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Zehntes Kapitel.
Vor Gericht

Von Pau ist mir eine angenehme Erinnerung geblieben, dort weht beinahe nie ein Wind.

Da wir den Winter über dort blieben und unsre Tage auf den Straßen, öffentlichen Plätzen und Promenaden verlebten, wird man begreiflich finden, daß ich für einen derartigen Vorzug empfänglich war.

Das war aber nicht der Grund, der uns bestimmte, gegen unsre sonstige Gepflogenheit so lange an dem nämlichen Ort zu verweilen, sondern ein andrer, der bei meinem Herrn allmächtig war – das heißt unsre reichen Einnahmen.

Während dieses Winters hatten wir nämlich ein Publikum von Kindern, denen unser Repertoire nie entleidete und die niemals schrieen: »Das ist ja immer die nämliche Geschichte.«

Es waren zum größten Teil englische Kinder: dicke Jungen mit rosigem Fleisch und hübsche kleine Mädchen mit großen, sanften Augen, beinahe so schön wie die von Dolce. Damals lernte ich die » Albert«, die » Huntley und andre trockene Bäckereien kennen, mit denen sie ihre Taschen vollstopften, ehe sie ausgingen, um sie nachher freigebig zwischen Herzblatt, den Hunden und mir zu verteilen.

Als warme Tage das Nahen des Frühlings verkündeten, fing unser Publikum an sich zu vermindern, und gar manchmal kamen nach Schluß der Vorstellung Kinder zu uns her und gaben Herzblatt und Capi die Hand zum Abschied, und am nächsten Tag sahen wir sie nicht mehr.

Bald befanden wir uns ganz allein auf den öffentlichen Plätzen und auch wir mußten daran denken, weiterzuziehen.

Eines Morgens machten wir uns auf den Weg, und in Bälde waren die Türme von Pau aus unsrem Gesichtskreis entschwunden.

Wir hatten unser Wanderleben wieder aufgenommen und zogen aufs neue, dem Zufall preisgegeben, auf den Landstraßen weiter.

Lange, lange, ich weiß nicht wieviele Tage und Wochen, wunderten wir immerzu über Berg und Thal, bis wir eines Abends in einer großen am Ufer eines Flusses in einer fruchtbaren Ebene gelegenen Stadt ankamen. Die meist recht häßlichen Häuser waren aus roten Backsteinen erbaut und die Straßen mit spitzen, kleinen Steinen gepflastert, was für die Füße von Reisenden, die am Tag zehn Meilen zurückgelegt haben, recht empfindlich ist.

Mein Herr sagte, wir befänden uns in Toulouse und würden lange dort bleiben.

Wie gewöhnlich war es am nächsten Morgen unser erstes, für unsre Vorstellungen geeignete Plätze ausfindig zu machen.

Wir fanden deren eine große Anzahl, denn in Toulouse ist kein Mangel an Promenaden vorhanden, besonders nicht in dem in der Nähe des Jardin des Plantes gelegenen Stadtteil; es ist dort eine schöne, von großen Bäumen beschattete Wiese, in die mehrere Alleen auslaufen. In einer dieser Alleen begannen wir unsre Vorstellungen und hatten sofort ein großes Publikum um uns versammelt.

Unglücklicherweise betrachtete dies der Wächter, dem die Sorge für diese Allee oblag, mit Mißfallen und verlangte, sei es nun, daß er die Hunde nicht liebte, sei es, daß wir ihn in seinem Dienst störten, oder aus sonst einem Grund, wir sollten unsern Platz aufgeben.

Vielleicht wäre es in unsrer Lage weiser gewesen, dieser Eigenmächtigkeit nachzugeben, denn ein Kampf zwischen armen Gauklern wie wir und der Polizei war kein Kampf mit gleichen Waffen, aber mein Herr war nicht dieser Ansicht.

Obgleich er – wenigstens im Augenblick und dem Anschein nach – nur ein armer, alter Mann war und abgerichtete Hunde vorführte, besaß er doch viel Stolz und daneben das Bewußtsein seines Rechts, das heißt, wie er es mir erklärte, er war überzeugt, daß man ihn schützen müsse, solange er den Gesetzen und den Polizeivorschriften nicht zuwiderhandle.

Demgemäß verweigerte er dem Wächter den Gehorsam, als er ihn aus unsrer Allee ausweisen wollte.

Wenn mein Herr sich nicht vom Zorn hinreißen lassen oder sich über die Leute lustig machen wollte – was öfters vorkam – so pflegte er seine italienische Höflichkeit zu übertreiben, und wenn man hörte, wie er sich in solchen Fällen ausdrückte, so mußte man glauben, er habe mit sehr hochgestellten Leuten zu thun.

»Kann mir der hohe Vertreter der Obrigkeit,« sagte er, den Hut in der Hand, zu dem Wächter, »vielleicht eine Bestimmung besagter Obrigkeit nachweisen, in der es armen Possenreißern, wie uns, untersagt wird, ihr armseliges Gewerbe auf diesem öffentlichen Platz auszuüben?«

Der Wächter erwiderte, er habe nicht zu rechten, sondern zu gehorchen.

»Gewiß,« entgegnete Vitalis, »das ist ganz meine Meinung, und ich verspreche, Ihren Befehlen zu entsprechen, sobald Sie mir sagen, auf Grund welcher Bestimmungen Sie diese erteilen.«

An diesem Tag drehte uns der Wächter, während mein Herr ihm, den Hut in der Hand, tiefgebückt ein paar Schritte weit das Geleite gab, den Rücken.

Aber am nächsten Morgen kam er wieder, sprang über die Leine, die unser Theater begrenzte und unterbrach unsre Vorstellung.

»Sie haben Ihren Hunden Maulkörbe anzulegen,« befahl er Vitalis scharf.

»Meinen Hunden Maulkörbe anlegen!«

»Es besteht eine diesbezügliche Polizeivorschrift, die Ihnen bekannt sein dürfte.«

Wir waren im Begriff, den » abgeführten Kranken« zu spielen, und da dies die erste Vorstellung dieses Stückes war, die in Toulouse stattfand, war unser Publikum voll Aufmerksamkeit.

Die Dazwischenkunft des Polizeidieners rief allgemeines Murren hervor.

»Stören Sie nicht!«

»Unterbrechen Sie die Vorstellung nicht!«

Mit einer Handbewegung gebot Vitalis Stille.

Dann nahm er seinen Filzhut ab und grüßte so demütig, daß dessen Federn den Sand kehrten, und näherte sich dem Schutzmann mit drei tiefen Verbeugungen.

»Hat der hohe Vertreter der Obrigkeit nicht gesagt, ich solle meinen Hunden den Maulkorb anlegen?« fragte er.

»Ja, und das sofort!«

»Capi, Zerbino und Dolce einen Maulkorb anlegen,« rief Vitalis, »das kann Eurer Herrlichkeit doch unmöglich ernst sein! Wie könnte doch der hochgelehrte Herr Doktor Capi Abführmittel verordnen, um die Galle des unglücklichen Herrn Herzblatts zu entleeren, wenn besagter Capi einen Maulkorb unter der Nase trüge? Ja, wenn es noch ein andres Instrument wäre, das mit seinem Beruf besser in Einklang stünde, das man aber den Leuten nicht unter der Nase ansetzt.«

Eine wahre Lachsalve ertönte, bei der sich die silberhellen Stimmen der Kinder mit den tieferen Tönen der Eltern vermischten.

Durch diesen Beifall ermutigt, fuhr Vitalis fort: »Und wie könnte die reizende Dolce, unsre Krankenwärterin, ihre Beredsamkeit und ihre Reize gebrauchen, um unsern Kranken zu einer so gründlichen Reinigung seiner Eingeweide zu überreden, wenn sie das vor der Schnauze trägt, was ihr der hohe Vertreter der Obrigkeit anhängen will? Ich frage das verehrte Publikum um seine Meinung und rufe es auf zum Richter zwischen uns.«

Das also um seine Ansicht gefragte Publikum gab keine direkte Antwort, aber sein Gelächter sprach für es: man stimmte Vitalis bei und machte sich über den Wächter lustig, hauptsächlich aber freute man sich über die Grimassen Herzblatts, der sich hinter dem »hohen Vertreter der Obrigkeit« aufgepflanzt hatte, ihm in seinem Rücken Gesichter schnitt, die Arme kreuzte wie er, die Faust in die Hüfte stemmte und den Kopf mit köstlicher Miene in den Nacken warf.

Durch Vitalis Rede und das Gelächter der Zuschauer gereizt, drehte sich der Schutzmann, der nicht sehr geduldig aussah, plötzlich auf dem Absatz herum.

Nun bemerkte er aber den Affen, der wie ein richtiger Maulheld dastand und die Faust in die Hüfte stemmte; einige Augenblicke lang standen sich Mensch und Tier gegenüber und blickten einander an, als wollten sie sehen, wer zuerst die Augen niederschlage.

Ein unwiderstehliches stürmisches Gelächter machte der Scene ein Ende.

»Wenn morgen Ihre Hunde keinen Maulkorb tragen, so zeige ich Sie an; damit basta!«

»Auf morgen denn, Signor,« sagte Vitalis, »auf morgen!«

Und während der Wächter sich entfernte, verharrte Vitalis tiefgebückt in demütigster Haltung, dann wurde die Vorstellung fortgesetzt.

Ich glaubte, mein Herr werde Maulkörbe für unsre Hunde kaufen, aber er that nichts dergleichen, und der Abend verfloß sogar, ohne daß er von seinem Streit mit dem Wächter auch nur gesprochen hätte.

Nun erkühnte ich mich, selbst davon anzufangen.

»Ich glaube, es wäre gut, Capi schon im voraus den Maulkorb anzulegen, damit er sich daran gewöhnt und ihn nicht während der Vorstellung zerbricht.«

»Du glaubst also, ich werde hergehen und ihnen so ein Drahtgerippe anlegen?«

»Nun, es scheint mir, der Wächter hat alle Lust, Sie zu schikanieren.«

»Du bist eben nur ein Bauer und verlierst, wie alle Bauern, aus Angst den Kopf, sobald es sich um Polizei und Gendarmen handelt. Aber sei ruhig, ich werde es so einrichten, daß der Wächter mir morgen nicht beikommen kann, meine Zöglinge sich doch nicht allzu unglücklich fühlen und das Publikum seinen Spaß haben wird. Der Wächter soll uns zu einer guten Einnahme verhelfen und eine komische Rolle in dem Stück spielen, das ich plane; die ganze Sache wird etwas Abwechslung in unser Repertoire und uns selbst zum Lachen bringen. Zu diesem Zweck begibst du dich morgen früh mit Herzblatt allein an unsern Platz; du spannst das Seil, du spielst einige Stücke auf der Harfe, und erst wenn du ein genügendes Publikum um dich versammelt hast und der Wächter da ist, trete ich mit den Hunden auf und dann beginnt das lustige Stück.

Es gefiel mir nicht recht, daß ich auf diese Weise unsre Vorstellung allein vorbereiten sollte, aber ich kannte meinen Herrn allmählich und sah, daß ich ihn nicht hätte bestimmen können, auf das Vergnügen zu verzichten, das er sich von der Sache versprach, und gehorchte ohne Widerrede.

Am andern Tag begab ich mich an unsern gewohnten Platz und spannte meine Leinen. Kaum hatte ich einige Takte gespielt, als das Publikum von allen Seiten herbeiströmte und sich um die Umfriedigung drängte.

In der letzten Zeit, besonders während unseres Aufenthaltes in Pau, hatte mich mein Herr die Harfe spielen gelehrt, und ich spielte einige Stückchen ganz ordentlich; darunter zählte auch eine neapolitanische Canzonetta, die ich zur Harfe sang und die mir immer viel Beifall eintrug.

Ich war nach mehr als einer Seite hin Künstler und folglich zu der Annahme geneigt, daß die Erfolge unsrer Truppe meinem Talent zu verdanken seien; an jenem Tag sah ich aber doch ein, daß die Leute sich nicht dermaßen um unsre Seile drängten, um meine Canzonetta zu hören.

Diejenigen, die am Abend zuvor die Scene mit dem Wächter mitangesehen hatten, waren heute wieder gekommen und hatten auch noch Bekannte mitgebracht. In Toulouse, wie beinahe überall, kann man die Polizeidiener nicht leiden, und war deshalb begierig, wie sich der alte Italiener aus der Sache ziehen und seinen Feind überlisten würde. Obgleich Vitalis nichts gesagt hatte als: »Auf morgen, Signor,« hatte jedermann begriffen, daß dies die Ankündigung einer großen Vorstellung war, bei der man sich auf Kosten der Polizei vergnügen würde.

Deshalb unterbrach mich auch mancher beunruhigte Zuschauer, um mich zu fragen, ob der Italiener nicht komme.

»Er kommt bald.«

Und ich fuhr in meiner Canzonetta fort.

Aber nicht mein Lehrer kam, sondern der Wächter. Herzblatt bemerkte ihn zuerst und stemmte sofort die Hand in die Hüfte, warf den Kopf zurück und fing an, steif und hoch aufgerichtet, mit lächerlichem Dünkel auf und ab zu spazieren.

Das Publikum brach in schallendes Gelächter aus und klatschte wiederholt Beifall.

Der Wächter war außer Fassung gebracht und warf mir wütende Blicke zu.

Selbstverständlich verdoppelte dies die Heiterkeit des Publikums.

Eigentlich hatte ich selbst Luft, zu lachen, aber ich war andrerseits doch nicht beruhigt genug. Wie sollte das enden? Wäre Vitalis dagewesen, so hätte er mit dem Manne verhandeln können, aber ich war allein und muß gestehen, daß ich nicht wußte, was ich ihm antworten sollte, wenn er mich zu Rede stellte.

Das wütende, vom Zorn verzerrte Gesicht des Polizeidieners, der vor meiner Leine auf und ab ging, war durchaus nicht danach angethan, mich zu beruhigen.

Herzblatt, der den Ernst unsrer Lage nicht erfaßte, vertrieb sich die Zeit damit, daß er die Haltung des Wächters nachäffte, und spazierte innerhalb der Umfriedigung genau so auf und ab, wie jener außerhalb, und sah mich, wenn er an mir vorüberkam, so drollig über die Achseln an, daß sich das Lachen des Publikums immer mehr steigerte.

Da ich die Wut des Wächters nicht aufs Aeußerste treiben wollte, rief ich Herzblatt zu mir; dieser war aber nicht in der Laune, mir zu gehorchen, setzte seinen Spaziergang laufend fort und entwischte mir, so oft ich ihn fassen wollte.

Ich weiß nicht, wie es geschah, aber der Polizeidiener glaubte, vom Zorn verblendet, ich reize den Affen auf, und sprang rasch über das Seil.

In zwei Sätzen hatte er mich erreicht, und ich fühlte mich durch eine Ohrfeige zu Boden geworfen.

Als ich die Augen wieder öffnete und aufstand, sah ich Vitalis zwischen mir und dem Wächter stehen, den er fest am Handgelenk packte.

»Ich verbiete Ihnen, dies Kind zu schlagen,« sagte er, »Sie haben eine Feigheit begangen.«

Der Wächter wollte seine Hand frei machen, aber Vitalis hielt sie nur um so fester, und einige Sekunden lang standen sich die beiden Männer Auge in Auge gegenüber.

Der Polizeidiener war außer sich vor Zorn: mein Herr dagegen war voll Vornehmheit und hielt sein schönes, von weißen Haaren umrahmtes Haupt hoch aufgerichtet, während er seinen Gegner herrisch und empört anblickte.

Ich glaubte, der Polizist müsse sich dieser Haltung gegenüber in die Erde verkriechen, aber er that nichts dergleichen, sondern riß sich heftig los, packte meinen Herrn am Kragen und stieß ihn roh vor sich her.

Vitalis wäre beinahe gefallen, so heftig war der Stoß, aber er richtete sich wieder auf und versetzte dem Polizisten einen heftigen Schlag aufs Handgelenk.

Es ist wahr, mein Herr war ein kräftiger Greis, aber doch immerhin ein Greis; der Polizeidiener dagegen ein noch junger, starker Mann, und ein Kampf zwischen den beiden hätte nicht lange gewährt.

Aber es kam zu keinem Kampf.

»Was wollen Sie?« fragte Vitalis.

»Ich verhafte Sie, folgen Sie mir auf die Wache!«

»Warum haben Sie das Kind geschlagen?«

»Kein Wort mehr, folgen Sie mir!«

Vitalis entgegnete nichts mehr, sondern wendete sich zu mir und sagte: »Geh' ins Wirtshaus zurück und bleibe mit den Hunden dort; ich werde dir Nachricht zukommen lassen.«

Mehr konnte er nicht sagen, der Polizeidiener zog ihn fort. So endete die Vorstellung, die mein Herr hatte so lustig gestalten wollen, in recht trauriger Weise.

Die erste Regung der Hunde war gewesen, ihrem Herrn zu folgen, aber ich befahl ihnen, dazubleiben, und ans Gehorchen gewöhnt, kamen sie zu mir zurück. Nun erst sah ich, daß sie Maulkörbe trugen, aber es waren nur seidene Bänder, die mit großen Schleifen um die Schnauzen gebunden waren, Theatermaulkörbe, mit denen Vitalis seine Hunde für die geplante Posse versehen hatte. Capi, der ein weißes Fell hatte, trug rotes, der schwarze Zerbino weißes und die grauhaarige Dolce blaues Band.

Das Publikum hatte sich rasch zerstreut, nur einige Leute waren auf ihren Plätzen geblieben und erörterten das, was sich eben begeben hatte.

»Der Alte hat ganz recht.«

»Er hat unrecht.«

»Warum hat der Wächter das Kind geschlagen, das nicht das mindeste gethan oder gesagt hatte?«

»Böse Geschichte das! Der Alte wird nicht ohne Haftstrafe davonkommen, wenn der Wächter den Widerstand nachweist.«

Sehr betrübt und bekümmert kehrte ich in den Gasthof zurück.

Längst war meine anfängliche Furcht vor Vitalis verschwunden, und ich hing mit aufrichtiger, von Tag zu Tag wachsender Zuneigung an ihm. Wir führten ein völlig gemeinschaftliches Leben und waren von morgens bis abends, häufig auch von abends bis morgens, wenn wir auf dem nämlichen Strohbündel schliefen, bei einander, und ein Vater konnte nicht besser für sein Kind sorgen, als er für mich. Er hatte mich lesen, singen, schreiben und rechnen gelehrt, während unsrer langen Wanderungen war er stets damit beschäftigt, mich über den oder jenen Gegenstand zu unterrichten, je nachdem der Zufall ihm Gelegenheit dazu bot. War es sehr kalt gewesen, so hatte er seine Decken mit mir geteilt, war es sehr heiß, mir mein Teil am Gepäck tragen helfen. Bei unsern Mahlzeiten hatte er mir niemals das schlechteste Stück übrig gelassen und das beste für sich behalten, sondern im Gegenteil die guten und die schlechten Stücke gleichmäßig zwischen uns geteilt. Wohl kriegte er mich manchmal etwas derber bei den Ohren oder verabreichte mir eine etwas kräftigere Ohrfeige, als es ein Vater gethan hätte; aber diese kleinen Strafen waren nicht dazu angethan, seine Fürsorge, seine guten Worte, all die Zärtlichkeitsbeweise vergessen zu machen, die er mir seit unsrem Zusammenleben hatte zu teil werden lassen. Er liebte mich, und ich liebte ihn.

Diese Trennung war mir also sehr schmerzlich.

Wann würden wir uns wohl wiedersehen?

Man hatte vom Gefängnis gesprochen – wie lange mußte er wohl darin sitzen?

Was sollte ich unterdessen beginnen? Wie leben und wovon?

Mein Herr hatte die Gewohnheit, all sein Geld bei sich zu tragen, und keine Zeit gehabt, mir etwas zu geben, ehe ihn der Schutzmann fortzog.

Ich hatte nur einige Sous in der Tasche, und die würden wohl kaum hinreichen, uns alle, Herzblatt, die Hunde und mich zu ernähren.

So verbrachte ich zwei angstvolle Tage, während deren ich mich aus dem Hof des Wirtshauses gar nicht hinauswagte und mich nur mit Herzblatt und den Hunden beschäftigte, die alle unruhig und bekümmert waren.

Endlich am dritten Tag brachte mir ein Mann einen Brief von Vitalis, worin mir mein Herr mitteilte, daß man ihn in Untersuchungshaft halte, um ihn am nächsten Sonnabend wegen »Widerstand gegen die Staatsgewalt und Tätlichkeiten gegen den Vertreter derselben« vor das Zuchtpolizeigericht zu stellen.

»Dadurch, daß ich mich vom Zorn hinreißen ließ,« schrieb er, »habe ich einen schweren Fehler begangen, der mir teuer zu stehen kommen kann, aber die Reue nützt nun nichts mehr. Finde Dich zu der Gerichtsverhandlung ein, Du kannst etwas lernen.«

Dann fügte er noch gute Ratschläge für mein Verhalten bei und schloß mit dem Auftrag, Capi, Herzblatt, Dolce und Zerbino einen Kuß von ihm zu geben.

Während ich diesen Brief las, drückte Capi seine Nase auf das Papier und beschnupperte und beroch es, und das Wedeln seines Schwanzes sagte mir, daß er am Geruch erkannte, von wem er komme; seit drei Tagen war es das erste Mal, daß er irgend welche Teilnahme oder Freude an den Tag legte.

Man sagte mir auf meine Erkundigungen, daß die Verhandlung vor dem Zuchtpolizeigericht um zehn Uhr anfange. Sonnabend morgen von neun Uhr an lehnte ich mich an die Thür und war der erste drinnen. Nach und nach füllte sich der Saal und ich erkannte mehrere Personen, die dem Auftritt mit dem Wächter beigewohnt hatten.

Ich wußte nichts von Gerichten und von Gesetzen, aber ich empfand eine entsetzliche, instinktive Angst davor und hatte, obgleich es sich um meinen Herrn und nicht um mich handelte, das Gefühl, als schwebe ich in einer Gefahr, weshalb ich mich hinter einem großen Ofen verbarg und mich so dünn als möglich machte.

Mein Herr kam nicht gleich daran; zuerst wurden Leute abgeurteilt, die gestohlen oder sich geprügelt hatten, die sämtlich ihre Unschuld beteuerten und sämtlich verurteilt wurden.

Endlich saß auch Vitalis zwischen zwei Gendarmen auf der Anklagebank, auf der ihm alle diese Leute vorangegangen waren.

Von dem, was gesprochen, was er gefragt wurde und was er antwortete, weiß ich nichts mehr, denn ich war zu aufgeregt, um richtig zu hören oder verstehen zu können. Uebrigens dachte ich auch nicht ans Hören, weil ich zu viel zu sehen hatte.

Ich betrachtete erst meinen Herrn, der, die dicken, weißen Haare in den Nacken geworfen, in der Haltung eines beschämten, bekümmerten Mannes dastand, und dann besah ich mir auch den Richter.

»Aber Sie geben zu,« sagte dieser, »daß Sie nach dem Wächter, der Sie fortnahm, geschlagen haben?«

»Nur ein einziges Mal, Herr Präsident; als ich auf den Platz kam, auf dem unsre Vorstellung stattfinden sollte, sah ich, wie der Wächter dem Kind, das ich bei mir habe, eine Ohrfeige gab.«

»Es ist nicht Ihr eigener Junge?«

»Nein, Herr Präsident, aber ich liebe ihn, als ob er mein Sohn wäre. Als ich ihn schlagen sah, ließ ich mich vom Zorn hinreißen; ich packte den Polizeidiener an der Hand und machte es ihm unmöglich, noch einmal auszuholen.«

»Sie selbst haben den Wächter geschlagen?«

»Das heißt, als er mich am Kragen faßte, vergaß ich einen Augenblick, wer der Mann war, oder vielmehr, ich sah nur den Mann und nicht den Wächter in ihm und ließ mich von einer unwillkürlichen Bewegung hinreißen.«

»In Ihrem Alter läßt man sich nicht mehr hinreißen.«

»Man sollte sich nicht mehr hinreißen lassen, aber unglücklicherweise thut man nicht alles, was man soll; das kommt mir heute lebhaft zur Empfindung.«

»Wir werden den Wächter vernehmen.«

Dieser berichtete die Ereignisse wahrheitsgemäß, betonte dabei aber mehr, wie man sich über seine Erscheinung, seine Stimme und seine Bewegungen lustig gemacht habe, als den empfangenen Schlag.

Während dieser seine Aussage abgab, sah sich Vitalis, statt aufzumerken, nach allen Seiten um. Ich begriff, daß er mich suchte, und entschloß mich deshalb, mein Versteck zu verlassen, und drängte mich durch die Zuschauer durch bis in die vorderste Reihe.

Er bemerkte mich, und seine traurigen Züge heiterten sich auf; ich fühlte, daß er sich freute, mich zu sehen, und meine Augen füllten sich mit Thränen.

»Das ist alles, was Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen haben?« fragte schließlich der Präsident.

»Für mich selbst habe ich nichts hinzuzufügen, aber um des Knaben willen, den ich liebe, und der ganz allein und verlassen ist ohne mich, rufe ich die Nachsicht des hohen Gerichtshofes an und ersuche ihn, uns so kurz als möglich zu trennen.«

Ich glaubte, man werde meinen Herrn in Freiheit setzen, aber davon war nicht die Rede.

Nun sprach ein andrer Beamter einige Minuten lang, und dann verkündete der Präsident mit ernster Stimme, daß der besagte Vitalis, des Widerstands gegen die Staatsgewalt überführt, zu zwei Monaten Gefängnis und hundert Franken Geldstrafe verurteilt sei.

Zwei Monate Gefängnis!

Zwischen meinen Thränen durch sah ich die Thür, durch die Vitalis eingetreten war, sich wieder öffnen; dieser folgte einem Gendarmen, der ihm voranschritt, und die Thür schloß sich hinter ihm.

Zwei Monate Trennung!

Wohin sollte ich gehen?


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