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Achtundzwanzigstes Kapitel.
Eine Musikstunde

In der Grube hatte ich mir Freunde gewonnen: besonders Onkel Gaspard und der Magister hatten mich sehr ins Herz geschlossen, und selbst der Obersteiger, der ja die Tage der Angst und Not nicht mit uns durchgemacht hatte, liebte mich, wie man ein Kind liebt, das man dem sicheren Tod entrissen hat. Er hatte mich zu sich eingeladen, und ich hatte seiner Tochter alles erzählen müssen.

Nun wollten sie mich alle in Varses behalten.

»Ich suche dir einen Häuer, dann bleiben wir immer bei einander.«

»Wenn du eine Anstellung in der Kanzlei willst,« sagte der Obersteiger, »so habe ich dir eine.«

Allein bei dem bloßen Gedanken, in die Grube zurückkehren und unter der Erde arbeiten zu müssen, glaubte ich zu ersticken: dem Obersteiger, der mich in der Kanzlei verwenden und unterrichten wollte, konnte ich aber nicht einfach sagen, ich wolle nicht »unter Tage« arbeiten, und deshalb gestand ich ihm die Wahrheit.

»Wenn dir das freie, abenteuerliche Leben lieber ist,« erwiderte er, »so habe ich nicht das Recht, dich davon abzuhalten. Folge deinem Berufe, mein Junge.«

Daß ich das Leben im Freien über alles liebte, war mir nie so klar zum Bewußtsein gekommen, als in der schwebenden Strecke!

Während alle diese Versuche, mich in Varses zurückzuhalten, gemacht wurden, war Mattia finster und gedankenvoll einhergewandert. Wohl hatte ich ihn gefragt, was er habe, allein er erwiderte, er sei wie immer. Erst als ich ihm sagte, in drei Tagen würden wir weiterziehen, erfuhr ich den Grund seiner Traurigkeit.

»Also verläßt du mich nicht!« rief er aus.

Darauf versetzte ich ihm einen gehörigen Rippenstoß, teils weil er an mir gezweifelt hatte, teils aber auch, um meine Rührung über diesen Aufschrei der Freundschaft zu verbergen. Denn es war wirklich nur Freundschaft und nicht Eigennutz, was aus Mattia sprach; er bedurfte meiner nicht, da er seinen Lebensunterhalt ganz allein verdienen konnte.

Um die Wahrheit zu sagen, muß ich sogar gestehen, daß er dazu angeborene Fähigkeiten hatte, die mir fehlten. Ganz abgesehen davon, daß er sämtliche Instrumente besser spielte, als ich, daß er singen, tanzen und alle Rollen durchzuführen verstand, hatte er auch etwas an sich, was ein »verehrliches Publikum« veranlaßte, tiefer in die Tasche zu langen. Schon durch sein Lächeln, seine sanften Augen, seine weißen Zähne und sein offenes Wesen rührte er selbst die weniger edelmütigen Herzen, und ohne um etwas zu bitten, erweckte er in den Menschen die Lust, etwas zu geben; es machte jedermann Freude, ihm Freude zu machen. So hatte er denn auch, während ich im Bergwerk arbeitete, mit Capi achtzehn Franken zusammengebracht, was viel heißen will.

Mit diesen von Mattia verdienten achtzehn Franken und dem, was wir schon vorher in der Kasse hatten, verfügten wir nun über eine Summe von hundertsechsundvierzig Franken, so daß uns nur noch vier Franken zur Kuh des Königssohnes fehlten.

Obgleich ich keine Lust hatte, Grubenarbeiter zu werden, that mir der Abschied von Varses doch recht weh – mußte ich mich doch von Alexis, Onkel Gaspard und dem Magister trennen; aber es war nun einmal mein Geschick, immer wieder von denen getrennt zu werden, die ich liebgewonnen hatte.

Vorwärts also!

Die Harfe um die Schulter gehängt, die Ranzel auf dem Rücken, zogen wir nun wieder auf der Landstraße dahin; Capi wälzte sich vor Vergnügen im Staub, und ich muß gestehen, daß ich mit großer Befriedigung die feste, dröhnende Straße unter meinen Füßen fühlte, an Stelle des feuchten, schlammigen Bodens in der Grube – ach, die liebe Sonne, die schönen Bäume!

Ehe wir unsre neue Wanderschaft antraten, hatten Mattia und ich uns unsern Reiseplan reiflich überlegt und dann beschlossen, statt über Ussel lieber über Clermont nach Chavanon zu gehen, weil wir dann die im Augenblick sehr besuchten Badeorte Saint Nectaire, Le Mont Dore, Royat und La Bourboule mitnehmen konnten, denn Mattia hatte auf seinem Ausfluge von einem Bärenführer gehört, daß dort viel Geld zu verdienen sei, und da er meinte, hundertundfünfzig Franken seien nicht genug für die Kuh, denn je mehr wir für sie bezahlen konnten, desto schöner würde sie sein, und je schöner sie wäre, um so größer würde Mutter Barberins Freude und folglich auch unser Glück sein, so wanderten nur also nach Clermont.

Schon auf dem Wege von Paris nach Varses hatte ich mit dem Unterricht Mattias begonnen, indem ich ihn lesen lehrte und ihm die Anfangsgründe der Musik beizubringen suchte: zwischen Varses und Clermont setzte ich meinen Unterricht fort.

Sei es nun, daß ich kein sehr guter Lehrer war – was leicht möglich ist – sei es, daß Mattia kein gelehriger Schüler war – jedenfalls ist es Thatsache, daß er im Lesen nur sehr geringe Fortschritte machte.

Mochte er sich noch so sehr anstrengen und keinen Blick von dem Buch verwenden, er las alle möglichen tollen Sachen, die seiner Einbildungskraft weit mehr zur Ehre gereichten, als seiner Aufmerksamkeit. Dann übermannte mich wohl der Zorn, so daß ich heftig auf das Buch schlug und zornig schrie, er habe einen viel zu harten Kopf. Darauf blickte er mich mit seinen großen, sanften Augen lächelnd an und sagte: »Das ist wahr, er ist bloß weich und empfänglich, wenn man auf ihn hineinhaut. – Garofoli war nicht so dumm, der hat das schnell los gehabt.«

Wen hätte eine solche Antwort nicht entwaffnet? Ich lachte, und der Unterricht nahm seinen Fortgang.

Dagegen hatte Mattia in der Musik so wunderbare, überraschende Fortschritte gemacht, daß er mich in aller Bälde mit seinen Fragen in Verlegenheit setzte, und ich ihnen mehr als einmal die Antwort schuldig bleiben mußte.

Ich kann nicht leugnen, daß mich dies sehr ärgerte und kränkte, denn ich nahm es mit meinem Lehramt gar ernst und fand derartige Fragen nicht nur demütigend, sondern hatte sogar den Eindruck, als wolle er mich damit zum besten haben.

Aber mein Schüler schenkte mir derartige Fragen nicht: »Warum zeichnet man nicht bei allen Noten den nämlichen Schlüssel vor? Warum zeichnet man bei der Erhöhung eines Tones ein Kreuz, bei der Erniederung ein b vor? Warum fehlt im ersten und letzten Takt häufig ein Stück? Warum stimmt man die Geige immer nur auf bestimmte Noten?«

Auf diese letzte Frage hatte ich würdevoll erwidert, da die Geige nicht mein Instrument sei, habe ich mich nie darum gekümmert. Leider konnte ich mir aber nicht bei allen Fragen auf diese Weise aus der Verlegenheit helfen – ich mußte antworten, oder es war um mein Ansehen und um meine Autorität als Musiklehrer geschehen, und diese wollte ich durchaus nicht einbüßen.

Manchmal suchte ich mir auch mit Antworten zu helfen, wie Onkel Gaspard sie mir gegeben hatte: »Steinkohle ist Kohle, die man in der Erde findet,« und entgegnete mit nicht geringerer Sicherheit gegebenen Falls: »Das ist so, weil es so sein muß – das ist eine Regel.«

Nun lag es nicht in Mattias Charakter, sich gegen derartige Regeln aufzulehnen, aber er hatte dafür eine ganz verflixte Art, mich mit offenem Mund und großen Augen anzusehen, was mein Selbstgefühl in keiner Weise hob.

Etwa drei Tage nachdem wir von Varses ausgezogen waren, hatte er mir wieder eine Frage gestellt, und ich auf sein »Warum« mit einem »das ist, weil es eben so ist« geantwortet.

Den ganzen Tag über konnte ich kein Wort aus ihm herauslocken, so zerstreut war er, und das fiel mir sehr auf, weil er sonst stets zu Lachen und Plaudern aufgelegt war.

Erst nach längerem Drängen rückte er mit der Sprache heraus.

»Gewiß bist du ein guter Lehrer,« sagte er, »und ich glaube, daß mir niemand das, was ich weiß, so gut beigebracht hätte, als du, aber ...«

»Was aber?«

»Aber vielleicht gibt es auch noch Dinge, die du nicht weißt – das kommt ja selbst bei den gelehrtesten Leuten vor. Deswegen gibt es vielleicht für manches, wo du sagst: ›es ist so, weil es so ist‹, auch noch eine andre Erklärung, die man dir selbst nicht gegeben hat. Darüber habe ich nachgedacht und bin auf den Einfall geraten, daß wir vielleicht – wenn es dir recht wäre – ein billiges Buch über die Grundlehren der Musik kaufen könnten.«

»Das ist richtig.«

»Nicht wahr, ich habe mir wohl gedacht, daß dir das auch einleuchten würde, denn schließlich kannst du doch nicht alles wissen, was in den Büchern steht, da du nicht aus Büchern gelernt hast.«

»Ein guter Lehrer ist viel mehr wert, als das beste Buch.«

»Was du da gesagt hast, macht mir Mut, auch noch etwas andres zu erwähnen: wenn du es erlaubst, möchte ich einen wirklichen Lehrer bitten, mir eine Stunde, nur eine einzige Stunde zu geben, und dann müßte er mir alles sagen, was ich nicht weiß.«

»Warum hast du denn diese Stunde bei einem wirklichen Lehrer nicht genommen, so lange du allein warst?«

»Weil die wirklichen Lehrer sich bezahlen lassen, und ich das doch nicht ohne weiteres von deinem Geld thun konnte.«

Natürlich hatte es mich sehr verletzt, als Mattia von einem wirklichen Lehrer sprach, allein seinen letzten Worten hielt meine dumme Eitelkeit nicht stand.

»Du bist der dümmste Kerl, den es gibt,« sagte ich, »mein Geld ist dein Geld, denn du verdienst so viel und oft noch mehr daran als ich; wir wollen miteinander so viele Stunden nehmen, als du Lust hast – dann kann auch ich lernen, was ich noch nicht weiß.«

Der »wirkliche Lehrer«, den wir brauchten, sollte natürlich kein Dorfmusikant, sondern ein Künstler, ein großer Künstler sein, wie man sie nur in bedeutenderen Städten findet. Da auf unserm Weg nach Clermont Mende die einzige größere Stadt war, wurde beschlossen, dort die große Ausgabe für eine Musikstunde zu machen, denn obgleich unsre Einnahmen in den öden Bergen der Lozère, wo nur vereinzelte arme Dörfer zu finden sind, weniger als mittelmäßige waren, wollte ich doch Mattias Freude nicht länger verzögern.

Nach einer beschwerlichen Wanderung durch die trostlose, elende, unbebaute und unbewohnte Méjeaner Heide langten wir endlich in dem ersehnten Mende an; da es aber schon seit mehreren Stunden Nacht geworden war, konnten wir unsre Musikstunde nicht gleich an diesem Abend nehmen; außerdem waren wir auch todmüde.

Mattia brannte dermaßen darauf, zu erfahren, ob in Mende, das ihm keineswegs einen sehr großstädtischen Eindruck gemacht hatte, ein Musiklehrer zu bekommen sei, daß ich mich noch während des Nachtessens bei der Wirtin erkundigte, ob in Mende ein guter Musiker zu finden sei, der Stunden gebe.

Sie erwiderte, sie müsse sich über unsre Frage wundern, ob wir denn Herrn Espinassous nicht kennten?

»Wir kommen von weit her,« sagte ich.

»Gewiß von sehr weit?«

»Von Italien,« entgegnete Mattia.

Darauf legte sich ihr Erstaunen einigermaßen, und sie schien es für möglich zu halten, daß man in Italien nichts von Herrn Espinassous wissen könne; wären wir aber nur von Marseille oder Lyon gekommen und hätten diesen Namen nicht gekannt, so würde sie uns für höchst ungebildet gehalten und unsre Fragen gar nicht beantwortet haben.

»Ich hoffe, daß wir's gut getroffen haben,« sagte ich auf italienisch zu meinem Gefährten, dessen Augen vor Freude leuchteten, denn natürlich würde ihm Herr Espinassous vom Fleck weg alle meine Fragen beantworten können; mich aber wandte die Furcht an, ob solch ein großer Künstler sich wohl herablassen werde, so armen Tröpfen, wie wir es waren, eine Stunde zu geben.

»Ist Herr Espinassous sehr beschäftigt?« fragte ich.

»Na, das will ich meinen! Wie sollte er nicht?«

»Glauben Sie, daß er uns morgen früh empfangen wird?«

»Gewiß; er empfängt jeden, der Geld im Sack hat.«

Das war uns eine Beruhigung, und trotz unsrer Müdigkeit erwogen wir, ehe wir einschliefen, noch reiflich die Fragen, die wir morgen diesem berühmten Lehrer vorlegen wollten.

Nachdem wir am nächsten Morgen unsre Anzüge sorgfältig gesäubert hatten, nahm Mattia seine Geige und ich meine Harfe, um uns schnurstracks zu Herr Espinassous zu verfügen.

Wie gewöhnlich wollte uns Capi begleiten, aber wir banden ihn im Stall des Wirts fest, da wir es für unschicklich hielten, uns mit einem Hund bei dem berühmten Musiker von Mende einzuführen.

Als wir vor dem bezeichneten Haus anlangten, glaubten wir erst, wir hätten uns getäuscht, denn über dem Eingang baumelten zwei kleine messingene Barbierbecken, was doch sicherlich noch nie das Aushängeschild eines Musiklehrers gewesen ist.

Während wir noch in Betrachtung des Schaufensters, das ganz aussah wie das eines Barbiers, versunken standen, kam ein Mädchen vorüber, und wir fragten, wo Herr Espinassous wohne.

»Hier,« lautete die Antwort, mit einer entsprechenden Bewegung nach dem Hause des Barbiers. Schließlich konnte ja ein Musiklehrer auch bei einem Barbier wohnen!

Wir traten also ein; der Laden war in zwei gleiche Hälften geteilt; auf der rechten Seite waren, auf Borten geordnet, Bürsten, Kämme, Pomadetöpfe und Seifen, während man links auf einem Werktisch und an den Wänden eine Menge musikalischer Instrumente: Geigen, Klapphörner und Trompeten sah.

»Herr Espinassous?« fragte Mattia.

Ein kleiner, lebhafter Mann, der wie ein Vögelchen um einen Bauern herumhüpfte, den er eben rasierte, antwortete in tiefem Baß: »Das bin ich.«

Ich warf Mattia einen Blick zu, der besagen sollte, dieser Musiker-Barbier sei keinesfalls der Mann, den wir brauchten, und es hieße unser Geld zum Fenster hinauswerfen, wenn wir uns an ihn wenden würden, aber statt mich zu verstehen und mir zu gehorchen, ließ sich Mattia auf einen Stuhl nieder und fragte ganz ungezwungen: »Können Sie mir die Haare schneiden, wenn Sie den Herrn rasiert haben?«

»Gewiß, junger Mann, und auch rasieren, wenn Sie wollen.«

»Danke,« sagte Mattia, »heute nicht – wenn ich wieder einmal vorbeikomme.«

Ich war ganz sprachlos über Mattias Dreistigkeit, aber er warf mir einen verstohlenen Blick zu, der mich bat, ein bißchen zu warten, ehe ich böse würde.

Bald war Espinassous mit seinem Bauern fertig und kam mit der Serviette in der Hand auf Mattia zu, um diesem die Haare zu schneiden.

»Herr Espinassous,« begann Mattia, während man ihm das Handtuch umband, »mein Freund und ich haben eine Meinungsverschiedenheit, und da wir wissen, daß Sie ein berühmter Musiker sind, haben wir gedacht, Sie würden uns vielleicht ihre Meinung über den strittigen Punkt mitteilen.«

»Sagt nur, was ihr wissen möchtet, meine jungen Herren.«

Nun begriff ich, auf was Mattia ausging: in erster Linie wollte er sich davon überzeugen, ob dieser Haarschneide-Musikus im stande sei, seine Fragen zu beantworten, und in zweiter, falls die Antworten befriedigend ausfielen, sich die Musikstunden um den Preis des Haarschneidens geben zu lassen – ja, ja, der Mattia, der war gerieben.

»Warum,« fragte Mattia nun, »stimmt man die Geige nach gewissen Noten und nie nach andern?«

Ich war fest überzeugt, dieser Haarscherer werde eine Antwort in meiner Art erteilen, und fing schon leise zu lachen an, als er das Wort ergriff.

»Da die zweite Saite links das a der Grundtonleiter anzugeben hat, müssen die andern Saiten so gestimmt werden, daß sie die Töne von Quinte zu Quinte angeben, das heißt, die vierte Saite g, die dritte d, die zweite a, und die erste e

Mir war das Lachen vergangen, aber Mattia lachte aus vollem Halse. Ob er sich über mein verdutztes Gesicht lustig machte, oder sich nur freute, zu erfahren, was er schon so lange gern gewußt hätte?

Ich starrte mit offenem Mund den Haarkünstler an, der sich mit klappernder Schere geschäftig um Mattia herumbewegte, während er diese kurze, mir ganz wunderbar klingende Erklärung abgab.

»Nun,« sagte er und blieb plötzlich vor mir stehen, »ich wette, daß jedenfalls mein kleiner Kunde recht behalten hat.«

Solange das Schneiden seiner Haare währte, fragte Mattia unermüdlich weiter, und alle seine Fragen beantwortete der Barbier mit der nämlichen Leichtigkeit und Sicherheit.

Nun aber kam die Reihe des Fragens auch an ihn, und bald wußte er, in welcher Absicht wir ihn aufgesucht hatten.

Er brach in herzliches Gelächter aus und rief: »Ihr seid ja ein paar schlaue, kleine Gassenbengel!«

Dann verlangte er, daß ihm Mattia, der ihm offenbar »schlauer« zu sein schien als ich, ein Stück vorspiele. Mutig nahm Mattia seine Geige zur Hand und begann einen Walzer zu spielen.

»Und du kennst keine einzige Note!« rief der Haarschneider und klatschte in die Hände.

Ich habe schon bemerkt, daß Instrumente auf einem Tisch ausgebreitet lagen und an den Wänden herumhingen. Als Mattia mit seinem Walzer zu Ende war, nahm er eine Klarinette.

»Ich spiele auch die Klarinette und das Klapphorn.«

»Vorwärts, spiele!« rief Espinassous.

Und Mattia spielte auf beiden Instrumenten.

»Dieser Bengel ist das reine Wunderkind,« schrie der Friseur, »wenn du bei mir bleiben willst, mache ich einen großen Musiker aus dir! Hörst du, einen großen Musiker! Morgens rasierst du die Kunden mit mir, und die übrige Zeit unterrichte ich dich; denke nicht, ich sei kein guter Lehrmeister, weil ich Barbier bin; man muß doch leben und essen und trinken und schlafen – dafür ist das Rasiermesser gut. Jasmin ist doch der größte Dichter Frankreichs, wenn er auch den Leuten den Bart abnimmt: Agen hat seinen Jasmin, Mende hat Espinassous!«

Als ich diese Worte vernahm, sah ich Mattia an. Was würde er wohl antworten? Mußte ich meinen Freund, meinen Gefährten, meinen Bruder verlieren, wie ich noch alle verloren, die ich liebte? Mein Herz krampfte sich zusammen, aber ich gab mich dieser Empfindung doch nicht völlig hin. Bis zu einem gewissen Grad befand ich mich letzt in derselben Lage, wie Vitalis gegenüber von Frau Milligan, als mich diese bei sich zu behalten wünschte. Ich wollte mir nicht später die nämlichen Selbstvorwürfe machen müssen, wie Vitalis.

»Du darfst dabei nur an dich selbst denken, Mattia,« sagte ich mit zitternder Stimme. Aber er kam auf mich zu und faßte mich fest bei der Hand.

»Meinen Freund verlassen! Das brächte ich niemals übers Herz! Ich danke Ihnen schön, Herr Espinassous.«

Der Barbier drang noch weiter in ihn und sagte, wenn Mattia erst über die Anfangsgründe hinaus sei, so werde er Mittel und Wege finden, ihn nach Toulouse und dann nach Paris aufs Konservatorium zu schicken, aber Mattia antwortete unentwegt: »Remi verlassen! Niemals!«

»Nun, mein Junge, so will ich was andres für dich thun,« sagte der Barbier schließlich, »und dir wenigstens ein Buch geben, woraus du lernen kannst, was dir fehlt.«

Nun durchstöberte er alle seine Schubladen und brachte nach geraumer Zeit ein Buch zum Vorschein, dessen Titel lautete: »Theorie der Musik.« Es war ein sehr altes und sehr abgenütztes Buch, aber was schadete das!

Nun nahm er eine Feder und schrieb auf das Titelblatt: »Dem Knaben, der einst ein großer Künstler werden wird, zur Erinnerung an den Barbier von Mende.«

Ich weiß nicht, ob es damals außer dem Barbier Espinassous noch andre Musiklehrer in Mende gab oder nicht; Mattia und ich haben nur den einen kennen gelernt und ihn bis auf den heutigen Tag nicht vergessen.


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