Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunundzwanzigstes Kapitel.
Die Kuh des Königsohns

Ich hatte Mattia schon herzlich lieb gehabt, als wir in Mende ankamen, aber als wir diese Stadt wieder verließen, liebte ich ihn noch viel mehr. Gibt es denn ein größeres, reineres Gefühl, als die Freundschaft und die Gewißheit, von denen die man liebt, wieder geliebt zu werden?

Mattia hatte mir den denkbar größten Beweis seiner Freundschaft gegeben, indem er das Anerbieten des Barbiers ablehnte und auf ein gesichertes, ruhiges Dasein und auf künftiges Glück verzichtete, um mein aussichtsloses, keineswegs gefahrloses Abenteuerleben zu teilen.

Vor Espinassous hatte ich ihm nicht zu sagen vermocht, was ich empfand, aber als wir draußen waren, drückte ich ihm die Hand und sagte: »Wir halten zusammen für Leben und Tod, nicht wahr?«

»Das hab' ich schon längst gewußt,« sagte er und blickte mich mit seinen großen Augen liebevoll an.

Mattia hatte bis dahin wenig Freude am Lesen gehabt, aber seit dem Tage, wo er zum erstenmal Kühns »Theorie der Musik« in die Hand nahm, machte er ganz erstaunliche Fortschritte. Unglücklicherweise konnte ich ihn nicht so viel lesen lassen, als wir beide gewünscht hätten, denn wir mußten von morgens bis abends auf den Füßen sein und lange Tagemärsche machen, um möglichst schnell durch die ungastliche Lozère und Auvergne zu kommen, wo man den fahrenden Musikanten nicht sehr hold ist. Der magere Boden trägt dem Bauern wenig, und dies wenige teilt er nicht gern mit andern. Er hört gelassen zu, wenn man ihm was vorspielt, sobald er aber merkt, daß es ans Einsammeln geht, schleicht er weg oder verschwindet hinter seiner Hausthür.

Endlich erreichten wir die Badeorte, die das Ziel unsrer Wanderung waren; glücklicherweise erwiesen sich die Mitteilungen des Bärenführers als richtig, und wir erfreuten uns schöner Einnahmen.

Um gerecht zu sein, muß ich gestehen, daß wir dies hauptsächlich Mattias Gewandtheit und Takt zu verdanken hatten. Sobald eine Anzahl Leute versammelt waren, fing ich an zu spielen – so gut ich konnte, natürlich, aber immerhin mit einer gewissen Gleichgültigkeit. Mattia ging ganz anders vor. In erster Linie studierte er sein Publikum und fand dann schnell heraus, ob und was er spielen sollte.

Bei Garofoli, der die Wohlthätigkeit im großen ausbeutete, hatte er die schwere Kunst, den Edelmut oder das Mitgefühl der Menschen zu erzwingen, gründlich gelernt. Schon damals, als ich ihn in seinem schrecklichen Speicher zum erstenmal sah, hatte er meine Bewunderung erregt, als er mir erklärte, aus welchen Gründen die Vorübergehenden Almosen zu geben pflegen, aber als ich ihn erst an der Arbeit sah, bewunderte ich ihn noch viel mehr.

Hier, in den Badeorten, wo er es wieder mit seinem alten Pariser Publikum, das er durch und durch kannte, zu thun hatte, befand er sich ganz in seinem Element und erzielte hauptsächlich bei der Kinderwelt bedeutende Erfolge. So kam es, daß unsre Einnahmen meine kühnsten Erwartungen übertrafen und wir nach Abzug aller Unkosten in kurzer Zeit achtundsechzig Franken verdient hatten. Dies ergab mit den hundertsechsundvierzig Franken, die wir schon vorher bei einander hatten, einen Kassenbestand von zweihundertundvierzehn Franken, und nun war die Stunde gekommen, uns unverzüglich nach Chavanon aufzumachen, und zwar über Ussel, wo, wie man uns sagte, ein bedeutender Viehmarkt abgehalten werden sollte.

Ein Viehmarkt – das war ganz unser Fall! Endlich konnten wir die lang ersehnte Kuh kaufen und unsern schönen Traum verwirklichen.

Bis dahin war es aber nur ein Traum gewesen, den wir uns so schön als möglich ausgemalt und ausgeschmückt hatten – jetzt, da wir vor der Erfüllung standen, begannen die Verlegenheiten.

Wie sollten wir es anfangen, eine Kuh auszusuchen, die wirklich all die Eigenschaften besaß, mit denen unsre Phantasie sie geschmückt hatte? Die Sache war ernst. Weder Mattia noch ich wußten, woran man eine gute Kuh erkennen kann.

Was unsre Unruhe und unsre Sorgen noch vermehrte, das waren die vielen merkwürdigen Geschichten, die wir in den Wirtshäusern hatten erzählen hören, seit wir uns in den Kopf gesetzt hatten, eine Kuh zu kaufen. Da kauft zum Beispiel ein Bauer eine Kuh mit einem Schwanz, so schön wie ihn vor ihr sicherlich noch keine Kuh gehabt hat; mit einem solchen Schwanz mußte sie sich die Fliegen von der Nase wegwedeln können, und das war doch gewiß ein großer Vorzug: stolz kommt der Bauer heim, denn er hat diese außergewöhnliche Kuh nicht einmal teuer bezahlt; am nächsten Morgen geht er in den Stall, um nach ihr zu sehen – da ist der stolze Schwanz fort – er war nur an einen Stummel angeklebt gewesen! Ein andrer kauft eine Kuh mit falschen Hörnern, und ein dritter gar entdeckt zu spät, daß man der seinen das Euter aufgeblasen hatte und er in vierundzwanzig Stunden keine zwei Glas Milch zu erwarten hat. Ein derartiges Mißgeschick durfte uns durchaus nicht widerfahren.

Ueber den falschen Schwanz und das aufgeblasene Euter macht sich Mattia weiter keine Sorgen: an den ersten hängt er sich so fest hin, daß ein falscher sofort weggeht, und in das letztere will er mit einer langen, dicken Nadel hineinstechen.

Diese Mittel werden gewiß ganz unfehlbar sein, da wo der Schwanz falsch ist und das Euter aufgeblasen worden ist, aber wie wird sich eine Kuh verhalten, der man so an ihren echten Schwanz hängt oder der man eine Nadel ins Fleisch bohrt? Wäre nicht in beiden Fällen zu befürchten, daß sie den Attentäter mit einem Tritt vor den Magen oder einem Schlag vor den Kopf von sich abschüttelte?

Der Gedanke an einen möglichen Fußtritt beunruhigte Mattias Einbildungskraft einigermaßen, und wir wußten so wenig als zuvor, wie wir uns aus der Verlegenheit helfen sollten, und wurden unsre Sorgen nicht los, denn es wäre geradezu fürchterlich gewesen, der Mutter Barberin eine Kuh, die keine Milch gab, oder eine mit falschen Hörnern zu schenken.

Glücklicherweise hatten wir auch eine Geschichte gehört, worin ein Tierarzt eine furchtbare Rolle spielte – furchtbar wenigstens für den Viehhändler. Zogen wir einen Tierarzt zu Rate, so war das wohl eine weitere Ausgabe, aber welche Beruhigung würde es uns gewähren! Jedenfalls war es für uns das Zweckmäßigste, und wir erhoben es zum Beschluß.

Die Entfernung von Le Mont-Dore nach Ussel legten wir in zwei Tagen zurück und trafen noch früh am Abend dort ein.

Hier war ich sozusagen daheim; war ich doch hier in Ussel in der Komödie »der Diener des Herrn Herzblatt« zum erstenmal öffentlich aufgetreten, und hatte mir doch hier Vitalis mein erstes Paar Schuhe gekauft – jene genagelten Schuhe, die mich einstens so sehr beglückten.

Armer Herzblatt! Er war nicht mehr da in seiner schönen roten Generalsuniform, und auch Zerbino und die zierliche Dolce fehlten! Auch Vitalis war mir entrissen worden, und niemals sollte ich ihn wiedersehen!

Von den sechs, die damals in Ussel einzogen, waren nur noch zwei, Capi und ich, am Leben, und dies stimmte mich sehr traurig. An jeder Straßenecke glaubte ich den Filzhut meines alten Herrn auftauchen zu sehen oder ihn das so oft vernommene »Vorwärts« rufen zu hören.

Nachdem ich Mattia den Trödlerladen, in dem mich Vitalis ausgestattet und den Platz gezeigt hatte, wo ich zum erstenmal aufgetreten war – auch Capi erkannte ihn und wedelte mit dem Schwanz – machten wir uns auf die Suche nach einem Tierarzt.

Als dieser hörte, was wir von ihm wollten, lachte er uns ins Gesicht.

»Hier zu Lande gibt's keine abgerichteten Kühe,« sagte er.

»Wir brauchen auch keine Kuh, die Kunststücke machen kann, sondern eine, die gute Milch gibt.«

»Und einen echten Schwanz hat,« fügte Mattia hinzu, noch immer beunruhigt durch den Gedanken an einen angeklebten Schwanz.

»Kurzum, Herr Doktor, wir möchten Sie bitten, uns zu helfen, damit wir nicht von den Viehhändlern bemogelt werden,« erklärte ich und bemühte mich dabei eifrigst, das vornehme Wesen anzunehmen, womit Vitalis die Leute für sich zu gewinnen wußte.

»Zum Kuckuck auch, wozu braucht denn ihr eine Kuh?«

In wenigen Worten setzte ich dem Tierarzt unsre Absicht auseinander.

»Ihr seid gute Jungen,« sagte er. »Ich gehe morgen früh mit euch auf den Marktplatz und verspreche euch, daß die Kuh, die ich für euch aussuche, keinen falschen Schwanz haben soll.«

»Auch keine falschen Hörner?«

»Und kein aufgepustetes Euter.«

»Es soll eine schöne und gute Kuh sein, aber, um eine solche kaufen zu können, muß man auch Geld haben!«

Ohne ein Wort zu erwidern, band ich das Tuch auf, worin unser Schatz verwahrt wurde.

»Das ist ja prächtig! Also holt mich morgen früh um sieben Uhr ab.«

»Und was werden wir Ihnen schuldig sein, Herr Doktor?«

»Gar nichts. Wo werd' ich denn so guten Jungen, wie ihr seid, ihr Geld abnehmen!«

Ich wußte gar nicht, wie ich dem guten Mann danken sollte, aber Mattia hatte einen Einfall und fragte, ob er gern Musik höre.

»Sehr gern, mein Junge.«

»Und Sie gehen früh zu Bette?«

So zusammenhanglos diese Frage auch erschien, erwiderte der Tierarzt doch freundlich: »Schlag neun Uhr.«

»Danke, Herr Doktor, also morgen früh um sieben Uhr!«

Sofort hatte ich Mattias Absicht begriffen.

»Du willst dem Tierarzt ein Ständchen bringen?« fragte ich.

»Richtig geraten! Eine Serenade, wenn er zu Bett geht – das thut man denen, die man lieb hat.«

»Das ist ein famoser Einfall von dir! Jetzt wollen wir aber in unsre Herberge zurück und Probe halten. Man braucht mit dem zahlenden Publikum nicht immer viel Umstände zu machen, aber wenn man selbst mit der Musik bezahlt, muß man sein Möglichstes leisten.«

Einige Minuten vor neun Uhr standen wir, mit unsern Instrumenten bewaffnet, wieder vor dem Haus des Tierarztes: die Straße war dunkel: weil der Mond um neun Uhr aufgehen sollte, war gar keine Straßenlaterne angezündet; die Läden waren geschlossen, und nur vereinzelte Fußgänger kamen vorbei.

Schlag neun Uhr fingen wir an, und in den engen, stillen Straßen hallten die Töne wieder, wie in einem hohen Saal: Fenster wurden aufgerissen und allüberall tauchten mit Nachtmützen geschmückte oder in Taschen- und Halstücher eingebundene Köpfe auf, und erstaunte Fragen flogen von Fenster zu Fenster.

Unser Freund, der Tierarzt, wohnte in einem Hause, dessen eine Seite mit einem zierlichen Erker geschmückt war; ein Fenster dieses Erkers ging auf, und er selbst beugte sich heraus, um zu sehen, wer hier spiele.

Ohne Zweifel erkannte er uns und unsre Absicht sofort, denn er winkte uns mit der Hand, aufzuhören: »Ich mache die Thür auf, dann könnt ihr im Garten spielen.«

Unmittelbar darauf wurde uns die Thür geöffnet.

»Ihr seid gute Jungen,« sagte er und schüttelte einem jeden von uns kräftig die Hand, »aber ihr seid auch recht unbedacht. Ihr seid wohl gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß der Polizeidiener euch wegen Nachtruhestörung hätte verhaften können.«

Der Garten war klein, aber sehr zierlich und hübsch, und nun nahmen wir unser Konzert in einer von Schlingpflanzen umrankten, offenen Laube wieder auf.

Da der Tierarzt verheiratet war und mehrere Kinder hatte, waren wir bald von einem kleinen Publikum umgeben; man brachte Licht in die Laube, und wir spielten bis zehn Uhr; war ein Stück zu Ende, so klatschte man Beifall und verlangte ein andres.

Wenn der Tierarzt uns nicht fortgeschickt hätte, würden wir, glaube ich, auf Verlangen der Kinder einen guten Teil der Nacht gespielt haben, so aber sagte er: »Laßt sie jetzt ins Bett; sie müssen morgen früh um sieben Uhr wieder hier sein.«

Allein er ließ uns nicht gehen, ohne uns eine Erfrischung vorzusetzen, was uns natürlich sehr willkommen war. Zum Entzücken der Kinder bezeugte dann Capi unsern Dank noch durch einige Kunststücke, und so wurde es schließlich doch beinahe Mitternacht, bis wir fortkamen.

Die Stadt Ussel, die abends zuvor so ruhig und still gewesen, war am andern Morgen von Lärm und Bewegung erfüllt; als wir herunterkamen, stand der Hof unsrer Herberge schon voll Wagen, zu denen immer noch neue kamen, und eine dichte Menschenmenge wogte nach dem Marktplatz zu; da es erst sechs Uhr war, bekamen wir Lust, uns die schon vorhandenen Kühe zu betrachten und uns im voraus eine auszuwählen.

Ach, die schönen Kühe! In allen Farben, in allen Größen, fett und mager waren sie zu haben! Auch Pferde und Stuten, die ihre Füllen ableckten, fette Schweine, die Löcher in die Erde wühlten, Milchschweine, die grunzten, als ob man sie bei lebendigem Leib am Spieß briete, Schafe, Hühner und Gänse waren da, aber wir hatten natürlich nur Augen für die Kühe.

Nachdem wir eine halbe Stunde herumspaziert waren, hatten wir siebzehn Kühe gefunden, die uns bald um dieser, bald um jener Eigenschaft willen, drei weil sie rot, zwei weil sie weiß waren, ganz besonders zusagten, wodurch natürlich ein lebhafter Wortwechsel zwischen Mattia und mir entstand, denn er war für eine weiße, und ich – im Andenken an die »Rote« – für eine rote Kuh.

Um sieben Uhr holten wir den Tierarzt ab, der schon auf uns wartete und dem wir auf dem Weg zum Viehmarkt nochmals ausführlich erklärten, welche Eigenschaften wir von unsrer Kuh erwarteten. Diese Eigenschaften ließen sich übrigens in zwei Worten zusammenfassen: viel Milch und wenig Futter.

»Die muß gut sein,« sagte Mattia und zeigte auf eine weißliche Kuh.

»Ich halte diese für besser,« sagte ich und deutete auf eine rote.

Der Tierarzt stellte die Uebereinstimmung zwischen uns dadurch wieder her, daß er weder die eine, noch die andre beachtete, sondern auf eine dritte zuging, auf ein kleines Tier mit schlanken Füßen, rotem Fell, braunen Ohren und Backen, mit schwarzgeränderten Augen und einem weißlichen Kreis ums Maul.

»Das ist eine Rouerguer Kuh und gerade das, was ihr braucht,« sagte er.

Ein kümmerlich aussehendes Bäuerlein hielt sie an ihrem Strick, und der Tierarzt fragte ihren Besitzer, um was ihm seine Kuh feil sei.

»Dreihundert Franken.«

Der Verstand stand uns still, als wir das hörten, und so sehr es uns die kleine, behende, zierliche Kuh mit ihrem klugen Gesicht auch angethan hatte, so machte ich dem Tierarzt doch ein Zeichen, daß wir eine andre suchen wollten: er dagegen bedeutete mich, wir müßten auf dieser beharren.

Nun entspann sich ein langer Handel zwischen unserm Freund und dem Bäuerlein: er bot hundertfünfzig, der Bauer schlug um zehn ab, der Tierarzt ging bis auf hundertsiebzig hinaus, der Bauer bis auf zweihundertachtzig herunter.

Statt nun aber weiter zu bieten, begann der Tierarzt die Kuh gründlich zu untersuchen und fand, daß sie zu schwache Beine, einen zu kurzen Hals und zu lange Hörner habe; auch fehle es ihr an der Lunge und das Euter sei nicht richtig geformt.

Nun sagte der Bauer, da wir uns so gut darauf verstünden, wolle er sie uns um zweihundertfünfzig geben, damit sie in gute Hände komme. Nun bekamen wir Angst, es könne eine schlechte Kuh sein, und ich sagte: »Wir wollen lieber eine andre suchen.«

Daraufhin ging der Bauer wieder um zehn Franken herunter, und so ging es weiter bis auf zweihundertzehn, aber dabei blieb er stehen.

Der Tierarzt hatte mich angestoßen und mir bedeutet, daß alles, was er über die Kuh sage, nicht ernst und daß sie vortrefflich sei. Aber für uns waren zweihundertundzehn Franken eine riesige Summe.

Unterdessen hatte sich Mattia hinter die Kuh gemacht, ihr ein langes Haar aus dem Schwanz gerissen und einen kräftigen Fußtritt dafür erhalten.

Dies machte meinem Schwanken ein Ende.

»Also abgemacht um zweihundertzehn Franken,« sagte ich und glaubte damit alles erledigt. Ich streckte meine Hand nach dem Strick aus, aber der Bauer ließ ihn nicht los.

»Und das Nadelgeld für die Bäuerin?« sagte er.

Nun wurde aufs neue gehandelt und gefeilscht, und schließlich vereinigten wir uns auf zwanzig Sous für die Bäuerin.

Wieder griff ich nach dem Strick, allein nun bat mich der Bauer, doch ja ein Gläschen Wein für die Stallmagd nicht zu vergessen, was wiederum zehn Sous ausmachte: darauf mußte ich auch noch dreißig Sous für den Halfter und zwanzig Sous für den Strick bezahlen, so daß uns von unsern zweihundertvierzehn mühsam ersparten Franken auch nicht ein Centime mehr übrig blieb, um uns und die Kuh zu füttern.

»Wir müssen eben arbeiten,« sagte Mattia; »jetzt sind alle Wirtschaften voller Leute, und wenn wir uns trennen, können wir überall spielen und haben bis heute abend sicher eine ganz nette Einnahme gemacht.«

Nun führten wir unsre Kuh in die Herberge, wo wir sie im Stall mit mehrfachen Knoten festbanden; dann trennten wir uns, und als wir uns am Abend wieder zusammenfanden, hatte Mattia vier Franken fünfzig Centimes und ich drei Franken eingenommen. Mit dieser Summe waren wir reich zu nennen, aber die Freude über diesen Verdienst war verschwindend und klein im Vergleich zu der, die wir über die verausgabten zweihundertvierzehn Franken empfanden.

Das Küchenmädchen melkte uns auf unsre Bitte die Kuh, und die Milch diente uns zum Abendbrot. Noch nie hatten wir so vorzügliche Milch getrunken; Mattia erklärte, es sei Zucker darin und sie schmecke nach Orangenblüte, wie die im Spital, nur noch viel besser.

In unsrer Begeisterung eilten wir in den Stall und küßten unsre Kuh auf ihr schwarzes Maul, für welchen Zärtlichkeitsbeweis sie recht empfänglich zu sein schien, denn sie leckte uns das Gesicht mit ihrer langen Zunge.

»Du, Remi, sie küßt einen ja!« rief Mattia entzückt.

Um verstehen zu können, daß uns die Liebkosungen einer Kuh beglückten, muß man sich daran erinnern, daß weder Mattia noch ich durch Zärtlichkeiten verwöhnt worden waren – glich doch unser Los in nichts dem der verhätschelten Kinder, die sich der Küsse ihrer Mutter erwehren zu müssen glauben. Und doch hätten wir beide uns so gerne liebkosen lassen!

Am nächsten Morgen standen wir mit der Sonne auf und machten uns schleunigst auf den Weg nach Chavanon.

Weil ich Mattia meinen Dank dafür beweisen wollte, daß er mir so getreulich geholfen hatte, das Geld für die Kuh zu verdienen, ließ ich ihn zu seiner größten Freude unsre Kuh am Strick führen, während ich hinterdrein ging. Erst vor der Stadt gesellte ich mich zu ihm, um, wie gewöhnlich, mit ihm zu plaudern und hauptsächlich auch um meine Kuh zu betrachten – noch nie hatte ich eine so schöne gesehen.

Von nun an brauchte ich nicht mehr alle Augenblick meine Karte zu Rate zu ziehen wie sonst, denn wenn es auch schon mehrere Jahre her war, daß mich Vitalis diesen Weg geführt hatte, so erinnerte ich mich doch noch an die geringsten Einzelheiten.

Um unsre Kuh nicht zu sehr zu ermüden und nicht zu spät in Chavanon einzutreffen, wollte ich in dem Dorf, wo ich erstmals mit Vitalis übernachtet hatte, auf der nämlichen Farnkrautstreu schlafen und mich zurückträumen in jene erste Nacht, in der mich Capi getröstet und zum Zeichen seiner Freundschaft seine Pfote in meine Hand gelegt hatte.

Brechen wir dann am nächsten Morgen dort auf, so kommen wir noch zeitig genug bei Mutter Barberin an.

Aber das uns bisher so holde Geschick machte uns plötzlich einen Strich durch die Rechnung.

Wir hatten beschlossen, unsern Marsch durch eine Frühstückspause zu unterbrechen, und lagerten uns gegen zehn Uhr an einem Platz, wo das Gras dicht und saftig stand und unsre Kuh im Straßengraben weiden konnte.

Anfangs wollte ich sie am Strick festhalten, aber sie zeigte sich so fromm und war so ins Grasen vertieft, daß ich ihr den Strick um die Hörner schlang und mich neben sie setzte, um mein Brot zu verzehren.

Natürlich hatten wir unsre Mahlzeit lange vor ihr beendet; nachdem wir unsre Kuh genugsam bewundert hatten und nicht recht wußten, was thun, fingen wir an mit Marmeln zu spielen, denn wenn wir auch Geld verdienen und ein ernstes Leben führen mußten, so blieben wir doch immer Kinder, die Freude am Spielen hatten, und deshalb verging selten ein Tag, an dem wir nicht Ball, Marmeln oder Bocksprung spielten. Gar oft sagte Mattia plötzlich, ohne jede äußere Veranlassung: »Spielen wir eins?« Dann hatten wir im Handumdrehen Ranzen und Instrumente abgelegt und fingen auf der Landstraße zu spielen an, und gar oft hätten wir uns vergessen und bis in die Nacht hineingespielt, wenn ich nicht meine Uhr gehabt hätte, die mich daran erinnerte, daß ich das Haupt einer Truppe war, und daß wir arbeiten und Geld verdienen mußten, um leben zu können. Dann schlang ich wieder das Harfenband um meine schmerzende, wundgedrückte Schulter und sagte: »Vorwärts!«

Wir waren längst mit unserm Spiel zu Ende, aber die Kuh hörte noch immer nicht auf zu weiden, und wenn sie uns auf sich zukommen sah, fing sie erst recht zu schmatzen an, als wolle sie uns zeigen, wie hungrig sie noch sei.

»Wir wollen noch ein wenig warten,« sagte Mattia.

»Weißt du denn nicht, daß eine Kuh den ganzen Tag weiter frißt?«

»Nur noch ein ganz klein bißchen.«

Unterdessen nahmen wir unsre Ränzel und Instrumente wieder auf.

»Wie wär's, wenn ich was auf dem Klapphorn spielte?« fragte Mattia, dem es schwer fiel, sich ruhig zu verhalten. »Im Zirkus Gissot hatten wir eine Kuh, und die liebte die Musik ungemein.«

Ohne weiter zu fragen, fing Mattia an, eine schmetternde Fanfare zu blasen.

Gleich bei den ersten Tönen schob unsre Kuh den Kopf in die Höhe und rannte dann plötzlich, ehe ich Zeit fand, ihr an die Hörner zu springen und den Strick zu ergreifen, im Galopp davon.

Wir rannten natürlich spornstreichs hinterdrein und schrieen aus Leibeskräften. Ich rief Capi zu, er solle sie halten, aber man kann nicht alle Talente in sich vereinigen: ein Metzgerhund wäre unsrer Kuh ans Maul gesprungen, der gelehrte Capi dagegen sprang ihr an die Beine, was das Gegenteil von dem bewirkte, was es sollte; wir setzten unsern Dauerlauf fort – sie voraus, wir hintendrein.

»Rindvieh, dummes!« schrie ich Mattia während des Rennens zu, und er keuchte atemlos zurück: »Du mußt mich prügeln! Ich hab's verdient!«

Etwa zwei Kilometer von einem großen Dorf entfernt hatten wir Rast gehalten, und auf dies Dorf galoppierte unsre Kuh zu. Natürlich langte sie vor uns dort an, und da der Weg schnurgerade weiterging, konnten wir trotz der großen Entfernung sehen, daß ihr Leute den Weg verlegten und sie einfingen.

Sowie wir sahen, daß uns unsre Kuh nicht verloren war und wir sie nur den guten Leuten wieder abzunehmen brauchten, mäßigten wir unsre Eile etwas.

Als wir endlich bei unsrer Kuh anlangten, standen etliche zwanzig Männer, Frauen und Kinder um sie herum und betrachteten uns aufmerksam und erörterten den Fall untereinander.

Ich hatte mir eingebildet, ich brauche nur meine Kuh zurückzuverlangen; aber statt sie mir zu übergeben, umringte man uns und stellte ein förmliches Verhör mit uns an und wollte wissen, woher wir kämen und woher wir diese Kuh hätten.

Natürlich war darauf leicht zu antworten, aber die Leute wollten uns nicht glauben, und es wurden einige Stimmen laut, die behaupteten, wir hätten die Kuh gestohlen und müßten ins Gefängnis gebracht werden, bis die Sache aufgeklärt sei.

Die Todesangst, die mich bei dem Wort Gefängnis überfiel, sollte uns vollends ins Verderben stürzen: ich erblaßte, ich stotterte, da ich ohnehin von dem furchtbaren Laufen noch ganz atemlos war, und vermochte uns nicht mehr zu verteidigen.

Ueberdem kam ein Gendarm dazu, dem man in wenig Worten den Vorfall berichtete, und da ihm die Sache nicht ganz geheuer erschien, erklärte er, er lege Beschlag auf unsre Kuh und werde sie in den Pfandstall und uns ins Gefängnis führen – dann werde sich das weitere finden.

Ich wollte Einsprache dagegen erheben, Mattia wollte reden, aber der Gendarm hieß uns grob das Maul halten; ich erinnerte mich des Auftritts zwischen Vitalis und dem Polizeidiener in Toulouse und befahl Mattia, zu schweigen und dem Herrn Gendarmen zu folgen.

Das ganze Dorf gab uns das Geleite bis zum Rathaus, wo sich das Gefängnis befand: man drängte, man stieß, man puffte und beleidigte uns, und ich glaubte, ohne den Mann des Gesetzes, der uns beschützte, hätte man uns wie große Verbrecher gesteinigt, und doch hatten wir gar nichts gethan.

Vor dem Gefängnis angelangt, schöpfte ich einen Augenblick Hoffnung, denn der Rathausdiener, der gleichzeitig auch Gefängniswärter und Feldhüter war, weigerte sich anfangs, uns aufzunehmen, und ich erklärte ihn schon im stillen für einen wackeren Mann.

Der Gendarm bestand aber auf seinem Willen, und der Gefängniswärter mußte nachgeben; er ging vor uns draus und öffnete eine Thür, die von außen mit einem großen Schloß und zwei Riegeln verwahrt wurde, und nun sah ich, warum er Schwierigkeiten gemacht hatte, uns aufzunehmen: er hatte seinen ganzen Zwiebelvorrat zum Trocknen auf den Fußboden des Gefängnisses ausgebreitet. Man durchsuchte uns, man nahm uns unser Geld, unsre Messer, unsre Streichhölzer ab, und unterdessen häufte der Gefängniswärter seine Zwiebeln in einer Ecke auf. Dann ließ man uns allein und mit wahrhaft tragischem Eisengerassel fiel die Thür ins Schloß.

Wir waren im Gefängnis! Für wie lange wohl?

Während ich darüber nachdachte, stellte sich Mattia mit gesenktem Kopf vor mich hin und sagte: »Schlag nur zu, hau mich nur auf den Kopf – für diese Dummheit kannst du nicht arg genug draufschlagen!«

»Du hast die Dummheit gemacht, und ich hab' sie dich machen lassen, also bin ich so dumm gewesen als du.«

»Es wäre mir lieber, du würdest mich prügeln – ich wäre dann weniger unglücklich. Ach, unsre arme Kuh! Die Kuh des Königsohnes!«

Damit fing er an zu weinen. Nun suchte ich ihn zu trösten und ihm zu erklären, warum unsre Lage gar nicht so schlimm sei. Wir hatten ja nichts gethan und konnten leicht den Beweis erbringen, daß wir unsre Kuh gekauft hatten – der Tierarzt von Ussel würde es uns bezeugen.

»Wenn man uns dann aber beschuldigt, das Geld gestohlen zu haben, womit wir die Kuh bezahlt haben? Wie sollen wir beweisen, daß wir es verdient haben? Siehst du nun, daß man immer im Unrecht ist, wenn man Unglück hat?«

Mattia hatte recht; ich wußte nur allzu gut, wie hart man gegen die Unglücklichen ist – soeben hatten es mir die Schimpfreden, die uns bis zum Gefängnis begleiteten, noch aufs neue bewiesen.

»Und wenn man uns auch aus dem Gefängnis entläßt,« fuhr Mattia unter neuen Thränenströmen fort, »und uns unsre Kuh zurückgibt, so steht es doch noch lange nicht fest, daß wir Mutter Barberin auch finden. – Sie kann ja auch gestorben sein, seit du von ihr fort bist.«

Diese Befürchtung traf mich ins Herz. Es war ja richtig, Mutter Barberin konnte unterdessen gestorben sein! Denn wenn ich auch in einem Alter stand, in dem man nicht leicht an den Tod denkt, so wußte ich ja doch aus Erfahrung, daß er einem die entreißen kann, die man liebt – hatte ich denn nicht auch Vitalis verloren? Warum war mir nicht längst dieser Gedanke gekommen?

»Warum hast du das nicht schon früher gesagt?« fragte ich.

»Weil ich, solange ich glücklich bin, nur lustige Gedanken in meinem dummen Kopf habe, während mir im Unglück nur traurige kommen. Und ich freute mich so darauf, der Mutter Barberin deine Kuh bringen zu dürfen, daß ich nur ihre und unsre Freude im Kopf hatte und ganz geblendet, ganz trunken davon war.«

»Dein Kopf ist nicht dümmer als der meine, armer Mattia; mir ist es kein Haar anders gegangen als dir, und ich bin so geblendet und so freudetrunken gewesen, als du.«

»Ach Gott, ach Gott, die Kuh des Königsohnes,« heulte Mattia, »ein schöner Königsohn, das!«

Plötzlich sprang er auf und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.

»Und wenn nun Mutter Barberin tot und der abscheuliche Barberin am Leben ist, wenn er uns unsre Kuh, ja wenn er dich selbst nimmt?«

Offenbar brachte uns unser neuestes Erlebnis und der Einfluß des Gefängnisses auf diese traurigen Gedanken, allein Mattia grämte sich nicht nur um uns, er sorgte sich auch um unsre Kuh und jammerte: »Wer wird ihr zu fressen geben? Wer wird sie melken?«

So vergingen mehrere Stunden, und je weiter die Zeit vorrückte, um so trostloser wurden wir. Trotzdem versuchte ich doch Mattia etwas aufzurichten, indem ich ihm erklärte, daß man uns doch jedenfalls verhören müsse.

»Nun, und was sagen wir dann?«

»Die Wahrheit.«

»Dann liefert man dich Barberin in die Hände, oder wird – wenn sie allein zu Hause ist – Mutter Barberin verhört, um zu erfahren, ob wir die Wahrheit sagen, und dann können wir ihr keine Ueberraschung mehr bereiten.«

Endlich that sich unsre Thür geräuschvoll auf, und herein trat ein alter Herr mit weißem Haar und einem offenen, guten Gesicht, das uns neuen Mut einflößte.

»Vorwärts, ihr Schlingel, steht auf und antwortet dem Herrn Friedensrichter,« befahl der Schließer.

»Schon gut, schon gut,« sagte der Friedensrichter und winkte dem Gefängniswärter, ihn allein machen zu lassen, »ich will erst diesen hier verhören« – dabei deutete er auf mich – »führen Sie den andern ab und bewachen Sie ihn; ich werde ihn nachher vernehmen.«

Unter diesen Umständen hielt ich es für angezeigt, Mattia einen Wink zu geben, was er antworten solle.

»Herr Friedensrichter,« sagte ich, »er wird Ihnen so gut als ich die Wahrheit, die volle Wahrheit erzählen.«

»Schon gut, schon gut,« unterbrach er mich eilig, um mir das Wort abzuschneiden.

Mattia ging hinaus, warf mir aber vorher noch rasch einen Blick zu, der mir sagte, er habe mich verstanden.

»Man beschuldigt euch, eine Kuh gestohlen zu haben,« begann der Friedensrichter und sah mir fest in die Augen.

Ich erwiderte, wir hätten die Kuh auf dem Viehmarkt in Ussel gekauft und nannte den Tierarzt, der uns bei diesem Handel beraten hatte.

»Diese Aussage wird auf ihre Wahrheit geprüft werden.«

»Das hoffe ich, denn durch diese Prüfung wird unsre Unschuld festgestellt werden.«

»Und zu was habt ihr eine Kuh gekauft?«

»Um sie nach Chavanon zu führen und sie meiner Pflegemutter als Zeichen meiner Dankbarkeit und Anhänglichkeit zum Geschenk zu machen.«

»Und wie heißt diese Frau?«

»Mutter Barberin.«

»Ist sie die Frau eines Maurers, der vor einigen Jahren in Paris zum Krüppel wurde?«

»Ja, Herr Friedensrichter.«

»Auch dies soll untersucht werden.«

Daraus antwortete ich aber nicht wie auf die nämliche Bemerkung in betreff des Tierarztes.

Als er meine Verwirrung bemerkte, drang der Friedensrichter solange mit Fragen in mich, bis ich ihm sagte, wenn er Mutter Barberin verhöre, so werde uns die ganze Ueberraschung verdorben.

Trotz der Verlegenheit, in der ich steckte, war ich sehr befriedigt darüber, daß der Richter Mutter Barberin kannte und vernehmen wollte, denn dies bewies mir, daß sie noch am Leben war.

Meine Befriedigung wurde noch größer, als mir der Friedensrichter im Verlauf des Verhörs sagte, daß Barberin seit einiger Zeit nach Paris zurückgekehrt sei.

Diese Freude machte mich so beredt, daß es mir gelang, den Friedensrichter davon zu überzeugen, daß die Aussage des Tierarztes genüge, um zu beweisen, daß wir unsre Kuh nicht gestohlen hatten.

»Und wo habt ihr denn das Geld hergehabt, um eine Kuh zu kaufen?«

Das war die Frage, die Mattia vorausgesehen und so sehr gefürchtet hatte.

»Das haben wir verdient.«

»Wo? Womit?«

Nun erklärte ich ihm, wie wir von Paris nach Varses bis nach Le Mont-Dore das Geld Sou um Sou verdient und zusammengespart hatten.

»Und was hattet ihr dann in Varses zu thun?«

Diese Frage nötigte mich zu einer neuen Erzählung. Kaum aber vernahm der Friedensrichter, daß ich einer von den in der Grube von La Truyère Verunglückten sei, als er mir in die Rede fiel und mit milder, beinahe freundschaftlicher Stimme fragte: »Welcher von euch beiden ist dann Remi?«

»Ich, Herr Friedensrichter.«

»Wie willst du das beweisen? Du hattest keine Papiere, wie mir der Gendarm sagte.«

»Nein, ich habe keine.«

»Nun, so schildere mir einmal die Katastrophe von Truyère! Ich habe die Beschreibung in den Zeitungen gelesen, und es wird dir nicht gelingen, mich hinters Licht zu führen, falls du nicht wirklich Remi bist.«

Als ich mit meiner Erzählung zu Ende war, blickte mich der Friedensrichter gerührt und freundlich an. Ich dachte, er werde nun sagen, wir seien frei, allein er that nicht dergleichen, sondern verließ mich, ohne ein Wort weiter zu reden. Sicher wollte er jetzt Mattia vernehmen und sehen, ob unsre beiden Aussagen übereinstimmten.

Erst nach geraumer Zeit kam er mit Mattia zurück.

»Ich werde in Ussel Erkundigungen einziehen lassen, und wenn diese, wie ich hoffe, eure Erzählung bestätigen, so werdet ihr morgen in Freiheit gesetzt.«

»Und unsre Kuh?« fragte Mattia.

»Die gibt man euch zurück.«

»Das habe ich nicht gemeint,« entgegnete Mattia, »aber wer wird ihr zu fressen geben, und wer wird sie melken?«

»Sei ganz unbesorgt um sie, mein Junge.«

Mattia war auch ganz beruhigt und fragte mit freundlichem Lächeln: »Könnte man uns nicht die Milch zum Nachtessen geben, wenn unsre Kuh gemolken wird. Das wäre so gut!«

Sobald der Friedensrichter gegangen war, verkündete ich Mattia die beiden guten Neuigkeiten, über die ich beinahe vergessen hatte, daß wir im Gefängnis saßen: Mutter Barberin lebte, und ihr Mann befand sich in Paris.

»Die Kuh des Königsohnes wird im Triumph einziehen!« jubelte Mattia und fing an zu tanzen und zu singen; von seiner Lustigkeit angesteckt, faßte ich seine Hände, während Capi, der bis dahin traurig und unruhig in einer Ecke gelegen hatte, sich auf den Hinterfüßen in unsre Mitte stellte, und nun führten wir einen so wundervollen Siegestanz auf, daß unser Schließer – vermutlich aus Angst um seine Zwiebeln – ganz erschrocken herbeilief, um zu sehen, ob wir nicht in offener Meuterei begriffen seien.

Wohl hieß er uns Ruhe halten, aber da er nicht mehr so grob mit uns sprach als anfangs, nahmen wir an, daß unsre Sache gut stehe. Bald sahen wir, daß unsre Voraussetzung richtig gewesen war, denn kurz nachher erschien er wieder mit einer großen Schüssel voll Milch – Milch von unsrer Kuh – und einem großen Laib Weißbrot und einem Stück kalten Kalbsbraten, was uns, wie er sagte, der Herr Friedensrichter schickte.

Nie waren Gefangene besser behandelt worden, und während ich den Kalbsbraten aß und meine Milch trank, kam ich zu der Einsicht, daß die Gefängnisse viel besser seien, als ich geglaubt hatte. Mattia war ganz meiner Ansicht und meinte lachend: »Ganz umsonst essen und übernachten – das heiße ich Glück haben!«

Nun wollte ich ihn ein wenig foppen und sagte: »Und wenn nun der Tierarzt unterdessen gestorben ist? Wer wird dann für uns sorgen?«

»Auf solche Gedanken kommt man nur, wenn man sich unglücklich fühlt,« entgegnete er, ohne sich zu ärgern, »und dazu ist im Augenblick kein Grund vorhanden.«

 

Ende des zweiten Bandes.

 


 << zurück weiter >>