Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erster Band.

Erster Teil.

Erstes Kapitel.
Im Dorf

Ich bin ein Findelkind.

Bis zu meinem achten Jahr habe ich geglaubt, ich hätte, wie andre Kinder, eine Mutter; denn wenn ich weinte, schloß mich eine Frau so zärtlich in ihre Arme, daß meine Thränen zu fließen aufhörten.

Nie legte ich mich in mein Bett, ohne daß sie kam und mir einen Gutnachtkuß gab, und wenn der Dezemberwind den Schnee gegen die weißgefrorenen Fenster trieb, nahm sie meine Füße in ihre beiden Hände und wärmte sie und sang ein Lied dazu, von dem mir bis heute die Melodie und einige Worte des Textes in der Erinnerung geblieben sind.

Wenn ich unsre Kuh an den grasigen Wegen oder auf der Buschheide hütete und von einem Gewitterregen überrascht wurde, kam sie mir entgegengelaufen und zwang mich, unter ihrem wollenen Rock, den sie mir über Kopf und Schulter legte, Zuflucht zu suchen.

Geriet ich mit einem meiner Kameraden in Streit, so ließ sie sich meinen Kummer erzählen und fand fast immer ein liebevolles Wort, um mich zu trösten oder mir recht zu geben.

Daraus und noch aus vielen andren Dingen, aus der Art, in der sie mich betrachtete, aus ihren Liebkosungen, aus der Sanftmut, mit der sie mich schalt, schloß ich, sie sei meine Mutter.

Daß sie nur meine Pflegemutter war, erfuhr ich auf folgende Weise:

Mein Dorf, oder um mich richtiger auszudrücken, das Dorf, in dem ich erzogen worden bin – denn ich hatte ja keinen Geburtsort, so wenig als einen Vater oder eine Mutter – das Dorf also, in dem ich meine Kindheit verlebte, heißt Chavanon und ist eines der ärmsten im Herzen Frankreichs.

Diese Armut rührt aber keineswegs von der Gleichgültigkeit oder Faulheit seiner Bewohner, sondern von seiner Lage in einer wenig fruchtbaren Gegend her.

Der Erdboden ist humusarm und bedürfte, um größere Erträge zu liefern, vielen Düngers, der in der Gegend fehlt. Deshalb sieht man auch nur wenig bebaute Felder, und der Blick schweift über weite Strecken, »Brandflecke« hin, auf denen nichts wächst als Heidekraut und Wacholder. Da wo der »Brandfleck« aufhört, fängt die höher gelegene Heide an, über die rauhe Winde streichen und die Aeste der verkümmerten Baumgruppen rütteln, die hier und dort zu sehen sind.

Um schöne Bäume zu finden, muß man von den Höhen herunter in die Niederungen steigen, an die Ufer der Flüsse, wo auf engeingeschlossenen Wiesen große Kastanienbäume und kräftige Eichen wachsen.

In einer solchen Niederung, am Rand eines Baches, der sein eilig weiter rauschendes Wasser einem Nebenfluß der Loire zuführt, erhebt sich das Haus, in dem ich meine ersten Lebensjahre verbracht habe.

Bis zu meinem achten Jahr hatte ich nie einen Mann in diesem Haus gesehen; indessen war meine Mutter nicht Witwe. Ihr Mann, ein Steinmetz, arbeitete, wie viele andre auch, in Paris und war nicht mehr nach Hause gekommen, seit ich alt genug war, zu sehen und zu begreifen, was um mich her vorging.

Von Zeit zu Zeit schickte er aber durch irgend einen Kameraden, der ins Dorf zurückkehrte, Nachrichten von sich.

»Mutter Barberin, Eurem Mann geht's gut; er hat mir aufgetragen, Euch zu sagen, daß die Arbeit fleckt, und Euch das Geld hier zu geben. Wollt Ihr's zählen?«

Das war alles. Mutter Barberin begnügte sich mit dieser Nachricht; ihr Mann war gesund, die Arbeit einträglich, er verdiente seinen Unterhalt.

Man darf nicht glauben, Barberin hätte schlecht mit seiner Frau gestanden, weil er so lange in Paris blieb; er wohnte in Paris, weil ihn die Arbeit dort zurückhielt. Im Alter wollte er dann zu seiner alten Frau zurückkehren, und das bis dahin erworbene Geld sollte sie, wenn sie nicht mehr arbeiten konnten, vor Not und Entbehrung schützen.

An einem Novembertag blieb bei Einbruch der Dunkelheit ein Mann, den ich nicht kannte, vor unsrem Gatter stehen. Ich war unter der Hausthür damit beschäftigt, ein Bündel Reisig klein zu machen. Ohne das Gatter aufzustoßen, sah der Fremde darüber weg und fragte mich, ob hier nicht Mutter Barberin wohne.

Ich hieß ihn eintreten.

Er stieß das Gatter auf, das in seinem Weidenband knirschte, und schritt langsam aufs Haus zu.

Noch nie hatte ich einen so mit Kot bespritzten Menschen gesehen: von Kopf bis zu Fuß war er mit Schmutz bedeckt, der teils schon getrocknet, teils noch feucht war, und auf den ersten Blick sah man, daß er lange auf schlechten Wegen gewandert war.

Mutter Barberin eilte herbei, sobald sie unsre Stimmen hörte, und stand dem Fremden gegenüber, als er über die Schwelle trat.

»Ich bringe Nachricht aus Paris«, sagte er.

Diese Worte klangen äußerst einfach, und wir hatten sie schon oft gehört, aber der Ton, in dem sie heute gesprochen wurden, erinnerte in nichts an den, womit sonst gesagt wurde: »Ihrem Mann geht es gut, die Arbeit fleckt.«

»Ach du lieber Gott,« rief Mutter Barberin und schlug die Hände zusammen. »Jérôme ist ein Unglück zugestoßen!«

»Nun ja, aber Ihr braucht Euch jetzt nicht aus Angst auch krank zu machen! Euer Mann ist verunglückt, das ist wahr, aber er ist nicht tot, nur daß er vielleicht ein Krüppel bleiben wird. Für den Augenblick liegt er im Spital. Ich bin sein Bettnachbar gewesen, und als ich wieder heim ging, bat er mich, es Euch im Vorbeigehen zu erzählen. Ich kann mich nicht länger aufhalten, denn ich habe noch drei Meilen vor mir, und es wird so schnell Nacht.«

Mutter Barberin, die gerne Näheres erfahren hätte, bat den Mann, zum Nachtessen dazubleiben; die Wege seien so schlecht: es sollten sich auch Wölfe in den Wäldern gezeigt haben; er könnte ja dann morgen früh weiterziehen.

Er setzte sich in die Kaminecke und erzählte uns, während er aß, wie das Unglück geschehen war: man hatte Barberin unter einem zusammengestürzten Gerüst halb zermalmt hervorgezogen, und da ihm nachgewiesen werden konnte, daß er an dem Platz, wo er verletzt worden war, gar nichts zu thun gehabt hatte, weigerte sich der Unternehmer, ihm irgend welche Entschädigung zu bezahlen.

»Er hat eben Pech, der arme Barberin,« sagte er, »er hat wirklich Pech! Es gibt Schlaumaier genug, die sich damit eine Rente verschafft hätten, aber Euer Mann bekommt nichts.«

Und während er seine Hosen trocknete, die unter ihrer harten Schmutzkruste ganz steif wurden, wiederholte er mit einem so aufrichtigen Bedauern die Worte: »Er hat eben Pech«, daß man wohl sah, wie gern er sich hätte zum Krüppel machen lassen, falls ihm dadurch ein gutes Einkommen sicher gewesen wäre.

»Gleichwohl,« sagte er zum Schluß seiner Erzählung, »habe ich ihm geraten, mit dem Unternehmer einen Prozeß anzufangen.«

»Ein Prozeß kostet aber viel Geld.«

»Wohl, aber wenn man ihn gewinnt!«

Mutter Barberin hätte sich am liebsten gleich nach Paris aufgemacht, nur daß es eine schreckliche Sache war um eine so weite und kostspielige Reise.

Am nächsten Morgen begaben wir uns ins Dorf hinunter, um den Pfarrer um Rat zu fragen. Dieser wollte sie nicht abreisen lassen, ehe er wußte, ob sie ihrem Mann auch von Nutzen sein könne. Deshalb schrieb er an den Verwalter des Spitals, in dem Barberin lag, und erhielt einige Tage später die Antwort, daß Mutter Barberin nicht abreisen, aber ihrem Manne eine gewisse Summe Geld schicken soll, weil er gegen den Unternehmer, bei dem er verwundet worden war, einen Prozeß anstrengen wolle.

Tage und Wochen vergingen, und von Zeit zu Zeit kamen Briefe, die alle neue Geldforderungen enthielten: der letzte dieser Briefe war noch dringlicher als die früheren und sagte, man solle die Kuh verkaufen, wenn kein Geld mehr da sei.

Wer aber unter den Bauern auf dem Land gelebt hat, weiß, welchen Kummer und welches Elend die drei Worte: »Die Kuh verkaufen,« in sich schließen.

Für den Naturforscher ist die Kuh ein Wiederkäuer, für den Spaziergänger ein Tier, das sich in der Landschaft ganz gut ausnimmt, wenn es seine feuchte, rosige Schnauze aus dem Gras herausstreckt; für das Stadtkind ist sie die Quelle des Milchkaffees und des Rahmkäses, aber für den Bauern ist sie etwas ganz andres und viel mehr. Er mag so arm sein, als er will, und eine noch so zahlreiche Familie haben – gegen den Hunger ist er geschützt, so lange er eine Kuh im Stall hat. An einer Leine, ja sogar an einer um die Hörner geschlungenen Wiede, führt ein Kind die Kuh die grasigen Wege, an denen niemand ein Weiderecht hat, entlang spazieren, und am Abend hat die ganze Familie Butter in der Suppe und Milch zu den Kartoffeln. Vater, Mutter und Kinder, die großen wie die kleinen – alle leben von der Kuh.

Auch wir, Mutter Barberin und ich, lebten von unsrer Kuh, und das so vollständig, daß ich bis dahin beinahe nie Fleisch gegessen hatte. Allein sie war nicht nur unsre Ernährerin, sie war auch unsre Gefährtin, unsre Freundin, denn man darf sich gar nicht einbilden, die Kuh sei ein dummes Tier! Sie ist im Gegenteil ein sehr kluges Tier und besitzt vortreffliche moralische Eigenschaften, die sich um so mehr entwickeln, wenn sie durch die Erziehung gepflegt werden. Wir liebkosten die unsre, wir sprachen mit ihr, sie begriff uns und verstand es auch ihrerseits ganz vorzüglich, uns mit ihren großen, runden, sanften Augen begreiflich zu machen, was sie wollte oder nicht wollte.

Kurzum, wir liebten sie, und sie liebte uns, und damit ist alles gesagt.

Gleichwohl mußten wir uns von ihr trennen, denn nur der Verkauf der Kuh konnte es Mutter Barberin ermöglichen, ihren Mann zufrieden zu stellen.

Es kam ein Viehhändler ins Haus, der die »Rote« lang und breit, seinen unzufriedenen Kopf schüttelnd, untersuchte und schließlich, nachdem er hundertmal wiederholt hatte, sie gefalle ihm nicht, man sehe ihr an, daß sie die Kuh armer Leute sei, er könne sie nicht wieder verkaufen, sie habe keine Milch und gebe schlechte Butter, erklärte, er wolle sie nehmen, aber nur weil er so seelengut sei und der Mutter Barberin zulieb, die eine wackere Frau sei.

Die arme »Rote«, als verstünde sie, um was es sich handelte, hatte zu brüllen angefangen und war durchaus nicht aus ihrem Stall herauszubringen.

»Stell dich hinter sie und jag sie heraus,« hatte der Viehhändler zu mir gesagt und streckte mir die Peitsche hin, die er um den Hals geschlungen trug.

»Das gibt's nicht,« hatte aber Mutter Barberin erklärt.

Dann hatte sie die Kuh an der Leine genommen und ihr liebevoll zugeredet.

»Komm, schönes Tier, komm, komm!«

Und die »Rote« hatte ihren Widerstand aufgegeben; auf der Straße angelangt, war sie von dem Viehhändler hinten an seinen Wagen gebunden worden, und hatte dann natürlich dem Pferd folgen müssen.

Wir waren wieder ins Haus gegangen, aber noch lange hatten wir sie kläglich brüllen hören.

Keine Milch, keine Butter mehr. Morgens ein Stück Brot, abends Kartoffeln mit Salz.

Bald nach dem Verkauf der »Roten« war Fastnacht; das Jahr zuvor hatte mir Mutter Barberin an Fastnacht ein Festmahl aus Krapfen und Aepfelküchlein bereitet, die ich mir so herrlich hatte schmecken lassen, daß sie ganz glücklich gewesen war.

Aber damals hatten wir auch noch die »Rote« gehabt, die uns Milch zum Anrühren des Teiges und Butter zum Ausbacken gegeben hatte.

»Keine ›Rote‹, keine Milch, keine Butter, keine Fastnacht mehr,« dachte ich traurig bei mir.

Mutter Barberin hatte mir aber eine Ueberraschung bereitet; obgleich sie nicht gern etwas entlehnte, hatte sie doch eine unsrer Nachbarinnen um eine Tasse Milch, und eine andre um ein Stück Butter gebeten, und als ich gegen Mittag nach Hause kam, fand ich sie im Begriff, Mehl in eine große, irdene Kasserolle zu schütten.

»Das ist ja Mehl,« sagte ich und trat näher.

»Ja wohl,« sagte sie lächelnd, »das ist Mehl, lieber Remi, schönes Weizenmehl. Da! wie gut das riecht!«

Für mein Leben gern hätte ich gefragt, was sie mit dem Mehl machen wolle, aber gerade, weil ich es so gern wissen wollte, getraute ich mich nicht, darüber zu sprechen, und außerdem wollte ich, um Mutter Barberin nicht zu betrüben, nicht merken lassen, daß ich an den Fastnachtstag dachte.

»Was macht man denn aus Mehl?« fragte sie und sah mich an.

»Brot.«

»Was noch?«

»Brei.«

»Und was sonst noch?«

»Ja, ja ... das weiß ich nicht.«

»Ja wohl weißt du's, nur traust du dir's nicht zu sagen, weil du ein guter, kleiner Kerl bist. Du weißt, daß heute Fastnacht ist, der Tag, an dem man Krapfen und Aepfelküchlein ißt; außerdem weißt du aber auch, daß wir weder Butter noch Milch haben, und wagst es deshalb nicht, davon zu sprechen. Na, ist's nicht so?«

»O, Mutter Barberin!«

»Weil ich das alles im voraus erriet, habe ich dafür gesorgt, daß du keine allzu trübselige Fastnacht verlebst. Sieh mal in den Backtrog!«

Schnell hob ich den Deckel in die Höhe und entdeckte Milch, Butter, Eier und drei Aepfel.

»Gib mir die Eier,« sagte sie, »und solange ich den Teig anmache, kannst du die Aepfel schälen.«

Während ich die Aepfel in Scheiben schnitt, schlug sie die Eier ins Mehl, goß ab und zu einen Eßlöffel Milch daran und mengte alles durcheinander.

Als der Teig angerührt war, setzte Mutter Barberin die Schüssel in die warme Asche, und nun mußte man nur noch auf den Abend warten, denn die Krapfen und Aepfelküchlein sollten zum Nachtessen verspeist werden.

Ehrlich gestanden, wurde mir der Tag sehr lang, und mehr als einmal hob ich das Tuch auf, das die Terrine bedeckte.

»So wird der Teig kalt und geht nicht auf,« bemerkte Mutter Barberin.

Aber er ging gut auf und hier und dort stiegen kleine Bläschen auf, die an der Oberfläche platzten. Von dem arbeitenden Teig strömte ein köstlicher Eier- und Milchgeruch aus.

»Mache Holz klein,« sagte sie zu mir, »wir brauchen ein helles, rauchloses Feuer.«

Endlich wurde das Licht angezündet.

»Lege Holz aufs Feuer,« befahl Mutter Barberin.

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und bald loderte ein großes Feuer im Kamin und erhellte die Küche mit seinem flackernden Licht.

Nun nahm die gute Frau die Pfanne von der Wand und setzte sie über die Flamme.

»Reich mir die Butter her!«

Mit der Messerspitze nahm sie ein nußgroßes Stückchen davon und that es in die Pfanne, wo es brozelnd zerschmolz.

Ach, war das ein köstlicher Duft, und er schmeichelte unsern Gaumen um so mehr, als wir ihn so lange nicht mehr gerochen hatten.

Wie eine liebliche Musik klang mir das Zischen und Brozeln der zerschmelzenden Butter.

Aber so aufmerksam ich auch diesen Tönen lauschte, glaubte ich doch ein Geräusch im Hof zu vernehmen. Wer konnte uns noch um diese Zeit stören? Ohne Zweifel eine Nachbarin, die uns um Feuer bitten wollte.

Ich hielt mich mit diesem Gedanken aber nicht lange auf, denn Mutter Barberin hatte den Schöpflöffel in die Schüssel getaucht, und stand im Begriff, den weißen Teig in die Pfanne fließen zu lassen, das war wahrhaftig kein Augenblick, an etwas andres zu denken.

Ein Stock stieß an die Schwelle und sofort wurde die Thür aufgerissen.

»Wer ist da?« fragte Mutter Barberin, ohne sich umzudrehen.

Ein Mann war eingetreten, und im Schein der eben hellauflodernden Flamme sah ich, daß er einen weißen Kittel anhatte und einen dicken Stock in der Hand hielt.

»Man läßt sich's hier scheint's recht wohl sein? Laßt euch nicht stören,« sagte er mit rauher Stimme.

»Ach, mein Gott,« rief Mutter Barberin und setzte eilends ihre Pfanne zur Erde, »du bist's, Jérôme?«

Dann faßte sie mich am Arm und schob mich nach dem Manne hin, der auf der Schwelle stehen geblieben war: »Es ist dein Vater!«


 << zurück weiter >>