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Achtes Kapitel.
Ueber Berg und Thal

Wir hatten einen großen Teil des südlichen Frankreich durchwandert: die Auvergne, Velay, Vivaray, Quercy, Rouergue, die Sevennen, das Languedoc.

Unsre Art zu reisen war die denkbar einfachste; wir gingen immer geradeaus, und wenn wir auf unsrem Weg ein Dorf fanden, das von weitem einen nicht allzu ärmlichen Eindruck machte, so rüsteten wir uns zu einem feierlichen Einzug.

Ich besorgte die Toilette der Hunde, ich kämmte Dolce, kleidete Zerbino an, klebte ein Pflaster auf Capis Auge, damit er die Rolle eines alten Haudegens spielen konnte, und zwang schließlich Herzblatt, sein Generalskostüm anzuziehen. Dies war aber der schwierigste Teil meiner Aufgabe, denn der Affe wußte sehr wohl, daß dies die Einleitung zu einer Arbeit für ihn bedeutete, wehrte sich deshalb, so gut er konnte, und erfand die drolligsten Streiche, um es mir unmöglich zu machen, ihn anzukleiden; dann rief ich Capi zu Hilfe, und seiner Wachsamkeit, seinem Instinkt und seiner Schlauheit gelang es fast immer, die Tücken des Affen zu vereiteln.

War die Truppe dann in vollem Staat, so nahm Vitalis seine Pfeife und ließ uns in schönster Ordnung durch das Dorf ziehen.

Schien die Zahl der Neugierigen, die hinter uns dreinzogen, genügend, so gaben wir eine Vorstellung, war sie aber zu schwach, um uns eine ordentliche Einnahme hoffen zu lassen, so setzten wir unsern Marsch weiter fort.

Nur in den Städten hielten wir uns mehrere Tage auf, und dann durfte ich des Morgens spazieren gehen, wo ich wollte. Ich nahm Capi mit mir – natürlich als einfachen Hund, ohne sein Theaterkostüm – und dann schlenderten wir miteinander durch die Straßen.

Vitalis, der mich sonst streng in seiner Nähe behielt, ließ mir dazu volle Freiheit.

»Da es der Zufall will,« sagte er zu mir, »daß du in einem Alter, in dem andre Kinder in der Stube sitzen, ganz Frankreich durchwanderst, so mache die Augen auf, sieh dich um und lerne. Wenn du etwas siehst, was du nicht verstehst, oder irgend etwas wissen möchtest, was du nicht weißt, so wende dich ohne Scheu an mich und frage. Vielleicht kann ich deine Fragen nicht beantworten, denn ich bin nicht so anmaßend zu behaupten, daß ich alles wisse, aber vielleicht ist es mir auch möglich, deine Neugierde zu befriedigen. Ich bin nicht immer Direktor einer Truppe abgerichteter Tiere gewesen und habe noch andre Dinge gelernt, als ich nötig habe, um Capi oder Herzblatt dem ›verehrten Publikum‹ vorzustellen.«

»Was denn?«

»Davon sprechen wir später einmal. Für den Augenblick brauchst du nur zu wissen, daß auch einer, der dressierte Hunde zeigt, eine gewisse Stellung im Leben eingenommen haben kann, und daß du, auch wenn du in diesem Augenblick auf der untersten Stufe der Gesellschaft stehst, doch nach und nach eine höhere erklimmen kannst, wenn du nur willst. Das hängt ein klein wenig von den Umständen und sehr viel von dir ab. Höre auf meine Lehren, höre auf meine Ratschläge, Kind, und du wirst später, wenn du groß bist, wie ich hoffe, mit Rührung und Dank an den alten Musikanten denken, vor dem du dich so gefürchtet hast, als er dich von deiner Pflegemutter fortnahm; ich glaube sogar, daß es ein Glück für dich ist, daß wir uns getroffen haben.«

Was mochte das wohl für eine Stellung gewesen sein, von der mein Herr so oft und doch mit so viel Zurückhaltung sprach? Diese Frage erregte meine Neugierde und beschäftige mich sehr. Wenn er eine so hohe Stufe im Leben eingenommen hatte, warum befand er sich jetzt auf einer so niederen? Er behauptete, ich, der ich nichts war und nichts wußte und keine Familie besaß, die mir hätte helfen können, sei im stande, eine höhere Stufe zu erreichen, wenn ich nur wollte – warum war er dann heruntergestiegen?

Von der Auvergne aus waren wir auf die großen, unfruchtbaren, nur von dürftigem Buschwerk bestandenen Ebenen von Quercy gekommen. Man kann sich keine traurigere, ärmere Gegend denken, und was diesen Eindruck noch verstärkt, das ist der Umstand, daß beinahe nirgends Wasser zu sehen ist. Keine Flüsse, keine Bäche, keine Seen, nur hier und dort die steinigen aber leeren Bette reißender Regenbäche. Die Wasser sind von den Abgründen verschlungen worden und sind unter der Erde verschwunden, um anderswo wieder zu entspringen und Flüsse und Quellen zu bilden.

Inmitten dieser Ebene, die zu der Zeit, in der wir sie durchwanderten, völlig versengt und vertrocknet war, steht ein großes Dorf, Namens Bastide-Murat, wo wir in der Scheune eines Wirtshauses übernachteten.

Des Abends, als wir vor dem Schlafengehen noch miteinander plauderten, sagte Vitalis: »Hier in diesem Ort, wahrscheinlich sogar in diesem Wirtshaus, ist ein Mann geboren worden, der viele Tausende von Soldaten hat töten lassen und der sein Leben als Stallknecht begonnen und als König geendet hat: er hieß Murat. Man hat ihn als Helden gefeiert und diesem Dorf seinen Namen gegeben. Ich habe ihn gekannt und mich oft mit ihm unterhalten.«

Unwillkürlich entfuhr mir die Bemerkung: »Als er noch Stallknecht war!«

»Nein,« entgegnete Vitalis lachend, »als er König war. Heute komme ich zum erstenmal nach Bastide, und in Neapel, inmitten seines Hofstaates, habe ich ihn kennen gelernt.«

»Sie haben einen König gekannt!«

Der Ton meines Ausrufs muß wohl sehr komisch geklungen haben, denn mein Herr brach von neuem in ein langanhaltendes Gelächter aus.

Wir saßen auf einer Bank vor dem Stall und lehnten den Rücken an die Wand, die noch die Hitze des Tages ausströmte. In einer großen Sykomore, deren Zweige sich über uns wölbten, ließen die Cikaden ihren eintönigen Gesang erklingen, und vor uns über den Dächern der Häuser stieg der Vollmond langsam am Himmel auf. Dieser Abend war uns um so wohlthuender, als es den Tag über glühend heiß gewesen war.

»Willst du schlafen,« fragte Vitalis, »oder soll ich dir lieber die Geschichte des Königs Murat erzählen?«

»O, die Geschichte des Königs, bitte schön!«

Dann erzählte er mir diese Geschichte ausführlich, und wir blieben mehrere Stunden auf unsrer Bank sitzen: er sprach, und meine Augen hingen an seinem Antlitz, das der Mond mit seinem bleichen Licht übergoß.

Ach, und all dies war möglich! Nein, nicht nur möglich, sondern wahr!

Bis dahin hatte ich keine Ahnung davon gehabt, was die Weltgeschichte ist. Wer hätte mir's sagen sollen? Mutter Barberin gewißlich nicht. Sie war in Chavanon geboren, wo sie wohl auch sterben würde, und ihr Geist hatte nie weiter gereicht, als ihre Augen.

Mein Herr hatte einen König gesehen, und dieser König hatte mit ihm gesprochen.

Was und wer war denn mein Herr in seiner Jugend gewesen? Wie war er das geworden, als was ich ihn im Alter vor mir sah?

Das war mehr als genug, um die lebhafte, aufgeweckte, wundersüchtige Einbildungskraft eines Kindes zu beschäftigen.


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