Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierunddreißigstes Kapitel.
Die Familie Driscoll

Der Schreiber, der mich zu meinen Eltern führen sollte, war ein altes, kleines, zusammengeschrumpftes Männchen mit pergamentartigem, runzeligem Gesicht in einem abgetragenen, fettig glänzenden Frack nebst weißer Halsbinde. Sobald wir draußen waren, rieb er sich die Hände wie toll, ließ seine Fingerknöchel und Handgelenke knacken, schlenkerte seine Beine hin und her, wie wenn er seine schiefgelaufenen Stiefel von den Beinen schleudern wollte, hob die Nase in die Höhe und sog den Nebel mit der Wonne eines Menschen, der lange nicht hinausgekommen ist, schnaubend ein.

»Der meint auch noch, das rieche gut,« sagte Mattia auf italienisch.

Der alte Biedermann sah uns an und hieß uns – wie Hunde – mit einem »Pst! Pst!« ihm dicht auf dem Fuß zu folgen und ihn ja nicht zu verlieren.

Bald befanden wir uns in einer mit Wagen überfüllten, großen Straße, wo unser Führer einen Mietwagen anrief, dessen Kutscher, statt hinter dem Pferd auf einem Bock zu sitzen, hinten in der Luft auf einer Art Wagenverdeck kauerte. Später erfuhr ich, daß man diese Art Wagen »Cab« nennt.

Er hieß uns in das vorn offene Fuhrwerk steigen und begann durch das in das Verdeck des Wagens eingelassene Klappfensterchen eine lebhafte Erörterung mit dem Kutscher, in der wiederholt der Name Bethnal-Green vorkam, woraus ich schloß, daß dies der Name des Stadtviertels sei, wo meinen Eltern wohnten. Ich wußte, daß green im Englischen grün bedeutet, und dadurch kam ich auf den Gedanken, dies Stadtviertel sei mit schönen Bäumen bepflanzt und werde in nichts den finsteren, trübseligen Londoner Straßengebieten, die wir bis jetzt gesehen hatten, gleichen. Sicherlich bewohnten meine Eltern in der großen Stadt ein hübsches, von Bäumen umgebenes Haus.

Die Erörterung zwischen unsrem Führer und dem Kutscher schien gar kein Ende nehmen zu wollen; bald reckte sich der erstere zu dem Fensterchen empor, bald schien der letztere sich durch die so enge Oeffnung herunterstürzen zu wollen in dem Bestreben, uns klar zu machen, daß er gar nicht verstehe, was wir eigentlich wollten.

Mattia und ich drückten uns, Capi zwischen den Beinen, in eine Ecke und lauschten diesen Auseinandersetzungen, und ich wunderte mich, daß der Kutscher eine so hübsche Gegend, wie Bethnal-Green nicht zu kennen schien; gab es denn in London wohl so viele grüne Stadtteile? Das war wundersam, denn nach dem, was wir bis jetzt gesehen hatten, hatte ich mich auf unendlich viel Ruß gefaßt gemacht.

Nun fahren wir mit ziemlicher Geschwindigkeit bald durch breite, bald durch enge Straßen, aber überall ist der Nebel, der uns umhüllt, gleich undurchsichtig; es fängt an, kalt zu werden, und dennoch empfinden Mattia und ich eine Beklemmung beim Atemholen, als wollten wir ersticken, während es unsrem Führer ganz behaglich zu Mute zu sein scheint, wenigstens atmet er den Nebel in vollen Zügen ein und läßt seine Finger- und Handgelenke weiterknacken und reckt sich die Beine. Ob er wohl lange, vielleicht jahrelang ohne Bewegung und ohne Atemholen verlebt hat?

Trotz der Aufregung, die mich verzehrt bei dem Gedanken, daß ich nun in wenig Augenblicken Eltern und Geschwistern gegenüberstehen werde, fühlte ich doch große Lust, etwas von der Stadt zu sehen – war es ja doch meine Vaterstadt!

Aber ich mag die Augen aufreißen wie ich will, ich sehe doch nichts als die rotglühenden Gaslichter, die durch den Nebel schimmern, wie durch eine dicke Rauchwolke; kaum sieht man die Laternen der uns entgegenkommenden Wagen, und manchmal halten wir plötzlich an, um nicht mit einem davon zusammenzustoßen oder einen Menschen zu überfahren.

Wir fahren immer weiter; es ist schon geraume Zeit verflossen, seit wir die Geschäftsräume der Anwälte verlassen haben, und dies bestätigt nur meine Vermutung, daß meine Eltern auf dem Lande wohnen; gewiß werden wir die engen Straßen bald hinter uns haben und uns auf freiem Feld befinden.

Aber statt aufs Land, kommen wir in immer engere Straßen, und schließlich bitte ich Mattia, dessen Hand ich in der meinen halte, den Schreiber zu fragen, ob wir noch weit zu meinen Eltern haben. Die Antwort, die mir Mattia übermittelt, klingt trostlos: er versichert, unser Begleiter habe gesagt, er sei noch nie in diesem Diebesviertel gewesen; Mattia täuscht sich sicher und hat nicht verstanden, was ihm der Mann antwortete, aber er behauptet steif und fest, daß der Schreiber das Wort »thieves« gebraucht hat, und daß dies »Diebe« heißt, weiß er ganz gewiß. Ich bin einen Augenblick starr vor Staunen, dann fällt mir ein, daß sich der Schreiber, der wohl nie aus der Stadt herauskommt, nun, da wir aufs Land fahren, vor Dieben fürchtet. Ich teile diesen Gedanken Mattia mit, und nun lachen wir zusammen über die Angst unsres Begleiters: wie dumm sind doch die Stadtleute manchmal!

Aber nichts zeigt, daß wir aufs Land kommen. Ist denn ganz England nur eine einzige Stadt aus Schmutz und Steinen, die man London nennt? Dieser Schmutz dringt zu uns bis in den Wagen herein und bespritzt uns mit schwarzen Klümpchen: ein pestilenzialischer Geruch umgibt uns seit geraumer Zeit: all dies beweist, daß wir in einem abscheulichen Stadtteil sind – vermutlich der letzte, durch den wir müssen, ehe wir ins Freie hinaus, auf die Wiesen von Bethnal-Green kommen. Nun scheint es mir, als drehen wir uns um uns selbst, und von Zeit zu Zeit mäßigt unser Kutscher seine Fahrgeschwindigkeit, als wisse er nicht mehr, wo er sei. Plötzlich hält er an, unser Klappfensterchen geht auf, und nun entspinnt sich abermals eine Erörterung zwischen dem Kutscher und unsrem Führer. Mattia glaubt zu verstehen, daß der Kutscher nicht weiter fahren will, weil er den Weg nicht weiß, und daß der Schreiber beharrlich antwortet, er sei noch nie in diesem Diebsviertel gewesen – ich selbst höre das Wort »thieves«.

Offenbar ist das nicht Bethnal-Green.

Die Unterhandlung durch das Klappfenster wird mit gleich großer Heftigkeit von beiden Seiten fortgesetzt, und nachdem der Schreiber dem Kutscher Geld gegeben hat, steigt er aus, macht wieder »pst, pst!«, was heißen soll, wir sollen ebenfalls den Wagen verlassen.

Nun stehen wir im dichtesten Nebel in einer morastigen Straße vor einem glänzend erleuchteten Laden. Das Gaslicht wird durch Spiegel, Vergoldungen und geschliffene Flaschen so stark zurückgeworfen, daß sein Schein den Nebel bis zur Gasse durchdringt. Es ist eine Kneipe, oder, wie die Engländer sagen, ein » gin-palace«, wo Wacholderbranntwein und gebrannte Wasser aller Art verkauft werden.

»Pst! Pst!« machte unser Führer.

Jetzt treten wir mit ihm in den »gin-palace«. Offenbar haben wir uns getäuscht, wenn wir glaubten, wir seien in einem armen Viertel, denn ich hatte noch nie etwas Luxuriöseres gesehen – ringsum nichts als Spiegel und Vergoldungen, und der Schenktisch ist aus Silber. Gleichwohl sind die Leute, die vor diesem Schenktisch stehen oder sich an die Wände oder Fässer lehnen, in Lumpen gehüllt, einige haben nicht einmal Schuhe an, und ihre nackten Füße, die durch all den Kot und Schmutz gegangen sind, sehen aus, als seien sie mit Wichse angeschmiert worden, und diese habe noch nicht Zeit gehabt, zu trocknen.

Unser Führer läßt sich an dem schönen silbernen Schenktisch ein Glas voll einer weißen, sehr gut riechenden Flüssigkeit reichen. Nachdem er es auf einen Zug mit der nämlichen Gier, mit der er kurz zuvor den Nebel einschnaufte, geleert hatte, beginnt er eine Unterhaltung mit dem Mann, der ihn mit bis zum Ellbogen entblößten Armen bedient hat.

Es ist nicht schwer zu erraten, daß er nach dem Weg frägt, und Mattia braucht mir das nicht erst zu verdolmetschen. Wiederum folgen wir unsrem Führer auf den Fersen nach; jetzt ist die Straße so eng und schmal, daß wir trotz des Nebels die Häuser zu beiden Seiten erblicken: von einem dieser Häuser zum andern sind Leinen gespannt, und an diesen hängen Lumpen – zum Trocknen hat man sie gewiß nicht da aufgehängt.

Wo gehen wir hin? Ich fange an, mich sehr zu beunruhigen, und von Zeit zu Zeit sieht Mattia mich an, sagt aber nichts.

Von der Straße sind wir in ein Gäßchen, von dem Gäßchen in einen Hof und dann wieder in ein Gäßchen gekommen: die Häuser sind ärmlicher und elender als in dem geringsten Dorf Frankreichs: viele sind wie Schuppen oder Ställe, ganz aus Brettern erbaut, dienen aber doch als Wohnhäuser; Frauen in bloßem Kopf und Kinder wimmern und drängen sich auf den Schwellen herum.

Sobald uns ein schwacher Lichtschimmer gestattet, uns etwas umzusehen, sehe ich, daß die Frauen bleich sind und ihre flachsblonden Haare aufgelöst über ihre Schultern herunterhängen lassen, daß die Kinder beinahe nackt und in Lumpen gehüllt sind; ja in einem Winkelgäßchen sehen wir sogar Schweine, die sich in dem stinkenden Rinnstein wälzen.

Unser Führer bleibt in Bälde wieder stehen – offenbar hat er sich verirrt, aber im nämlichen Augenblick tritt ein Polizeidiener, ein policeman, zu uns heran, der uns nach kurzer Erkundigung weiter führt, durch Gäßchen, Höfe und krumme Gassen, bis er endlich vor einem Hof stehen bleibt, dessen Mittelpunkt ein kleiner Sumpf bildet.

»Red lion court,« sagt der Polizeidiener.

Wie Mattia mir erklärte, bedeuten diese Worte, die ich mehrmals gehört habe: »Hof des roten Löwen.«

Warum bleiben wir denn stehen? Das kann doch unmöglich Bethnal-Green sein? Sollen denn in diesem Hofe meine Eltern wohnen, aber dann ...?«

Ich habe keine Zeit, den Gedanken nachzuhängen, die auf mich einstürmen; der Polizeidiener hat an eine Art Bretterschuppen geklopft, und unser Begleiter dankt ihm – also sind wir an Ort und Stelle angelangt.

Mattia, der mich nicht losgelassen hat, drückt mir die Hand, und ich drücke ihm die seine – wir verstehen uns, die gleiche Angst schnürt uns beiden die Brust zusammen.

Ich war so verwirrt, daß ich nicht mehr weiß, wie wir ins Haus kamen, aber von dem Augenblick an, wo wir in ein großes Zimmer traten, das von einer Lampe und einem schwachen, auf einem Rost brennenden Steinkohlenfeuer erhellt war, kommt mir die Erinnerung zurück.

Vor dem Feuer erblickte ich in einem strohgeflochtenen Lehnsessel, einen ganz unbeweglichen Greis mit einem weißen Bart und einer schwarzen Mütze auf dem Kopf, während an einem Tisch sich ein etwa vierzigjähriger Mann und eine Frau gegenüber saßen; der Mann trug einen grauen Samtanzug und hatte ein kluges, aber hartes Gesicht; die Frau mochte fünf oder sechs Jahre jünger sein und hatte blondes Haar, das auf ein schwarz und weißkarriertes, über der Brust gekreuztes Tuch herabfiel; ihr Auge war ausdruckslos, und das einst schöne Gesicht drückte, wie auch die lässigen Bewegungen, die völligste Gleichgültigkeit und Stumpfsinnigkeit aus. In dem Gelaß befanden sich ferner vier Kinder, zwei Knaben und zwei Mädchen, sämtlich so flachsblond wie ihre Mutter; der älteste der Knaben schien elf oder zwölf Jahre zu zählen, das jüngste Mädchen kaum drei, denn es kroch noch auf der Erde herum.

All dies hatte ich aus den ersten Blick erfaßt, noch ehe unser Führer, der Schreiber, zu sprechen aufgehört hatte. Von allem, was er sagte, verstand ich kein Wort, und nur der Name Driscoll, mein Name, wie der Sachwalter gesagt hatte, schlug an mein Ohr.

Aller Blicke, selbst die des unbeweglichen Greises, richteten sich auf Mattia und mich, und nur das kleine Mädchen richtete seine Aufmerksamkeit auf Capi.

»Welcher von euch beiden ist Remi?« fragte der Mann in dem grauen Samtanzug aus französisch.

Ich trat einen Schritt vor und erwiderte: »Ich!«

»Dann komm in die Arme deines Vaters, mein Junge!«

Wenn ich mir früher diesen Augenblick ausgemalt hatte, so war ich immer überzeugt, ein unwiderstehlicher Drang werde mich meinem Vater in die Arme treiben, aber ich fühlte gar nichts von diesem Drang in mir. Trotzdem trat ich näher und küßte meinen Vater.

»Das ist dein Großvater, deine Mutter, deine Brüder und deine Schwestern.«

Zuerst ging ich zu meiner Mutter und schloß sie in meine Arme; sie ließ sich von mir küssen, küßte mich aber nicht wieder, sondern sagte nur ein paar Worte, die ich nicht verstand.

»Gib deinem Großvater auch die Hand,« sagte mein Vater, »aber sei vorsichtig, denn er ist gelähmt.«

Auch meinen beiden Brüdern und der älteren meiner Schwestern reichte ich die Hand; die jüngste wollte ich in die Arme nehmen, aber sie stieß mich weg, weil sie gerade damit beschäftigt war, Capi zu streicheln.

Während ich so von dem einen zum andern ging, war ich innerlich entrüstet über mich, daß ich nicht mehr Freude fühlte über meine Rückkehr in meine Familie. Ich hatte einen Vater, eine Mutter, Brüder, Schwestern, ja sogar auch einen Großvater – ich war mit ihnen vereint und blieb dabei so kalt; ich hatte diesem Augenblick mit fieberhafter Ungeduld entgegengeharrt, ich war fast närrisch geworden vor Freude, bei dem Gedanken, daß auch ich eine Familie und Eltern hatte, die ich lieben durfte, die mich lieben würden, und nun stand ich verlegen da, betrachtete sie neugierig und wußte ihnen nichts, kein Wörtlein der Liebe zu sagen. War ich denn ein Ungeheuer? War ich denn überhaupt wert, eine Familie zu haben?

Würde ich wohl, wenn ich meine Eltern in einem Schloß statt in einem Schuppen gefunden hätte, die Zärtlichkeit und Liebe gefühlt haben, wovon ich noch vor wenig Stunden erfüllt war, und die ich nun dem Vater und der Mutter gegenüber, die ich vor mir sah, nicht auszudrücken und nicht zu empfinden vermochte?

Ich verging fast vor Scham bei diesem Gedanken und eilte zu meiner Mutter zurück, schloß sie abermals in meine Arme und küßte sie gehörig ab. Sie schien aber nicht recht zu begreifen, was dieser Gefühlsausbruch zu bedeuten hatte, denn, statt meine Küsse zu erwidern, sah sie mich gleichgültig an, zuckte mit den Achseln und sagte etwas zu meinem Vater, worüber sie beide lachen mußten. Ueber dieser Gleichgültigkeit einerseits und dem Gelächter andrerseits, brach mir fast das Herz, denn ich glaubte, meine Zärtlichkeit hätte eine andre Aufnahme verdient.

»Und wer ist denn der da?« fragte mein Vater und wies auf Mattia.

Ich erklärte ihm, durch welche Bande ich mit Mattia verbunden war, und bemühte mich, die Größe meiner Freundschaft und Dankbarkeit gegen ihn recht feurig zum Ausdruck zu bringen.

»So, so,« sagte mein Vater, »er hat sich also auch unser Land ansehen wollen.«

Ehe ich antworten konnte, erwiderte Mattia schnell: »Gewiß, so ist's.«

»Und Barberin?« fragte mein Vater. »Warum ist er denn nicht mitgekommen?«

Darauf erzählte ich ihm, daß Barberin in Paris gestorben sei, und welche große Enttäuschung mir sein Tod bereitet habe, nachdem ich in Chavanon gehört hatte, daß meine Eltern mich durch ihn suchen ließen.

Mein Vater übersetzte meiner Mutter, was ich eben berichtet hatte, und ich verstand, daß sie sagte, es sei sehr gut, dann wiederholte sie mehrmals »well« und »good«, welch beide Worte ich kannte. Warum fand sie es gut, daß Barberin gestorben war? Ich versuchte vergeblich eine Antwort auf diese Frage zu finden.

»Du kannst nicht englisch?« fragte mein Vater.

»Nein, ich verstehe nur französisch und italienisch: was mich ein Herr gelehrt hat, an den mich Barberin vermietet hatte.«

»Vitalis?«

»Hast du das denn gewußt ...?«

»Barberin hat mir seinen Namen genannt, als ich vor einiger Zeit in Frankreich war, um dich zu suchen. Du wirst aber begierig sein, zu hören, warum wir dich dreizehn Jahre nicht gesucht haben, und wie wir nun plötzlich Barberin entdeckt haben.«

»O ja, darauf bin ich sehr begierig, ganz außerordentlich begierig.«

»Dann komm hier ans Feuer, ich will dir alles erzählen.«

Gleich beim Eintritt ins Zimmer hatte ich meine Harfe an die Wand gelehnt, nun schnallte ich auch meinen Ranzen ab und setzte mich an den mir angewiesenen Platz.

Als ich aber meine nassen, beschmutzten Stiefel ans Feuer streckte, spuckte mein Großvater, wie eine wütende Katze nach mir, und das genügte völlig, mir klar zu machen, daß ich ihn behinderte, und schleunigst zog ich meine Beine zurück.

»Thu nur, als ob du's nicht merktest,« sagte mein Vater, »der Alte kann's nicht leiden, wenn man sich vor sein Feuer setzt, aber wärme dich nur, wenn's dich friert; man braucht gar keine Umstände mit ihm zu machen.«

Natürlich war ich ganz verdutzt, als ich so von diesem silberhaarigen Greise reden hörte, denn ich hatte geglaubt, gerade mit ihm müsse man ganz besondre Umstände machen, und hatte sofort meine Füße unter den Stuhl gezogen.

»Du bist unser ältester Sohn,« begann mein Vater, »und ein Jahr nach unsrer Heirat zur Welt gekommen. Als ich deine Mutter heiratete, warf ein junges Mädchen, das sich Hoffnung auf mich gemacht hatte, einen glühenden Haß auf ihre vermeintliche Nebenbuhlerin. Um sich an uns zu rächen, stahl sie dich, gerade an dem Tag, wo du ein halbes Jahr alt geworden warst, und brachte dich hinüber nach Frankreich, nach Paris, wo sie dich auf der Straße aussetzte. Wohl stellten wir alle möglichen Nachforschungen an, allein wir dehnten sie nicht bis nach Paris aus, weil wir gar nicht an die Möglichkeit dachten, daß man dich so weit fortgeschleppt habe. Wir fanden dich nicht und glaubten dich tot, uns für immer verloren, bis vor drei Monaten, wo diese Frau einer tödlichen Krankheit erlag und kurz vor ihrem Ende die Wahrheit gestand. Sofort reiste ich nach Frankreich und begab mich zu dem Polizeikommissar des Stadtviertels, in dem du ausgesetzt worden warst, und erfuhr, daß dich ein Steinmetz aus La Creuse, derselbe Mann, der dich gefunden hatte, aufgenommen habe. Sofort eilte ich nach Chavanon, wo mir Barberin mitteilte, er habe dich an einen vagierenden Musikanten verdingt, und mit diesem ziehest du in Frankreich herum. Da ich nicht selbst in Frankreich bleiben und Vitalis nachforschen konnte, beauftragte ich damit Barberin und gab ihm Geld zur Reise nach Paris. Gleichzeitig wies ich ihn an, meinen Sachwaltern, Greth und Galley, Nachricht zu geben, wenn er dich gefunden hätte. Da wir nur im Winter in London wohnen, so konnte ich ihm meine eigne Adresse nicht mitteilen, weil wir in der guten Jahreszeit mit unsren Wagen als herumziehende Krämer, das ganze Land durchwandern. So, mein Junge, ist es gekommen, daß wir dich wiedergefunden haben und du nun nach dreizehn Jahren deinen Platz in deiner Familie einnehmen kannst. Ich begreife wohl, daß du jetzt noch ein bißchen verschüchtert bist, denn du kennst uns nicht und du verstehst ebensowenig unsre Sprache, als wir die deine, aber ich hoffe, daß du dich bald angewöhnen wirst.«

Ja, gewiß würde ich mich schnell angewöhnen – das war ja ganz natürlich, da ich mich ja im Kreise meiner Familie befand und mit meinen Eltern und Geschwistern zusammenleben sollte.

Die schönen Windeln hatten nicht die Wahrheit verkündet; für Mutter Barberin, für Lieschen, für den Vater Acquin, für alle, denen ich hatte zu Hilfe kommen wollen, war dies ein Unglück, da ich nun nicht ausführen konnte, was ich mir vorgenommen hatte, denn herumziehende Krämer, die noch dazu in einem Schuppen wohnten, waren wohl schwerlich reich. Aber was lag schließlich an alledem! Ich hatte ja eine Familie. Liebe ist mehr wert, als Reichtum, und mir that Zärtlichkeit not, nicht Geld.

Während ich der Erzählung meines Vaters lauschte, hatte man den Tisch mit blau geblümten Tellern gedeckt und eine metallene Platte mit einem großen, von Kartoffeln umgebenen Stück Roastbeef aufgetragen.

»Ihr werdet wohl Hunger haben, Jungen?« fragte mein Vater Mattia und mich.

Mattia wies seine weißen Zähne.

»Also zu Tisch!« sagte mein Vater.

Ehe er sich selbst mit dem Rücken gegen das Feuer setzte, schob er den Lehnsessel meines Großvaters bis an den Tisch, dann fing er an, den Braten zu zerschneiden und legte einem jeden eine schöne Schnitte Fleisch nebst Kartoffeln auf den Teller.

Obgleich ich nicht gerade in der feinsten Lebensart unterwiesen worden war, fiel es mir doch auf, daß meine Brüder und meine ältere Schwester meistens mit den Händen aßen und die Finger in die Sauce tauchten und ableckten, ohne daß mein Vater oder meine Mutter es zu bemerken schienen. Mein Großvater hatte für nichts Sinn als für seinen Teller, und führte die eine Hand, deren er sich bedienen konnte, ständig vom Mund zum Teller; entglitt dann und wann seinen zitternden Fingern ein Bissen, so machten sich meine Brüder über ihn lustig.

Nachdem das Essen vorüber war, glaubte ich, wir würden den Abend gemütlich zusammen verbringen, aber mein Vater sagte, er erwarte Freunde, und wir sollten zu Bette gehen; dann nahm er eine Kerze vom Tisch und führte uns in einen Wagenschuppen, der an den Raum anstieß, wo wir gesessen hatten; hier befanden sich zwei jener großen Wagen, wie sie gewöhnlich von herumziehenden Krämern benutzt werden; er öffnete die Thür des einen und wir sahen, daß sich zwei prächtige Betten darin befanden.

»Das sind eure Betten,« sagte er, »schlaft recht gut!« Das war mein Empfang in meiner Familie – in der Familie Driscoll.


 << zurück weiter >>