spital!‹ Jawohl! Ich wurde krank genug, um selbst darunter zu leiden, aber nicht krank genug, um Garofoli zu belästigen, und deshalb behielt er mich hier. Es ist erstaunlich, welch zähes Leben die Unglücklichen haben! Glücklicherweise hat Garofoli die Gewohnheit, uns zu prügeln, nicht abgelegt, und hat mich vor etwa acht Tagen mit einem Stock furchtbar auf den Kopf geschlagen. Diesmal hoffe ich nun gewonnenes Spiel zu haben, denn mein Kopf ist geschwollen – du siehst doch diese große, weiße Beule. Gestern sagte er, es sei möglicherweise ein Tumor; ich weiß zwar nicht, was ein Tumor ist, aber aus der Art und Weise, in der er davon sprach, schließe ich, daß es etwas Gefährliches ist – jedenfalls habe ich viel zu leiden, denn ich habe furchtbare Stiche unter den Haaren und Schwindelanfälle, mein Kopf ist so schwer, als wiege er hundert Pfund, und des Nachts stöhne und schreie ich im Schlaf. Deshalb glaube ich auch, daß er sich in ein paar Tagen entschließen wird, mich ins Spital zu schicken, denn er will nicht gestört werden. Es ist doch ein wahres Glück, daß er mir diesen Stockschlag versetzt hat! Jetzt sag mir aber auch ehrlich, ob ich recht bleich aussehe.«

Damit stellte er sich dicht vor mich hin und sah mir fest in die Augen. Obgleich meine früheren Gründe zur Zurückhaltung nun nicht mehr in Betracht kommen konnten, vermochte ich ihm doch nicht offen zu sagen, welch entsetzlichen Eindruck seine großen brennenden Augen, seine hohlen Wangen und seine farblosen Lippen auf mich machten.

»Ich glaube auch, daß du krank genug bist fürs Spital.«

»Na, endlich!« rief er und versuchte, mir mit seinem hinkenden Bein einen Kratzfuß zu machen; dann fing er aber sofort an, den Tisch abzuwischen.

»Jetzt ist's genug geschwätzt,« sagte er, »sonst kommt Garofoli heim, und es ist noch nichts fertig; da du meinst, ich habe Prügel genug bekommen, um ins Spital zu dürfen, so wäre es überflüssig, mir neue zuzuziehen – es ist nämlich gar nicht wahr, daß man sich an alles gewöhnen kann.«

Während er dies sagte, hinkte er um den Tisch herum und stellte Teller und Bestecke an ihren Platz. Da ich zwanzig Teller zählte, mußte Garofoli also zwanzig Kinder bei sich haben, von denen vermutlich zwei in einem Bett schliefen, denn Betten waren nur zwölf vorhanden. Und was für Betten! Statt der Leintücher rohe Decken, die aussahen als wären sie in einem Stall gekauft worden, wo sie für die Pferde nicht mehr gut genug waren.

»Ist es überall wie hier?« fragte ich ganz erschrocken.

»Wo überall?«

»Ueberall bei denen, die Kinder halten.«

»Ich weiß es nicht, ich bin nie bei einem andern gewesen – aber du mußt suchen, wo anders hinzukommen.«

»Wohin denn?«

»Das weiß ich nicht, es ist auch einerlei, denn du wirst es überall besser haben als hier.«

Das war eine recht unbestimmte Auskunft, und was sollte ich thun, um Vitalis zu einer Aenderung seines Entschlusses zu bewegen?

Während ich noch in unfruchtbares Grübeln darüber versunken war, öffnete sich die Thür und ein Knabe trat ein; unter dem Arm hielt er eine Geige und in feiner freien Hand trug er ein großes Stück Abbruchholz, ähnlich den Klötzen, die im Kamin brannten; nun begriff ich, woher Garofoli seine Holzvorräte bezog und was er dafür bezahlte.

»Gib mir dein Stück Holz,« sagte Mattia und ging dem Jungen entgegen.

Allein der hielt sein Holz auf den Rücken, statt es herzugeben.

»Nein, nein,« sagte er, »ich habe nur sechsunddreißig Sous und rechne auf das Stück Holz, damit mich Garofoli die vier Fehlenden nicht allzu teuer bezahlen läßt.«

»Dagegen kommt kein Holz auf – die vier Sous mußt du doch bezahlen – heute mir, morgen dir!«

Mattia sagte dies boshaft, als freue er sich über die Züchtigung, die seinem Gefährten bevorstand. Ich war ganz überrascht von dem harten Ausdruck, den sein sanftes Gesicht annahm, denn damals wußte ich noch nicht, daß man selbst böse wird, wenn man unter bösen Menschen lebt.

Es war die Zeit, zu der Garofolis Zöglinge nach Hause kamen, und nach dem Knaben mit dem Stück Holz stellte sich einer um den andern ein. Jeder hängte sein Instrument an einen Nagel über seinem Bett, der eine eine Harfe, der andre eine Flöte oder eine Sackpfeife; die Knaben, die kein Instrument spielten, sondern Tiere vorzeigten, sperrten ihre Murmeltiere oder ihre Meerschweinchen in einen Käfig.

Ein schwerer Schritt ertönte auf der Treppe – ich fühlte, daß dies Garofoli war. Sofort trat ein kleiner, aufgeregt aussehender Mann mit unsicherem Gang ins Zimmer; er trug einen grauen Ueberzieher und keine italienische Tracht.

Sein erster Blick fiel auf mich, ein Blick, bei dem es mich eiskalt überlief.

»Was ist das für ein Junge?« fragte er.

Mattia beeilte sich, ihm rasch und höflich den Auftrag meines Herrn zu bestellen.

»Ah so, Vitalis ist in Paris,« sagte er dann, »was will er denn von mir?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte Mattia.

»Hab' dich auch gar nicht gefragt, sondern den Knaben da.«

»Der Padrone wird kommen,« sagte ich, denn ich wagte nicht, ihm offen zu antworten, »und Ihnen seine Wünsche selbst mitteilen.«

»Der junge Herr scheint zu wissen, daß Schweigen Gold ist! Du bist kein Italiener?«

»Nein, ich bin Franzose.«

Sobald Garofoli eingetreten war, hatten sich zwei der Knaben ihm genähert und warteten neben ihm, bis er zu sprechen aufhörte. Dann nahm ihm der eine seinen Filzhut ab und legte ihn behutsam auf ein Bett, während ihm der andre sofort seinen Stuhl herbeitrug, und das thaten sie so feierlich, wie Chorknaben bei der Messe. Daraus konnte ich ersehen, bis zu welchem Grad Garofoli gefürchtet wurde, denn natürlich legten sie nicht aus Liebe diesen Eifer an den Tag.

Als Garofoli sich gesetzt hatte, eilte ein andrer Junge mit einer gestopften Tabakspfeife herbei, und gleichzeitig hielt ihm ein vierter ein brennendes Streichholz hin.

»Das riecht ja nach Schwefel, Rindvieh dummes!« rief Garofoli, sobald er es seiner Pfeife genähert hatte, und warf es in den Kamin.

Schleunigst wollte der Schuldige sein Versehen wieder gut machen und zündete ein neues Streichholz an, allein es wurde nicht angenommen.

»Du nicht, du Schafskopf,« sagte er und stieß den Knaben rasch zurück; dann wandte er sich mit einem Lächeln, das sicherlich eine ganz unerhörte Gunstbezeugung war, an einen andern Knaben: »Riccardo, mein Liebling, ein Streichholz!«

Schleunigst gehorchte der Liebling.

»Jetzt zu unsren Abrechnungen, mein kleiner Engel,« befahl Garofoli, als seine Pfeife in Brand gesetzt war. »Mattia, das Buch!«

Fast ehe er es noch verlangt hatte, legte Mattia ein kleines, fettiges Eintragbuch vor ihn hin.

Garofoli winkte dem Knaben, der ihm das nach Schwefel riechende Streichholz gereicht hatte, und dieser trat näher.

»Du schuldest mir einen Sou von gestern und hast versprochen, ihn heute zu bezahlen – wie viel bringst du mir?«

Lange zögerte das Kind mit seiner Antwort und wurde dabei purpurrot.

»Es fehlt mir ein Sou.«

»So, es fehlt dir ein Sou! Und das sagst du mir so gelassen!«

»Es ist nicht der Sou von gestern, es ist ein Sou von heute.«

»Also es fehlen zwei Sous! So etwas ist noch nie dagewesen!«

»Ich kann ganz gewiß nichts dafür.«

»Keine Dummheiten – du kennst die Bestimmung! Die Jacke herunter, zwei Hiebe für gestern, zwei Hiebe für heute und zur Strafe für deine Frechheit heute abend keine Kartoffeln. Riccardo, mein Liebling, du bist so artig, daß du diese Freude wohl verdient hast; nimm die Riemen.«

Riccardo war der Knabe, der das gut brennende Streichholz so rasch gebracht hatte; nun nahm er eine kurzstielige Peitsche, die aus zwei mit dicken Knoten versehenen Riemen bestand, von der Wand, während der Junge, dem der Sou fehlte, seine Jacke auszog und sein Hemd herabfallen ließ, so daß er bis zum Gürtel nackt dastand.

»Warte ein wenig,« sagte Garofoli mit tückischem Lächeln, »vielleicht bist du nicht der einzige, und geteilte Freude ist immer doppelte Freude; außerdem braucht Riccardo dann auch nicht immer wieder aufs neue anzufangen.«

Die Knaben standen unbeweglich vor ihrem Gebieter und brachen bei diesem grausamen Scherz sämtlich in ein erzwungenes Gelächter aus.

»Dem, der am lautesten gelacht hat, fehlt jedenfalls am meisten,« sagte Garofoli. »Wer hat so laut gelacht?«

Alle deuteten auf den, der zuerst gekommen war und das Stück Holz mitgebracht hatte.

»Nun, wie viel fehlt dir?« fragte Garofoli.

»Ich kann nichts dafür.«

»Wer von jetzt an noch einmal sagt: ›Ich kann nichts dafür!‹ erhält noch einen Peitschenhieb mehr, als ihm ohnehin zukommt. – Also wie viel fehlt dir?«

»Ich habe dies schöne Stück Holz da mitgebracht.«

»Nun, das ist schon etwas, aber geh doch damit zum Bäcker und verlange Brot dafür – glaubst du, daß er dir welches gibt? Wieviel Sous fehlen dir also? So mach doch voran und sprich!«

»Ich habe sechsunddreißig Sous verdient.«

»Also fehlen dir vier Sous, du elender Lump, und du wagst es, mir noch vor die Augen zu kommen! Riccardo, du hast heute Glück! Die Jacke 'runter!«

»Aber das Stück Holz?«

»Das gebe ich dir zum Mittagessen.«

Dieser dumme Spaß erregte große Heiterkeit bei den nicht verurteilten Kindern.

Als das Verhör beendet war, fanden sich im ganzen fünf, die ihre vorgeschriebene Zahl nicht verdient hatten und nun durchgepeitscht werden sollten.

Riccardo hielt die Peitsche in der Hand, und die fünf armen Sünder standen in Reih und Glied neben ihm.

»Du weißt ja, Riccardo,« sagte Garofoli, »daß ich dir nicht zusehe, weil mir solche Züchtigungen übel machen, aber ich höre dich und beurteile die Wucht deiner Hiebe nach dem Geräusch, das sie verursachen. Nun herzhaft drauf los, mein Liebling, du arbeitest für dein tägliches Brot!«

Damit drehte er sich dem Feuer zu, als sei es ihm unmöglich, die Züchtigung mitanzusehen. Vergessen in meiner Ecke zitterte und bebte ich vor Empörung und Angst. Also dieser Mensch sollte mein Herr werden, und wenn ich die dreißig oder vierzig Sous, die er von mir fordern würde, nicht heimbringen konnte, so mußte auch ich Riccardo meinen Rücken hinhalten.

Ach, nun begriff ich wohl, warum Mattia so ruhig und hoffnungsvoll vom Sterben hatte sprechen können!

Der erste Peitschenhieb, der auf die Haut klatschte, trieb mir die Thränen in die Augen, und da ich mich ganz vergessen wähnte, that ich mir keinen Zwang an. Allein ich täuschte mich, denn Garofoli hatte mich verstohlen beobachtet und sagte, indem er auf mich deutete: »Da ist einmal ein Junge, der ein gutes Herz hat und sich nicht wie ihr über das Unglück andrer und meinen Kummer freut. Es ist schade, daß er nicht zu euch gehört – er könnte euch allen zum Vorbild dienen!«

Ich zitterte bei diesen Worten am ganzen Leib – zu ihnen gehören!

Beim zweiten Peitschenhieb fing der arme Sünder an kläglich zu stöhnen, und beim dritten stieß er einen herzzerreißenden Schrei aus.

Garofoli hob die Hand auf und Riccardo hielt inne.

Schon glaubte ich, er wolle Gnade üben, aber davon war keine Rede.

»Du weißt, wie weh mir das Schreien thut,« sagte Garofoli sanft zu seinem Opfer, »du weißt, daß mir dein Geschrei das Herz zerreißt wie dir die Peitsche deine Haut. Laß dir gesagt sein, daß du von nun an für jeden Schrei, den du ausstößt, einen weiteren Peitschenhieb bekommen wirst, was du dir selbst zuzuschreiben hast. Wenn du auch nur ein bißchen Liebe, ein bißchen Dankbarkeit für mich empfändest, so wärest du still und würdest mich nicht vor Kummer krank machen. Vorwärts, Riccardo!«

Dieser erhob den Arm, und wiederum sauste die Peitsche auf den Rücken des Unglücklichen hernieder.

»Mama, Mama!« schrie er.

Glücklicherweise wurde mir das Weitere erspart, denn in diesem Augenblick ging die Thür auf und Vitalis trat ein.

Auf den ersten Blick sah er die Vermutung bestätigt, die durch das Jammergeschrei schon auf der Treppe in ihm erweckt worden war. Er stürzte auf Riccardo los und riß ihm die Peitsche aus der Hand. Dann stellte er sich mit gekreuzten Armen dicht vor Garofoli hin.

All dies hatte sich so rasch begeben, daß Garofoli einen Augenblick ganz verblüfft war, aber bald faßte er sich und sagte mit einem gewöhnlichen süßlichen Lächeln: »Nicht wahr, das ist schrecklich! Der Junge hat gar kein Herz im Leib!«

»Es ist eine Schmach und eine Schande!« rief Vitalis.

»Nicht wahr? Das sage ich auch,« unterbrach ihn Garofoli.

»Nur keine Faxen,« fuhr mein Herr nachdrücklich fort. »Sie wissen ganz gut, daß ich nicht von diesem Kind spreche, sondern von Ihnen; ja, es ist eine Schande und eine Feigheit, wehrlose Kinder in dieser Weise zu martern!«

»Sie alter Narr, Sie, was geht denn Sie das an?« fragte Garofoli in völlig verändertem Ton.

»Mich nichts, aber die Polizei desto mehr!«

»Die Polizei,« rief Garofoli und sprang auf, »Sie drohen mir mit der Polizei, Sie?«

»Ja, ich,« gab mein Herr zurück, ohne sich durch die Wut des Padrone einschüchtern zu lassen.

»Hören Sie, Vitalis,« sagte dieser wieder ruhiger in spöttischem Ton, »Sie sollten am wenigsten den Schlechten machen und mit Schwatzen drohen, denn ich könnte ja auch Dinge ausplaudern, was Ihnen gewiß nicht lieb wäre. Natürlich würde ich nicht bei der Polizei plaudern, denn die hat mit Ihren Angelegenheiten nichts zu thun, aber es gibt andre Leute, die sich dafür interessieren, und wenn ich denen sage, was ich weiß, wenn ich nur einen Namen, einen einzigen Namen nenne – wer muß dann seine Schande verbergen?«

Mein Herr verstummte. – Seine Schande? Ich war ganz entsetzt, doch ehe ich mich von meiner Ueberraschung hatte erholen können, faßte mich Vitalis bei der Hand.

»Komm mit!« sagte er und zog mich nach der Thür.

»Nun,« sagte Garofoli lachend, »darum keine Feindschaft nicht! Sie wollten mich ja sprechen?«

»Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«

Und ohne ein Wort weiter zu verlieren, ohne sich noch einmal umzusehen, führte er mich die Treppe hinunter, mich fest an der Hand haltend. Ach, mit welchem Gefühl der Erleichterung folgte ich ihm! Also ich entging Garofoli! Wie gerne wäre ich Vitalis um den Hals gefallen, wenn ich es nur gewagt hätte!


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