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Vierzehntes Kapitel.
Schnee und Wölfe

Wiederum mußte ich, die Harfe um die schmerzende Schulter gehängt, hinter meinem Herrn dreinmarschieren, jeder Witterung preisgegeben auf der Landstraße dahinziehen, auf den öffentlichen Plätzen den Dummkopf spielen und lachen oder weinen, um das verehrliche Publikum zu unterhalten.

Der Uebergang war hart, denn gar schnell gewöhnt man sich an Wohlleben und Glück, und ich empfand nun einen Ekel, einen Verdruß und eine Abspannung, die mir unbekannt gewesen waren, ehe ich acht Wochen lang das Leben der Glücklichen dieser Welt geteilt hatte.

Häufig blieb ich auf unsren langen Wanderungen etwas zurück, um ungestört an Arthur, Frau Milligan und den »Schwan« denken und mich in der Erinnerung zu ihnen zurückversetzen zu können, und wenn ich des Abends in einem schmutzigen Dorfwirtshaus im Bette lag, da dachte ich an meine Kabine im »Schwan« zurück und fand das Bettzeug gar rauh und grob!

Aber ach, ich würde also nie mehr mit Arthur spielen, nie mehr Frau Milligans liebevolle Stimme vernehmen dürfen!

Glücklicherweise hatte ich in meinem tiefen, langandauernden Kummer den einen Trost, daß mein Herr viel sanfter, ja beinahe zärtlich gegen mich war und für Vitalis, auf den das Wort »zärtlich« eigentlich nie anzuwenden gewesen war, wollte das viel heißen; ich aber wurde dadurch aufrecht gehalten, so daß ich meine Thränen zurückdrängen konnte, wenn mir die Erinnerung an Arthur beinahe das Herz abdrückte. Ich fühlte, daß ich nicht mehr allein im Leben stand und daß mir Vitalis viel mehr war als nur mein Herr.

Wenn ich es mir nur getraut hätte, so wäre ich ihm manchmal gern um den Hals gefallen, so lebhaft fühlte ich das Bedürfnis, meine Liebe auch nach außen hin zum Ausdruck zu bringen, aber Vitalis war nicht der Mann, mit dem man sich solche Vertraulichkeiten erlauben konnte.

Anfangs hatte mich die Angst in angenehmer Entfernung von ihm gehalten, jetzt aber war es ein unbestimmtes, an Ehrfurcht grenzendes Gefühl.

Als ich mein Dorf verließ, war Vitalis für mich ein Mann gewesen wie ein andrer auch, nun aber, da ich durch meinen Aufenthalt bei Frau Milligan unterscheiden gelernt hatte, fand ich, daß mein Herr in Haltung und Benehmen viel Ähnlichkeit mit Frau Milligan hatte. Ueberlegte ich mir die Sache dann näher, so sagte ich mir wohl, daß dies unmöglich sei, weil ja mein Herr nur ein Tierführer und Frau Milligan doch eine vornehme Dame war. Allein das, was ich ständig vor Augen hatte, ließ sich durch den Verstand nicht wegstreiten, und der einzige bemerkbare Unterschied bestand darin, daß Frau Milligan immer eine vornehme Dame und mein Gebieter nur unter gewissen Umständen ein vornehmer Herr war; dann aber war er es allerdings so völlig, daß er auch den kecksten und unverschämtesten Leuten Achtung gebot.

Da ich nun weder das eine, noch das andre war, unterlag ich diesem Eindruck so völlig, daß ich nicht wagte, meinem Herzen Luft zu machen, selbst wenn er durch gute Worte mein Verlangen danach steigerte.

Nachdem wir Cette verlassen hatten, war mehrere Tage lang der Name Frau Milligans gar nicht erwähnt worden, nach und nach aber kamen wir auf sie und auf meinen Aufenthalt auf dem »Schwan« zurück, und immer war es mein Herr, der zuerst davon zu sprechen anfing, bis schließlich kein Tag verging, an dem nicht Frau Milligans Name erwähnt worden wäre.

»Du hast diese Dame wohl sehr gerne,« sagte Vitalis, »das begreife ich recht gut, denn sie ist sehr freundlich gegen dich gewesen, und du mußt stets mit größter Dankbarkeit an sie denken.«

Oft setzte er noch hinzu: »Es mußte sein.«

Anfangs hatte ich diese Aeußerung nicht recht verstanden, später war es mir aber klar geworden, daß sie sich auf seine Ablehnung von Frau Milligans Anerbieten bezog, und nun glaubte ich ein Bedauern daraus entnehmen zu können. Für dies Bedauern dankte ich ihm in meinem Herzen, obgleich mir seine Gründe dazu nicht verständlich waren.

Vielleicht würde er jetzt seine Zustimmung geben!

Dieser Gedanke erfüllte mich mit neuen Hoffnungen: warum sollten wir dem »Schwan«, der die Rhone herauffahren wollte, nicht begegnen, während wir an den Ufern dieses Flusses entlang wanderten? Und gar oft glitten meine Blicke über das Wasser dahin und über die fruchtbaren Ebenen und Hügel, die es zu beiden Seiten begrenzen.

Kamen wir in eine Stadt, wie nach Arles, Tarascon, Avignon, Montelimart etc., so war stets mein erster Gang nach den Quais und Landungsbrücken, um mich nach dem »Schwan« umzusehen, und manchmal wagte ich sogar bei Matrosen nach dem Schiff zu fragen, das ich ihnen ausführlich beschrieb – aber niemand hatte es gesehen.

Nun wo mein Herr, wie ich mir einbildete, entschlossen war, mich an Frau Milligan abzutreten, brauchte ich nicht mehr zu fürchten, daß an Mutter Barberin geschrieben würde. Meiner kindlichen Vorstellung nach lag die Sache nun äußerst einfach: Frau Milligan wollte mich zu sich nehmen, mein Herr trat ihr seine Rechte auf mich ab, und damit war die Sache erledigt.

In Lyon verweilten wir mehrere Wochen, und ich verbrachte jeden freien Augenblick auf den Quais an der Rhone und Saone, aber ich mochte suchen, wie ich wollte – den »Schwan« fand ich nicht.

Wir mußten Lyon verlassen und uns nach Dijon wenden, und nun sank meine Hoffnung, Frau Milligan und Arthur je einmal wieder zu finden, immer mehr, und als wir von Chalon weiterzogen, ohne den »Schwan« gesehen zu haben, gab ich sie ganz auf, denn ich wußte, daß der Kanal, auf dem der »Schwan« bis in die Loire gelangen wollte, sich in Chalon von der Saone abzweigt.

Um meine Verzweiflung auf die Spitze zu treiben, wurde nun auch das Wetter ganz abscheulich; die Jahreszeit war vorgerückt, der Winter brach herein, und unsre Märsche wurden durch Regen und Schmutz immer beschwerlicher. Erreichten wir dann des Abends, naß bis auf die Haut, über und über mit Schmutz bedeckt und zu Tode erschöpft, ein elendes Dorfwirtshaus oder eine Scheuer, so schlief ich mit keineswegs heiteren Gedanken ein.

Als wir von Dijon aus die Hügelkette der Cote d'Or überstiegen, trat plötzlich so naßkaltes Wetter ein, daß wir bis ins Mark erstarrten und Herzblatt noch trauriger und noch verdrießlicher wurde als ich.

Mein Herr beabsichtigte, so schnell als möglich nach Paris zu gelangen, denn nur dort konnten wir daran denken, während des Winters Vorstellungen zu geben, allein ob es ihm seine Mittel nicht erlaubten, auf der Eisenbahn zu fahren, oder ob er einen andern Grund dafür hatte, kurz, wir sollten die Wegstrecke von Dijon nach Paris zu Fuß zurücklegen.

Wenn es das Weiter gestattete, gaben wir in den Dörfern und Städten, durch die wir kamen, eine kurze Vorstellung und machten uns dann mit unsrer kärglichen Einnahme schleunigst wieder auf den Weg.

Bis Chatillon ging die Sache erträglich, obwohl wir ständig unter Kälte und Nässe zu leiden hatten, aber sobald wir diese Stadt verließen, hörte der Regen auf, und der Wind sprang nach Norden um.

Anfangs beklagten wir uns nicht darüber, denn obgleich es nicht angenehm war, den Nordwind gerade im Gesicht zu haben, so war uns dies doch lieber, als die Nässe, in der wir während der letzten Wochen fast umgekommen waren. Allein der Wind blieb nicht trocken. Der Himmel überzog sich mit dichten, schwarzen Wolken, hinter denen die Sonne verschwand, und alles deutete darauf hin, daß wir bald Schnee bekommen würden.

Indessen hatten wir noch ein großes Dorf erreicht, ehe der Schneefall eintrat, aber mein Herr wollte möglichst schnell nach Troyes kommen, weil das eine große Stadt ist, in der wir mehrere Vorstellungen geben konnten, falls uns das schlechte Wetter zwang, einige Tage dort zu verweilen.

»Leg dich nur schnell zu Bett,« sagte er, als wir in unsrer Herberge angekommen waren, »wir brechen morgen sehr früh auf, weil ich Angst habe, der Schnee könnte uns über den Hals kommen.«

Er selbst legte sich noch nicht gleich schlafen, sondern blieb in der Küche am Herd sitzen, um Herzblatt zu erwärmen, der den Tag über sehr unter der Kälte gelitten und an einem fort gestöhnt hatte, obgleich er möglichst gut eingewickelt worden war.

Am andern Tag stand ich sehr frühe auf; der Morgen graute noch nicht, der Himmel hing schwer und sternenlos herab, gleich als senke sich ein riesiger, schwarzer Deckel auf die Erde hernieder, um sie zu zerschmettern.

Als man die Thüre öffnete, verfing sich ein schneidender Wind im Kamin und fachte die Feuerbrände an, die am Abend zuvor mit Asche bedeckt worden waren.

»An Ihrer Stelle würde ich hier bleiben,« sagte der Wirt, »es gibt bald Schnee.«

»Ich habe es eilig,« erwiderte Vitalis, »und hoffe Troyes noch vor dem Schnee zu erreichen.«

»Dreißig Kilometer legt man nicht in einer Stunde zurück.«

Trotzdem machten wir uns auf den Weg.

Vitalis hielt Herzblatt unter seinem Rock an sich gedrückt, um ihm etwas von seiner eigenen Wärme mitzuteilen, während die Hunde sich über das trockene Wetter freuten und vergnügt vorausliefen; ich selbst wickelte mich in einen Schafspelz, den mir mein Herr in Dijon gekauft hatte.

Da es keineswegs angenehm war, den Mund zu öffnen, eilten wir schweigend weiter und beschleunigten unsre Schritte ebensowohl um rasch voranzukommen, als um uns zu erwärmen.

Obgleich es längst hätte Tag sein sollen, fing es noch nicht an zu dämmern, und als sich endlich im Osten ein weißlicher Streifen zeigte, ging doch die Sonne nicht auf. Wohl war es nicht mehr Nacht, aber es wäre eine grobe Uebertreibung gewesen, zu sagen, es sei Tag. Immerhin konnte man auf freiem Feld die Gegenstände etwas deutlicher unterscheiden, und das fahle Licht, das von Osten her über die Erde kroch, ließ uns kahle Bäume und hier und dort eine Hecke oder ein Gebüsch erkennen, in deren dürren Blättern der Wind raschelte.

Keine Menschenseele auf der Landstraße oder auf den Feldern, kein Wagengerassel, kein Peitschenknall; die einzigen lebenden Wesen waren die Vögel, die man wohl hörte, aber nicht sah, weil sie sich unter das Gesträuch geduckt hielten. Nur die Krähen hüpften auf dem Weg herum und stoben bei unserer Annäherung in die Höhe, ließen sich dann auf den Wipfeln der Bäume nieder, von wo sie uns mit ihrem unheilverkündenden Gekrächze verfolgten.

Plötzlich zeigte sich im Norden ein weißer Punkt am Himmel, der zusehends größer wurde und sich uns näherte. Ueber unsren Köpfen ließ sich ein eigentümliches, mißtönendes Gekreisch vernehmen; es waren wilde Gänse oder Schwäne, die von Norden nach Süden zogen und schon weit fort waren, als wir noch einige Flaumfedern, deren Weiße von dem schwarzen Himmel abstach, in der Luft flattern sahen.

Die Gegend, durch die wir zogen, war von bedrückender, durch das tiefe Schweigen ringsum noch verschärfter Traurigkeit; soweit an diesem trüben Tag die Blicke reichten, sah man nichts als kahle Felder, unfruchtbare Hügel und fuchsige Wälder. Der Wind blies noch immer aus Norden, wenn auch mit einer leichten Neigung nach Westen umzuspringen, aus welcher Himmelsgegend schwere, kupferfarbene Wolken heranzogen, die so tief herniederhingen, als wollten sie sich auf die Gipfel der Bäume herabsenken.

Bald wirbelten einige große, leichte Schneeslocken an unsren Augen vorüber und trieben in der Luft ihr Spiel, ohne die Erde zu berühren.

Bis jetzt hatten wir nur eine verhältnismäßig kleine Strecke Weges zurückgelegt, und ich hielt es für unmöglich, Troyes zu erreichen, aber ich machte mir auch wenig Sorge darum und dachte nur, wenn es schneie, werde sich der Nordwind legen und die Kälte ein wenig nachlassen; aber ich wußte nicht, was ein Schneesturm war. Gar bald sollte ich das erfahren, und zwar so, daß ich es meiner Lebtage nicht wieder vergaß.

Die Wolken aus Nordwest waren heraufgezogen und erhellten den Himmel mit einem bleichen Licht: ihr Schoß hatte sich geöffnet, und nun kam der Schnee, der nicht mehr schmetterlingsartig um uns herflatterte, sondern uns dicht einhüllte.

»Es steht geschrieben, daß wir Troyes nicht mehr erreichen sollen,« sagte Vitalis, »nun müssen wir im ersten Haus, auf das wir stoßen, Zuflucht suchen.«

Das war mir sehr angenehm zu hören, aber wie konnten wir dies gastliche Haus finden? Ehe es anfing zu schneien, hatte ich die ganze Gegend durchspäht, allein nirgends ein Haus oder ein Dorf entdeckt; im Gegenteil, wir befanden uns am Saum eines Waldes, der sich vor uns und über die Hügel zu beiden Seiten hindehnte und sich ins Unendliche zu verlieren schien.

Auf das verheißene Haus war also kein Verlaß, aber vielleicht hörte das Schneegestöber auf.

Es hörte nicht auf, es wurde immer stärker, und in wenig Augenblicken war die Landstraße und ihre ganze Umgebung mit Schnee bedeckt, der von dem unablässig tobenden Wind gepeitscht über die Erde hinfegte und sich vor jedem Hindernis, das ihm entgegentrat, aufschichtete. Für uns war es sehr mißlich, daß auch wir unter die Zahl dieser Hindernisse gehörten.

So floß er mir als kaltes Wasser den Hals hinunter, und mein Herr, dessen Schafspelz etwas in die Höhe geschoben war, um Herzblatt Luft zu geben, war wohl nicht besser verwahrt.

Trotzdem wanderten wir, dem Schnee und dem Wind entgegen, schweigend weiter und wandten nur von Zeit zu Zeit den Kopf etwas zurück, um einmal aufzuatmen.

Die Hunde liefen nicht mehr voran, sondern hielten sich dicht hinter uns und verlangten eine Zuflucht, die wir ihnen nicht gewähren konnten.

Geblendet, durchnäßt, und erstarrt wie wir waren, kamen wir nur langsam und mühselig voran, und obgleich wir uns schon lange mitten im Wald befanden, gewährte uns dieser doch keinen Schutz, weil der Weg völlig dem Wind ausgesetzt war. Glücklicherweise legte sich der Sturmwind ein wenig, aber dann fiel der Schnee nur um so reichlicher und löste sich nicht mehr in Staub auf, sondern bedeckte den Weg in wenigen Minuten mit einer dicken Schneeschicht, über die wir geräuschlos weitergingen.

Von Zeit zu Zeit sah ich meinen Herrn nach links blicken, als suche er etwas, aber es war nichts zu sehen als eine große Lichtung, wo im Frühjahr Holz geschlagen worden war und wo sich jetzt die biegsamen Stämme der jungen Samenbäume unter dem Druck der Schneelasten beugten.

Was hoffte er nur da drüben zu finden?

Ich meinesteils blickte geradeaus, auf den Weg, um zu entdecken, ob dieser Wald denn noch immer kein Ende nehme und ob sich nicht irgendwo ein Haus erblicken lasse, allein es war vergebliche Mühe durch diesen weißen Wolkenbruch hindurchsehen zu wollen. Schon in einer Entfernung von ein paar Schritten schwammen alle Gegenstände durcheinander, und man konnte thatsächlich nichts sehen, als die Schneeflocken, die immer dichter und dichter fielen und uns umgaben wie die Maschen eines ungeheuren Netzes – es war wirklich nicht sehr lustig.

Indessen mußten wir trotz alledem weiter und durften den Mut nicht verlieren, obgleich unsre Füße bei jedem Schritt tiefer in den Schnee einsanken und die Last auf unsren Hüten immer schwerer und schwerer wurde.

Plötzlich sah ich Vitalis nach links deuten, und ich glaubte, in der Lichtung die unbestimmten Umrisse einer aus Baumzweigen und Aesten errichteten Hütte zu bemerken.

Weiterer Erklärung bedurfte ich nicht, denn ich konnte mir denken, daß Vitalis mir diese Hütte nicht zeigte, wegen der Wirkung, die sie in der Landschaft hervorbrachte, sondern weil es sich darum handelte, den Weg zu finden, der in diese Hütte führte.

Das war nun allerdings recht schwierig, weil der Schnee schon so hoch lag, daß er jede Spur eines Weges verwischt hatte, allein ich glaubte zu bemerken, daß am äußersten Ende der Lichtung, da, wo der Hochwald anfing, der Straßengraben zu Ende gehe, und dort mündete jedenfalls der nach der Hütte führende Pfad in den Weg ein.

So war es denn auch, und gar bald hatten wir die Hütte erreicht, die aus Holzscheiten und Reisigbündeln errichtet, mit geflochtenem Astwerk so dicht überdacht war, daß der Schnee nicht durchdringen konnte und uns eine so gute Zufluchtsstätte bot, als ein Haus.

Flinker und eiliger als wir, drangen die Hunde zuerst in die Hütte und wälzten sich unter freudigem Bellen auf dem trockenen Fußboden im Staub.

Unsre Freude war nicht geringer als die ihre, wenn wir sie auch nicht dadurch kundgaben, daß wir uns im Staube wälzten, was übrigens zum Trocknen unsrer Kleider gar nicht so übel gewesen wäre.

»Ich habe mir's wohl gedacht,« sagte Vitalis, »daß sich in diesem jungen Schlag irgendwo eine Holzhauerhütte finden müsse – nun kann's schneien soviel es will!«

»Von mir aus kann's weiter machen, so lang es will,« erwiderte ich mit herausfordernder Miene und begab mich an die Thür oder vielmehr an die Oeffnung der Hütte, denn diese hatte weder Thür noch Fenster, und schüttelte den Schnee von Hut und Jacke, um das Innere unsrer Behausung nicht naß zu machen.

Dies Gelaß war äußerst einfach ausgestattet, und das ganze Mobiliar bestand aus einer Erdbank und einigen großen Steinen, die als Sitze dienten. Was aber für uns unter den gegebenen Umständen größeren Wert hatte, das waren fünf oder sechs Stück Backsteine, die in einer Ecke nebeneinander aufgestellt waren und eine Feuerstelle bildeten.

Feuer! Wir konnten Feuer machen!

Ein Herd allein genügt dazu allerdings nicht, aber in einer Behausung wie der unsren, machte es auch keine große Schwierigkeit, Holz zu finden, wir brauchten es nur vorsichtig aus Dach und Wänden zu ziehen, was schnell gethan war, und gar bald knisterte eine lustige Flamme über unsrer Feuerstelle. Allerdings brannte sie nicht ohne Rauch und zog nicht durch einen Kamin ab, sondern breitete sich in der Hütte aus, aber das kümmerte uns wenig – wir verlangten ja so sehnlich nach Feuer und Wärme.

Während ich auf beide Hände gestützt das Feuer anblies, hatten sich die Hunde ernsthaft auf ihre Hinterteile gesetzt und boten mit vorgestrecktem Hals die durchnäßten erstarrten Leiber der wärmenden Flamme hin.

Bald schob auch Herzblatt den Rock seines Herrn auseinander, streckte vorsichtig die Nase hervor, um zu sehen, wo er sich befand, hüpfte, darüber beruhigt, flink auf die Erde hinab, suchte sich den besten Platz am Kamin aus und hielt seine beiden zitternden, kleinen Hände gegen das Feuer.

Unser Herr war ein vorsichtiger und erfahrener Mann und hatte des Morgens, so lange ich noch im Bette lag, schon unsre Wegzehrung zu sich gesteckt: allerdings nur einen Laib Brot und ein Stück Käse, aber dies war nicht der Augenblick, anspruchsvoll zu sein, und als wir den Laib Brot zum Vorschein kommen sahen, waren wir alle hoch befriedigt.

Leider fielen die einzelnen Teile so klein aus, daß ich für meinen Teil mich sehr enttäuscht fühlte, denn statt des ganzen Laibes verteilte mein Herr nur einen halben.

»Ich kenne den Weg nicht,« antwortete er auf einen fragenden Blick, »und ich weiß nicht, ob wir zwischen hier und Troyes ein Wirtshaus finden oder etwas zu essen kriegen können. Auch dieser Wald ist mir unbekannt und ich weiß nichts, als daß wir uns in einer sehr waldreichen Gegend befinden, in der sich ein ungeheurer Forst an den andern reiht. Vielleicht sind wir viele Meilen von einer menschlichen Wohnung entfernt; vielleicht bleiben wir noch lange in dieser Hütte eingeschneit und müssen auch noch etwas zum Mittagessen aufbewahren.«

Das waren Gründe, die mir wohl einleuchten mußten, auf die Hunde aber gar keinen Eindruck zu machen schienen, wenigstens streckten sie ihrem Herrn bittend die Pfoten hin, kratzten ihn am Knie und suchten ihn durch andre ausdrucksvolle Gebärden zu bestimmen, den Ranzen, in dem das Brot verschwunden war und an dem ihre begehrlichen Blicke hafteten, zu öffnen und das Brot wieder hervorzuholen.

Allein Bitten und Schmeicheleien hatten keinen Erfolg, der Ranzen blieb geschlossen.

So karg aber unser Mahl auch gewesen war, gestärkt hatte es uns doch; außerdem befanden wir uns unter Dach und Fach, das Feuer durchströmte uns mit wohliger Wärme, und so konnten wir abwarten, bis es zu schneien aufhörte.

Der Gedanke, in dieser Hütte zu verweilen, hatte gar nichts sehr Schreckliches für mich, um so weniger, als ich gar nicht annahm, daß wir lange eingeschneit bleiben könnten wie Vitalis gesagt hatte, um seine Sparsamkeit zu rechtfertigen, es konnte doch nicht unaufhörlich weiterschneien.

Allerdings ließ auch nichts auf das baldige Aufhören des Schneefalls schließen, denn wir sahen durch die Oeffnung der Hütte den Schnee in dichten Flocken fallen und sich, da kein Wind mehr ging, immer höher aufschichten.

Die Hunde machten sich diese unfreiwillige Rast zu nutze und lagen alle drei, der eine zu einem Knäuel zusammengekugelt, der andre lang ausgestreckt und Capi mit der Schnauze in der Asche ums Feuer herum und schliefen. Da ich seit dem frühsten Morgen auf den Beinen war und es viel angenehmer fand, im Land der Träume zu reisen – womöglich auf dem »Schwan« – als in das Schneegestöber hinauszublicken, machte ich es den Hunden nach.

Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht, aber als ich aufwachte, hatte es zu schneien aufgehört, doch war die Schneeschicht vor unsrer Hütte bedeutend gewachsen, und wenn wir jetzt weiter mußten, so ging mir der Schnee bis über die Kniee.

Wie viel Uhr war es?

Ich konnte meinen Herrn nicht mehr danach fragen, denn die spärlichen Einnahmen der letzten Monate hatten die Ausgaben für das Gefängnis und die Gerichtskosten nicht wieder eingebracht, so daß er in Dijon seine Uhr versilbern mußte, um meinen Schafpelz und einige andre Gegenstände zu kaufen. Von nun an mußte mir der Stand der Sonne sagen, um was ich unsre große, dicke Uhr, auf der uns Capi gezeigt hatte, welche Zeit es sei, als Vitalis mich für seine Truppe anwarb, nicht mehr befragen konnte.

Allein die blendende Helle auf dem Erdboden, der trübe Nebel in der Luft und das fahle, schmutziggelbe Licht am Himmel droben waren nicht geeignet, mir die gewünschte Auskunft zu geben.

Dazu kam noch die Totenstille und die gänzliche Unbeweglichkeit, die ringsum herrschten. Der Schnee hatte alles Leben und alle Bewegung erstickt. Als ich noch ganz versunken in den eigenartigen Anblick, der sich mir bot, in der Thüröffnung stand, sagte mein Herr: »Hast du denn Lust, dich wieder auf den Weg zu machen?«

»Ich habe keine Lust, aber ich thue alles, was Sie wollen.«

»Meiner Ansicht nach bleiben wir am besten hier, wo wir wenigstens ein Obdach und Feuer haben.«

Wohl dachte ich daran, daß wir so gut wie kein Brot hatten, allein ich behielt dieses Bedenken für mich.

»Ich glaube, daß das Schneegestöber aufs neue anfängt,« fuhr Vitalis fort, »und wir dürfen uns nicht der Gefahr aussetzen, unterwegs davon überrascht zu werden, denn wir wissen nicht, wie weit wir von einer menschlichen Behausung entfernt sind; es wäre angenehmer, die Nacht hier als im Schnee zu verbringen – hier behalten wir wenigstens trockene Füße.«

Von der Nahrungsfrage abgesehen, gefiel mir dies recht gut, denn auch wenn wir sofort wieder aufbrachen, stand es durchaus nicht fest, daß wir noch vor Abend ein Wirtshaus erreichten, wo wir etwas zu essen bekommen konnten, während es nur allzu sicher war, daß das Gehen auf der weißen, noch von keinem Fuß betretenen Schneedecke äußerst beschwerlich sein mußte.

Nachdem wir unser karges Mittagsmahl eingenommen hatten, waren wir noch so hungrig als zuvor, und ich glaubte schon, die Hunde würden sich, wie nach dem Frühstück, wieder aufs Bitten legen, denn sie litten sichtlich furchtbar Hunger, aber sie thaten nichts dergleichen und bewiesen wieder einmal, wie ausnehmend entwickelt ihr Verstand war. Als unser Herr sein Messer wieder in die Hosentasche geschoben hatte, was bewies, daß unser Mahl zu Ende war, stand Capi auf und fing, nachdem er seinen beiden Kameraden zugenickt hatte, an, den Ranzen, in dem gewöhnlich der Mundvorrat aufbewahrt wurde, zu beschnuppern und vorsichtig zu betasten. Dann kehrte er an seinen Platz vor dem Feuer zurück und streckte sich mit einem gottergebenen Seufzer der ganzen Länge nach aus, nachdem er Dolce und Zerbino nochmals zugenickt hatte. So deutlich, wie wenn er hätte reden können, sagte er damit: »Es ist nichts mehr da, also hat das Bitten keinen Wert.«

Seine Kameraden verstanden diese Sprache und streckten sich, mit dem nämlichen Seufzer wie er, am Feuer aus, nur klang der Seufzer Zerbinos keineswegs ergeben, denn er erfreute sich nicht nur eines bedeutenden Appetits, sondern war auch ein großes Leckermaul, und deshalb fiel ihm die Entbehrung schwerer als jedem andern.

Schon längst schneite es wieder ebenso beharrlich, als zuvor, und von Stunde zu Stunde sah man die weiße Flut höher an den jungen Schößlingen emporsteigen, die allein noch aus ihr hervorragten. Die Nacht brach ungewöhnlich früh herein an diesem trüben Tag, und da wir nun einmal hier übernachten mußten, war es am klügsten, möglichst schnell einzuschlafen, und nachdem ich mich in mein tagsüber getrocknetes Schaffell gewickelt hatte, streckte ich mich wie die Hunde am Feuer aus, wobei ich einen flachen Stein als Kopfkissen benutzte.

»Schlafe nur,« sagte Vitalis, »ich werde dich schon wecken, wenn ich schlafen will, denn obgleich wir in dieser Hütte weder von Menschen noch von wilden Tieren etwas zu fürchten haben, muß doch immer einer von uns wach bleiben, weil wir uns gegen die Kälte schützen müssen, die sehr heftig werden kann, sobald es aufhört zu schneien.«

Ich ließ mir das nicht zweimal sagen und schlief alsbald ein. Die Nacht war, meiner Schätzung nach, schon weit vorgerückt, als mein Herr mich weckte; unser Feuer brannte hell.

»Nun ist die Reihe zu wachen an dir,« sagte Vitalis, »du brauchst nur von Zeit zu Zeit Holz aufs Feuer zu legen, du siehst, ich habe dir einen Vorrat zurecht gemacht.«

In der That lag da ein Haufen Reisig aufgeschichtet, denn mein Herr hatte einen viel leichteren Schlaf als ich, und wollte nicht, daß ich ihn jedesmal wecke, so oft ich ein Stück Holz aus der Wand ziehen mußte, und deshalb fand ich nun einen Vorrat, von dem ich geräuschlos das Nötige wegnehmen konnte.

Das war ohne Zweifel eine weise Vorsichtsmaßregel, allein sie sollte leider ganz andre Früchte tragen, als Vitalis erwartete.

Als er mich völlig wach und zur Uebernahme meiner Pflichten bereit sah, wickelte er sich mit Herzblatt in eine Decke und streckte sich nun seinerseits vor dem Feuer aus, und bald verrieten seine lauten, regelmäßigen Atemzüge, daß er eingeschlafen war.

Nun erhob ich mich leise und schlich mich auf den Zehen an die Thüröffnung, um zu sehen, wie es draußen stand.

Soweit die Blicke reichten, hatte der Schnee alles begraben, und Gras, Schößlinge, Gebüsche und Bäume waren unter einer wellenförmigen, blendendweißen Schneedecke verschwunden; der Himmel war mit blitzenden Sternen übersät, aber so hell diese auch leuchteten, so wurden sie doch von dem bleichen Licht überstrahlt, das von dem Schnee ausging. Die Kälte hatte zugenommen, und draußen mußte Stein und Bein gefrieren, denn die Luft, die zu uns hereinströmte, war eisig kalt, und in der unheimlichen Stille der Nacht vernahm man das Knistern des gefrierenden Schnees.

Es war wirklich ein Glück, daß wir diese Hütte gefunden hatten, denn was wäre draußen im Wald in diesem Schnee und bei dieser Kälte aus uns geworden?

So leise ich mich auch nach der Oeffnung geschlichen hatte, die Hunde waren doch aufgewacht, und Zerbino hatte sich erhoben, um mich zu begleiten. Da er für die strahlende Schönheit dieser Nacht weniger Sinn hatte als ich, wurde es ihm indes bald langweilig, und er wollte hinaus.

Mit einer Handbewegung befahl ich ihm, hier zu bleiben – welcher Einfall, bei dieser Kälte hinauszugehen, wo er doch vor dem Feuer viel besser aufgehoben war. Er gehorchte, hielt aber, wie ein eigensinniger Hund, der seine Absicht nicht aufgegeben hat, die Nase nach der Thür gerichtet.

Ich betrachtete noch einige Minuten lang die Schneelandschaft, dann näherte ich mich dem Feuer, und nachdem ich einige Scheite zugelegt hatte, glaubte ich mich ohne Bedenken auf den Stein setzen zu können, der mir vorher als Kopfkissen gedient hatte.

Mein Herr, die Hunde und Herzblatt schliefen ruhig; lange betrachtete ich das Feuer, aus dem sprühende Funken aufstiegen, aber nach und nach überkam mich unmerklich die Müdigkeit.

Hätte ich jetzt für meinen Holzvorrat zu sorgen gehabt, so wäre ich aufgestanden, in der Hütte umhergegangen und wach geblieben, nun ich aber bloß die Hand auszustrecken brauchte, um das Feuer zu schüren, schlief ich nach und nach ein.

Plötzlich wurde ich durch ein wütendes Bellen aufgeschreckt.

Es war ganz dunkel; ich mußte lang geschlafen haben, denn das Feuer war herabgebrannt und dem Erlöschen nahe.

Das Bellen dauerte fort – es war Capis Stimme, aber weder Dolce noch Zerbino antworteten ihrem Kameraden.

»Nun, was ist los?« rief Vitalis, der auch aufwachte. »Was geht hier vor?«

»Ich weiß nicht.«

»Du bist eingeschlafen und das Feuer geht aus!«

Capi stand unter der Thür und bellte, war aber nicht hinausgegangen.

Auch ich fragte mich, wie mein Herr: Was geht hier vor?

Auf Capis Bellen antwortete ein klägliches Geheul, in dem ich Dolces Stimme erkannte, und das in geringer Entfernung hinter unsrer Hütte ertönte.

Ich wollte hinaus, aber mein Herr legte mir die Hand auf die Schulter und hielt mich zurück: »Lege erst Holz aufs Feuer,« befahl er.

Während ich dies that, ergriff er einen Feuerbrand, den er durch Blasen wieder anzufachen suchte und in der Hand behielt, auch als er wieder hell brannte.

»Nun halte dich hinter mir,« sagte er, »wir wollen einmal nachsehen. Vorwärts, Capi!«

Als wir eben hinausgehen wollten, ertönte in der Stille der Nacht ein so entsetzliches Geheul, daß Capi uns erschrocken zwischen die Beine fuhr.

»Wölfe! Um Gottes willen, wo sind Zerbino und Dolce?«

Auf diese Frage mußte ich die Antwort schuldig bleiben. Gewiß waren die beiden Hunde hinausgegangen, während ich schlief; Zerbino hatte das Vorhaben ausgeführt, zu dem er schon vorher Lust gehabt, und Dolce war ihrem Kameraden nachgelaufen.

Hatten die Wölfe sie fortgeschleppt? Ich glaubte diese Angst aus der Frage meines Herrn herauszuhören.

»Nimm auch einen Feuerbrand! Wir müssen ihnen zu Hilfe kommen,« sagte er.

Obgleich ich in meinem Dorfe schreckliche Geschichten von Wölfen hatte erzählen hören, zauderte ich doch keinen Augenblick, sondern bewaffnete mich mit einem brennenden Holzscheit und folgte meinem Herrn.

Allein draußen in der Lichtung waren weder Wölfe noch Hunde zu sehen, und wir fanden nichts, als die Spuren der beiden Hunde im Schnee, die rings um die Hütte führten; in einiger Entfernung stießen wir auf eine Stelle, an der der Schnee ganz zerwühlt war, als hätten sich Tiere darin gewälzt.

»Such, Capi, such!« sagte mein Herr und pfiff gleichzeitig, um Dolce und Zerbino herbeizurufen.

Allein kein Bellen antwortete ihm, nichts störte das unheimliche Schweigen, das über dem Walde lag, während Capi, statt zu suchen, wie ihm befohlen war, mit allen Zeichen der Unruhe und der Angst zwischen unsre Beine kroch – er, der sonst doch ebenso mutig als gehorsam war.

Der Widerschein des Schnees verbreitete nicht so viel Helle, daß wir uns hätten hinlänglich zurechtfinden oder die Spuren weiter verfolgen können, und schon in kurzer Entfernung vermochten die geblendeten Augen die Finsternis nicht mehr zu durchdringen.

Wieder pfiff Vitalis und rief mit lauter Stimme nach Zerbino und Dolce; wir lauschten angstvoll, aber alles blieb still, und mir schnürte sich das Herz zusammen.

Armer Zerbino! Armer Dolce!

Vitalis verlieh meinen Befürchtungen Ausdruck.

»Die Wölfe haben sie fortgeschleppt,« sagte er; »warum hast du sie hinausgelassen?«

Ach Gott, ja, warum? Darauf mußte ich die Antwort schuldig bleiben.

»Ich suche sie,« sagte ich und eilte an ihm vorbei.

»Und wo willst du sie denn suchen?« fragte er und hielt mich zurück.

»Ich weiß nicht, überall.«

»Wie sollen wir uns in dieser Dunkelheit und in diesem Schnee zurechtfinden?«

In der That ging uns der Schnee bis über die Kniee hinauf, und unsre beiden Feuerbrände konnten gegen diese Dunkelheit nicht aufkommen.

»Daß sie auf meinen Ruf nicht geantwortet haben,« fuhr er fort, »beweist, daß ... daß sie sehr weit fort sind, und außerdem dürfen wir uns nicht der Gefahr aussetzen, selbst von den Wölfen angegriffen zu werden, denn wir haben nichts, womit wir uns verteidigen können.«

Es war entsetzlich, die beiden guten Kameraden so aufgeben zu müssen, und besonders mich kam es hart an, denn ich fühlte mich für ihr Vergehen verantwortlich: hätte ich nicht geschlafen, so wären sie nicht hinausgegangen.

Mein Herr hatte sich wieder der Hütte zugewendet, und ich folgte ihm, blieb aber alle Augenblicke stehen, um zurückzublicken, aber ich sah nichts als den Schnee, und hörte nichts als sein Knirschen unter meinen Füßen.

In der Hütte harrte unser eine neue Ueberraschung: während unsrer Abwesenheit hatten sich die Zweige entzündet, die ich auf das Feuer geworfen hatte, und erhellten nun auch die dunkelsten Ecken mit ihrem Schein, aber Herzblatt sah ich nirgends.

Seine Decke lag ganz flach vor dem Feuer – der Affe steckte nicht darunter.

Vitalis und ich riefen ihn abwechselungsweise, aber er zeigte sich nicht. Wie Vitalis sagte, hatte er ihn, als er aufwachte, noch neben sich gefühlt, also mußte er verschwunden sein, so lange wir draußen gewesen waren. Wir ergriffen eine Handvoll brennender Zweige und leuchteten damit auf dem Schnee umher, um Herzblatts Spuren zu suchen, aber wir entdeckten nichts.

Nun gingen wir wieder in die Hütte zurück, um zu sehen, ob er sich nicht in einem Reisigbund verkrochen habe, aber so lange und gründlich wir auch suchten – alles war und blieb vergeblich.

Von Zeit zu Zeit hielten wir inne, um zu rufen, aber umsonst. Vitalis war ganz verzweifelt, und ich ganz untröstlich.

Als ich meinen Herrn fragte, ob er glaube, daß die Wölfe auch ihn hätten fortschleppen können, entgegnete er: »Nein, die Wölfe hätten sich nicht in die Hütte gewagt; ich glaube, daß sie Dolce und Zerbino überfallen haben, weil diese hinausgegangen sind, aber hierherein sind sie nicht gekommen. Wahrscheinlich ist Herzblatt erschrocken und hat sich irgendwo versteckt, während wir draußen waren, und das beunruhigt mich für ihn, denn bei diesem abscheulichen Wetter wird er sich erkälten, und eine Erkältung wird ihm tödlich werden.«

»Dann wollen wir weiter suchen.«

Wieder begannen wir unsre Nachforschungen, aber mit ebensowenig Erfolg als zuvor.

»Wir müssen warten, bis es Tag wird,« erklärte Vitalis.

»Wie lange kann das noch dauern?«

»Zwei bis drei Stunden, denke ich.«

Nun ließ er sich am Feuer nieder und verbarg sein Gesicht in den Händen.

Ich wagte ihn nicht zu stören und rührte mich nur, wenn ich einen neuen Zweig ins Feuer legen mußte; von Zeit zu Zeit stand er auf und trat unter die Thür, betrachtete den Himmel und horchte hinaus; darauf kehrte er an seinen Platz zurück. Viel lieber hätte ich mich tüchtig von ihm auszanken lassen, als daß ich ihn so düster und gebeugt dasitzen sehen mußte.

Mit verzweifelter Trägheit schlichen die drei Stunden dahin, es war, als ob diese Nacht niemals zu Ende gehen wollte.

Endlich erblaßten die Sterne und der Morgen graute, bald mußte es Tag werden; allein mit der Morgendämmerung nahm die Kälte zu, und die Luft, die durch die Thüröffnung zu uns hereindrang, war eisig kalt.

Ob Herzblatt wohl noch am Leben war, wenn wir ihn wiederfanden? Wie, wenn das Schneegestöber nun wieder aufs neue begann? Es begann aber nicht, und der Himmel bedeckte sich mit rosigen Wolken, die uns gutes Wetter verhießen.

Endlich konnten wir hinaus. Vitalis hatte sich mit einem starken Ast bewaffnet, und ich nahm ebenfalls einen zur Hand.

Capi schien nicht mehr unter dem lähmenden Eindruck des Schreckens zu stehen, er hielt die Augen fest auf seinen Herrn gerichtet und wartete nur auf einen Wink, um vorwärts zu stürzen.

Während wir auf dem Boden nach den Spuren Herzblatts suchten, hob Capi den Kopf in die Höhe und bellte lustig, zum Zeichen, daß wir in der Luft, und nicht auf der Erde suchen müßten.

In der That entdeckten wir sofort, daß der Schnee auf dem Dach unsrer Hütte leichte Eindrücke zeigte, die bis zu dem das Dach überragenden Ast einer Eiche führten, und ganz oben auf diesem Baum, in der Gabelung eines Astes niedergeduckt, entdeckten wir Herzblatt.

Von dem Geheul der Hunde und der Wölfe geängstigt, hatte er sich auf das Dach unsrer Hütte geschwungen, sobald wir hinausgegangen waren, von da war er in die Eiche hinaufgeklettert und hatte, weil er sich hier sicher fühlte, auf unsre Rufe keine Antwort gegeben.

Das arme, kleine, immer fröstelnde Geschöpf mußte vor Kälte ganz erstarrt sein!

Mein Herr rief ihn freundlich an, aber er rührte sich nicht.

Nach einigen Minuten wiederholte Vitalis seinen Zuruf, aber Herzblatt gab noch immer kein Lebenszeichen.

Ich wollte meine Nachlässigkeit von heule nacht so viel wie möglich gut machen und sagte: »Wenn Sie wünschen, hole ich ihn herunter.«

»Du kannst dir dabei den Hals brechen!«

»O, es ist gar nicht gefährlich!«

Das war aber nicht richtig, denn es war ebenso gefährlich als schwierig, denn der Baum war dick und sein Stamm und seine Aeste mit Schnee bedeckt.

Schon früh hatte ich gelernt, an Bäumen hinaufzuklettern, und darin eine ziemliche Fertigkeit erlangt. Einige kleine, hie und da am Stamm herausgewachsene Zweige dienten mir als Sprossen, und obgleich mich der Schnee blendete, der mir von den Händen in die Augen fiel, hatte ich doch bald den ersten Ast erreicht, und von nun an war die Sache leicht. Während ich hinaufkletterte, redete ich freundlich mit Herzblatt, der sich nicht rührte und mich nur mit seinen glänzenden Augen beobachtete. Beinahe hatte ich ihn erreicht und wollte eben die Hand nach ihm ausstrecken, da machte er einen Satz und schwang sich auf einen andern Ast. Ich folgte ihm auch dorthin, aber leider steht der Mensch, und selbst der Gassenjunge, in der Fertigkeit des Kletterns weit hinter dem Affen zurück, und wahrscheinlich hätte ich Herzblatt nie erwischt, wenn nicht die Neste und Zweige des Eichbaums mit Schnee bedeckt gewesen wären: so aber bekam er nasse Hände und Füße und wurde bald müde. Mit einem Sprung saß er auf der Schulter seines Herrn und verkroch sich unter dessen Rock.

Wohl war es viel, daß wir Herzblatt wieder gefunden hatten, aber es war nicht alles: nun mußten wir die Hunde suchen.

Mit wenigen Schritten gelangten wir an den Platz, an dem wir schon in der Nacht gewesen waren; jetzt bei Tag konnten wir leicht erraten, was geschehen war – der Schnee erzählte uns die Geschichte vom Tod der Hunde.

Hintereinander waren die Hunde aus der Hütte gekommen und an den Reisigbündeln entlang gelaufen; etwa zwanzig Meter weit konnten wir ihre Spuren verfolgen, die dann plötzlich aufhörten. Nun fanden wir andre Eindrücke, die auf der einen Seite zeigten, von wo die Wölfe sich in einigen langen Sprüngen auf die Hunde gestürzt hatten, und auf der andern, wohin diese geschleppt worden waren, nachdem ihre Angreifer sie im Schnee herumgekugelt hatten. Die einzige Spur, die noch von den Hunden zu finden war, bestand in einem roten Streifen, der blutig aus dem Schnee aufleuchtete.

Es hatte keinen Wert mehr, unsre Nachforschungen noch weiter fortzusetzen, denn offenbar waren die beiden armen Hunde erwürgt und fortgeschleppt worden, um in irgend einem dornigen Dickicht mit Muße verzehrt zu werden.

Nun mußten wir wenigstens Herzblatt möglichst rasch zu erwärmen suchen und gingen deshalb in die Hütte zurück. Während Vitalis die Füße und Hände des Affen ans Feuer hielt, erwärmte ich seine Decke, und dann wickelten wir ihn hinein. Aber mit der Decke allein war es nicht gethan: ihm that ein mit einer Wärmflasche versehenes Bett not und hauptsächlich auch ein heißes Getränk, und wir konnten ihm weder das eine noch das andre verschaffen und mußten froh sein, daß wir wenigstens ein Feuer hatten.

Ohne ein Wort zu reden, saßen mein Herr und ich unbeweglich am Feuer und starrten in die Glut.

»Armer Zerbino, arme Dolce, arme Freunde!«

So mochten wir wohl beide im stillen denken, ohne es laut werden zu lassen; waren sie uns, und besonders mir, ja doch in guten und bösen Tagen Freunde und Genossen gewesen. Ich konnte mich nicht freisprechen: hätte ich bessre Wacht gehalten, so wären sie nicht hinausgegangen und nicht von den Wölfen zerrissen worden, denn in unsrer Hütte hätten sie uns, aus Angst vor dem Feuer, nicht anzugreifen gewagt. Wenn nur Vitalis mich gescholten und geschlagen hätte!

Aber er sagte kein Wort, er sah mich gar nicht an und saß mit gesenktem Haupt am Feuer – wahrscheinlich dachte er daran, was ohne die Hunde aus uns werden würde.


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