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Zweiter Teil

Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Vorwärts!

Vorwärts!

Die Welt lag offen vor mir und ich konnte meine Schritte nach Nord oder Süd, nach Ost oder West lenken, wie es mir gerade in den Sinn kam. Obgleich nur ein Kind, war ich doch mein eigner Herr.

Es gibt so viele Kinder, die bei sich denken: »Ach, wenn ich doch thun könnte, was ich wollte; wenn ich erst mein eigner Herr wäre!« und die mit Ungeduld den Tag herbeisehnen, der ihnen die Freiheit gibt – Dummheiten zu machen.

Ich dagegen dachte: »Ach, wenn ich doch jemand hätte, der mich beraten, mich leiten könnte!«

Zwischen mir und jenen Kindern bestand eben ein entsetzlicher Unterschied: machen sie Dummheiten, so steht jemand hinter ihnen, der ihnen die Hand reicht und sie aufhebt, wenn sie gefallen sind – ich dagegen hatte keine Menschenseele um mich, und wenn ich fiel, mußte ich sehen, wie ich mich allein wieder aufrichtete, vorausgesetzt, daß mich der Fall nicht zerschmettert hatte.

Indessen war ich durch all das Unglück, das ich schon erlebt hatte, umsichtiger und klüger geworden, als es Kinder meines Alters gewöhnlich zu sein pflegen – es war dies ein teuer erkaufter Vorteil.

Ehe ich mich wieder in die Welt hinauswagte, wollte ich noch den Mann besuchen, der mir die letzten Jahre ein Vater gewesen war; da mich Tante Katharine nicht mitgenommen hatte, um ihm lebewohl zu sagen, mußte ich eben allein zu ihm zu gelangen suchen. Hatten die Tante und seine Kinder zu ihm gedurft, so mußte dies auch mir gestattet werden, denn ich war ja auch sein Kind gewesen.

Aus Angst vor den Polizeidienern wagte ich nicht, Capi ohne Maulkorb frei durch ganz Paris laufen zu lassen, und band ihn an einen Strick, was den gelehrten, wohlerzogenen Hund aufs tiefste zu verletzen schien. So machten wir uns denn auf den Weg nach Clichy, wo sich, wie ich wußte, das Schuldgefängnis befand.

Es gibt viele traurige, zu düsteren Betrachtungen stimmende Dinge in der Welt, aber ich kenne nichts Häßlicheres und Trübseligeres, als ein Gefängnisthor – es ist noch trauriger als ein Grabstein, denn der Tote, der unter diesem ruht, fühlt nichts mehr, während der Gefangene lebendig begraben ist.

Zögernd blieb ich einen Augenblick vor dem Gefängnis von Clichy stehen, denn es war mir, als würde sich diese greuliche Thür nicht wieder öffnen, nachdem sie sich einmal hinter mir geschlossen hatte.

Daß es schwer sei, aus einem Gefängnis herauszukommen, dachte ich mir wohl, daß es aber auch schwer sei, in eines hineinzukommen, sollte ich jetzt zu meinem Schaden erfahren.

Da ich mich aber durch nichts abschrecken und durchaus nicht unverrichteter Dinge wegschicken ließ, gelangte ich schließlich doch bis zu dem, den ich besuchen wollte.

Man führte mich in ein Sprechzimmer, das meiner Erwartung entgegen weder mit Gitter noch Schranken versehen war, und in das bald auch der Vater eintrat, ohne irgendwie mit Fesseln und Ketten belastet zu sein.

»Ich habe dich erwartet, mein lieber Remi,« sagte er, »und Katharine gezankt, daß sie dich nicht mit den andern Kindern hergebracht hat.«

Seit heute morgen war ich traurig und gedrückt gewesen, aber diese Worte richteten mich wieder auf.

»Frau Katharine hat mich nicht mit sich nehmen wollen.«

»Sie hat es unmöglich gekonnt, mein armer Junge! Ich weiß, daß du gerne gearbeitet hättest, um deinen Unterhalt zu verdienen, aber mein Schwager Suriot hätte dir keine Arbeit geben können, denn er ist Schleusenwärter am Kanal von Nivernais, und Schleusenwärter können keine Gärtner brauchen, wie du wohl weißt. Die Kinder haben mir gesagt, du wollest zu deinem alten Handwerk zurückkehren und wieder wandernder Musikant werden. Hast du denn ganz vergessen, daß du vor unsrer Thür dem Hunger und der Kälte beinahe erlegen wärest?«

»Nein, das habe ich nicht vergessen.«

»Und damals warst du nicht allein, sondern hattest deinen Herrn, der für dich sorgte. Es ist für dein Alter ein ziemlich ernstes Wagestück, so allein auf die Wanderschaft zu gehen.«

»Ich habe ja Capi.«

Wie immer, wenn er seinen Namen hörte, antwortete Capi mit fröhlichem Bellen, als wollte er sagen: »Hier! Wenn ihr mich braucht, so bin ich zur Stelle!«

»Ja, Capi ist ein gutes Tier, aber doch immerhin nur ein Hund. Wie willst du dir dein Brot verdienen?«

»Mit Singen und Capis Komödiespielen.«

»Capi kann doch nicht allein Komödie spielen.«

»Ich werde ihn Kunststücke lehren: gelt, Capi, du lernst alles, was ich will?«

Er drückte die Pfote an sein Herz.

»Kurzum, mein Junge, wenn du klug wärst, so würdest du eine Stelle annehmen, das wäre besser, als dich auf den Landstraßen herumzutreiben, was doch eigentlich nur Faullenzerei ist.«

»Sie wissen, daß ich nicht faul bin, und bei Ihnen hätte ich gerne weitergearbeitet und ich wäre nie von Ihnen fortgegangen, aber zu andern gehe ich nicht in Dienst.«

Wahrscheinlich betonte ich diese Worte in eigentümlicher Weise, denn der Vater sah mich einen Augenblick forschend an.

»Du hast uns erzählt,« sagte er dann, »daß du dich oft über Vitalis' vornehmes Wesen gewundert hast, ehe du wußtest, wer er war, aber weißt du wohl, daß auch du eine Art an dir hast, die darauf hinzuweisen scheint, daß du von Hause aus kein armer Teufel bist. Vielleicht hast du recht, wenn du nicht bei andern dienen willst, und was ich gesagt habe, war nur zu deinem Besten, das kannst du mir glauben. Da ich nicht mehr Vaterstelle bei dir vertreten kann, bist du dein eigener Herr.«

Alles, was Vater Acquin gesagt hatte, bekümmerte mich sehr, denn ich hatte es mir beinahe mit den nämlichen Worten selbst gesagt. Wenn man durchgemacht hat, was ich mit Vitalis und in der Zeit, wo er im Gefängnis saß, durchgemacht und gelitten hatte, so kennt man das Elend und die Gefahren des Vagabundenlebens zur Genüge, aber wenn ich auf dies Leben verzichtete, so blieb mir nur noch der eine Ausweg, eine Stelle anzunehmen, und dies nicht zu wollen, war nun einmal meine fixe Idee.

Aber selbst wenn ich meinen Widerwillen gegen das Dienen bei einem neuen Herrn hätte überwinden wollen, so konnte ich doch auf das freie Wanderleben nicht verzichten, ohne mein den Geschwistern gegebenes Wort zu brechen, das heißt, ohne sie im Stich zu lassen. Etiennette, Alexis und Benjamin hätten mich entbehren können, denn sie vermochten sich ja zu schreiben, aber Lieschen! Lieschen konnte nicht schreiben, und Tante Katharine ebensowenig. Lieschen blieb also vereinsamt und verlassen, wenn ich sie verließ, und was mußte sie dann von mir denken? Nur das eine, daß ich sie nicht mehr liebte, – sie, die mir so viel Liebe und Freundschaft gezeigt, sie, die mich so glücklich gemacht hatte. Nein, das war unmöglich.

»So wollen Sie also nicht, daß ich Ihnen Nachricht von Ihren Kindern bringe?« fragte ich.

»Auch davon haben sie gesprochen, aber ich habe nicht an uns gedacht, wenn ich dir riet, nicht das Leben eines Straßenmusikanten zu führen; man muß immer erst an andere und dann an sich denken.«

»Eben deshalb, Vater! Sie selbst zeigen mir ja, was ich zu thun habe! Wollte ich aus Angst vor Gefahr dem Versprechen untreu werden, das ich gegeben habe, so würde ich nur an mich und nicht an Sie und Lieschen denken.«

Wiederum betrachtete er mich eine Weile still, dann ergriff er meine beiden Hände und sagte: »Komm, Junge, für dies Wort muß ich dir einen Kuß geben, du hast das Herz am rechten Fleck und bist ein wackerer kleiner Kerl!«

Wir saßen nebeneinander auf einer Bank und befanden uns ganz allein in dem Sprechzimmer; ich warf mich ihm an den Hals und war ebenso gerührt als stolz darüber, daß er sagte, ich sei wacker.

»Gott behüte und beschütze dich, mein lieber Junge!«

Stumm und eng verschlungen blieben wir lange nebeneinander stehen, aber die Zeit enteilte, und wir mußten uns trennen.

Plötzlich zog der Vater eine große silberne Uhr aus der Westentasche und machte den schmalen Lederriemen, woran sie befestigt war, aus dem Knopfloch los.

»Man soll nicht sagen können, ich habe dir nicht einmal ein Andenken mit auf den Weg gegeben. Nimm diese Uhr – sie hat keinen großen Wert, – sonst wäre sie ja längst verkauft worden, und geht auch nicht mehr ganz gut, so daß man sie manchmal gehörig schütteln muß, aber jedenfalls ist sie im Augenblick mein einziger Besitz, und deshalb schenke ich sie dir.«

Ich glaube, daß er mich darauf an der Hand nahm und zur Thüre führte, aber ich war so ergriffen, daß ich nicht mehr weiß, was sonst noch vorging, und mich nur noch des Gefühls von Bestürzung und von Betäubung erinnere, mit dem ich mich plötzlich wieder auf der Straße befand.

Ich glaube, ich stand lange, sehr lange vor dem Gefängnis, ohne mich entschließen zu können, meine Schritte zur Rechten oder zur Linken zu lenken, und wäre vielleicht bis in die Nacht hinein so stehen geblieben, wenn nicht meine Hand plötzlich einen runden Gegenstand in meiner Tasche gefühlt hätte.

Mechanisch stammelte ich: »Meine Uhr!«

Kummer, Sorgen, Angst – alles war vergessen, und ich dachte nur noch an meine Uhr. Ich hatte eine Uhr, eine eigene Uhr in der Tasche und konnte auf ihr sehen, welche Zeit es war! Rasch zog ich sie aus der Tasche: zwölf Uhr. Das hatte nicht die geringste Bedeutung für mich, aber trotzdem war ich ganz glücklich, daß es zwölf Uhr war. Warum? Das hätte ich nicht zu sagen gewußt, aber es war so. Also zwölf Uhr, schon zwölf Uhr! Ich wußte es, und meine Uhr, die mir plötzlich eine Art vertraute Ratgeberin geworden zu sein schien, hatte es mir gesagt.

»Meine Uhr!« Wie hübsch diese zwei Wörtchen klangen. Schon lange war eine Uhr mein sehnlichster Wunsch gewesen, und immer hatte ich mir wieder zu beweisen gesucht, daß es für mich ein Ding der Unmöglichkeit sei, je in den Besitz einer solchen zu gelangen. Und nun befand sich doch eine Uhr in meiner Tasche und machte immer Ticktack.

Was lag mir daran, daß sie, wie der Vater sagte, nicht mehr richtig ging – ich konnte sie ja gehörig schütteln, und falls dies nicht genügte, wollte ich sie selbst auseinandernehmen und sehen, wo's fehlte.

Ich war so überwältigt von meiner Freude, daß ich erst gar nicht bemerkte, wie fröhlich Capi sich gebärdete, bis mich endlich sein immer lauter werdendes Bellen aus meinen Träumen riß.

»Was willst du, Capi?«

Er blickte mich an, und da ich noch zu verwirrt war, um ihn gleich zu verstehen, richtete er sich an mir auf und klopfte mit der Pfote auf die Tasche, in der sich die Uhr befand. Er wollte sehen, wieviel Uhr es sei, um es dem »verehrlichen Publikum« mitzuteilen, wie einstens, als er noch mit Vitalis arbeitete.

Ich zeigte sie ihm: er schaute sie lange an, als ob er sich besinnen müsse, dann aber wedelte er vergnügt mit dem Schwanz und bellte zwölfmal; er hatte es nicht verlernt! Ach, wieviel Geld konnten wir nun mit unsrer Uhr verdienen! Das war ja ein weiteres Kunststück, mit dem ich nicht gerechnet hatte.

Da sich dies alles dem Gefängnis gegenüber abspielte, betrachteten uns die Leute neugierig, und einige blieben sogar stehen. Wäre nicht meine Angst vor den Polizeidienern gewesen, so hätten wir gleich hier unsre erste Vorstellung geben können, so aber warf ich meinen letzten Abschiedsblick auf das Gefängnis, hinter dessen Mauern der arme Vater gefangen saß, während ich nur allzufrei gehen konnte, wohin ich wollte, und dann machten wir uns auf den Weg.

Vorwärts!

Da mir für mein Vorhaben nichts so nötig war, als eine Karte von Frankreich, lenkte ich meine Schritte zu allererst nach einem der Quais, wo derartige Dinge verkauft wurden, und fand nach langem Umherstöbern eine aufgezogene, zusammenlegbare Karte, wie ich sie wünschte, und die ich, weil sie sehr vergilbt war, um fünfundsiebzig Centimes erhielt.

Nun hielt mich nichts mehr in Paris zurück, und ich beschloß auch, es schleunigst zu verlassen.

Da es mir ganz einerlei war, wohin ich ging, schlug ich aufs Geratewohl den Weg nach Fontainebleau ein, der mich durch die Rue Mouffetard führte. Welch eine Fülle von Erinnerungen rief dieser Name in mir wach! Garofoli, Mattia, Riccardo, den Fleischtopf mit dem Vorlegschloß, die Lederpeitsche und vor allem Vitalis, meinen guten, armen Herrn, der lieber gestorben war, als daß er mich an den »Padrone« in der Rue de Lourcine vermietet hätte. Plötzlich glaubte ich an der St. Medarduskirche in einem an die Kirchenmauer gelehnten Knaben den kleinen Mattia zu erkennen – das war sein dicker Kopf mit den feuchten Augen, dem sprechenden Mund, dem sanften, geduldigen Gesichtsausdruck und der komischen Haltung, nur schien er in all der Zeit gar nicht gewachsen zu sein.

Ich trat näher, um ihn besser betrachten zu können – er war es wirklich und schien mich sofort zu erkennen, denn ein Lächeln huschte über sein bleiches Gesicht.

»Gelt, du bist doch der Junge, der den Tag, ehe ich ins Krankenhaus geschafft wurde, mit einem alten, graubärtigen Mann zu Garofoli gekommen ist. Ach Gott, was hat mir den Tag mein Kopf wehgethan!«

»Ist Garofoli noch immer dein Herr?«

Ehe er antwortete, blickte er sich vorsichtig um, dann sagte er leise: »Garofoli ist im Gefängnis; man hat ihn festgenommen, weil er Orlando so geschlagen hat, daß er gestorben ist.«

Es freute mich, Garofoli im Gefängnis zu wissen, und zum erstenmal dämmerte mir der Gedanke auf, diese Anstalten, die mir ein solches Entsetzen einflößten, könnten unter Umständen doch auch zu etwas gut sein.

»Und die Kinder?« fragte ich weiter.

»Von denen weiß ich nichts, weil ich nicht da war, als Garofoli abgeführt wurde. Als ich aus dem Spital kam, sah Garofoli, daß man mich nicht mehr schlagen konnte, ohne daß ich krank wurde, und suchte mich deshalb loszuwerden: er vermietete mich gegen Vorausbezahlung auf zwei Jahre an den Cirkus Gassot, wo man zu allerlei Gliederverrenkungen und Kunststücken ein Kind brauchte. Bis letzten Montag war ich dort, da hat mich aber Vater Gassot entlassen, weil mein Kopf zu dick und zu empfindlich geworden ist. Als ich von Gisors aus, wo der Cirkus jetzt ist, zu Garofoli zurückkam, war das Haus geschlossen, und ein Nachbar erzählte mir, was ich dir eben sagte, daß Garofoli im Gefängnis sitze.

Nun stehe ich hier und weiß nicht, wohin ich gehen, was ich anfangen soll.«

»Warum bist du denn nicht nach Gisors zurückgegangen?«

»Weil der Cirkus an dem Tag, wo ich mich zu Fuß nach Paris aufmachte, nach Rouen abgegangen ist, und wie sollte ich bis Rouen kommen? Das ist weit, und ich habe kein Geld und seit gestern mittag keinen Bissen gegessen.«

Wenn ich auch arm war, so hatte ich doch noch so viel, daß ich den armen Knaben nicht konnte Hungers sterben lassen – wie hätte ich alle Segenswünsche des Himmels auf den herabgewünscht, der mir ein Stück Brot geschenkt hätte, als ich, so ausgehungert wie Mattia jetzt, in der Umgegend von Toulouse herumirrte.

»Warte hier,« sagte ich rasch und lief in einen Bäckerladen an der Straßenecke: bald war ich mit einem großen Stück Brot zurück, das er gierig verschlang.

»Und was willst du jetzt thun?«

»Das weiß ich nicht.«

»Du mußt aber doch irgend etwas unternehmen.«

»Ich dachte eben daran, meine Geige zu verkaufen, als du zu mir herkamst, und wahrscheinlich hätte ich sie auch schon verkauft, wenn es mir nicht so weh thäte, mich von ihr zu trennen. Sie ist meine einzige Freude und mein einziger Trost, und wenn ich allzu betrübt bin, suche ich mir einen einsamen Winkel und spiele mir was; dann sehe ich wunderschöne Sachen im Himmel, noch viel schöner als im Traum.«

»Aber warum geigst du dann nicht auf den Straßen?«

»Ich habe gespielt, aber niemand hat mir was gegeben.«

Ich wußte, was das hieß!

»Und was treibst denn du jetzt?« fragte nun Mattia seinerseits.

Gott weiß, was für ein Geist kindischer Prahlhanserei mich plötzlich beseelt haben mag, aber ich erwiderte großartig: »Ich bin das Haupt einer Truppe geworden.«

Schließlich war dies ja richtig, da ich über eine aus Capi bestehende Truppe verfügte, aber immerhin war diese Wahrheit doch ziemlich, doppelzüngig.

»Ach, wenn du wolltest!« sagte Mattia.

»Was?«

»Mich in deine Truppe aufnehmen.«

Nun gewann die Ehrlichkeit wieder die Oberhand über mich. »Das ist ja meine ganze Truppe,« sagte ich und deutete auf Capi.

»Nun, was thut das – dann sind wir zu zwei. Ach, ich bitte dich, laß mich nicht im Stich! Was soll denn aus mir werden? Ich muß Hungers sterben.«

Hungers sterben! Nicht für alle hat dieser Schmerzensschrei die nämliche Bedeutung, mir aber klang er im Herzen nach – ich wußte ja, was es hieß, Hungers zu sterben.

»Ich kann arbeiten,« fuhr Mattia fort, »ich kann geigen, meine Glieder verrenken, auf dem Seil tanzen, durch Reifen springen und singen; du wirst sehen, ich thue alles, was du willst, ich werde dein Diener sein und dir gehorchen und ich verlange kein Geld, nur Nahrung von dir; wenn ich etwas schlecht mache, darfst du mich auch schlagen, das soll ausgemacht sein; nur möchte ich dich bitten, daß du mich nicht auf den Kopf schlägst, denn mein Kopf ist arg empfindlich geworden, seit Garofoli mich so oft darauf geschlagen hat.«

Als ich den armen Mattia so sprechen hörte, hätte ich weinen mögen. Wie sollte ich ihm sagen, daß ich ihn nicht in meine Truppe aufnehmen wolle? Hungers sterben! Ach Gott, aber lief er diese Gefahr mit mir nicht ebensogut, wie allein?

Das gerade wollte er aber nicht einsehen.

»Nein,« entgegnete er auf meine Einwände, »zu zweien verhungert man nicht, weil man sich gegenseitig hilft und unterstützt – der, der hat, gibt dem, der nichts hat.«

Dies Wort machte meinem Zögern ein Ende: da ich hatte, mußte ich geben.

»Also abgemacht!« rief ich.

Sofort ergriff er meine Hand und küßte sie, und das rührte mich bis zu Thränen.

»Komm mit mir,« sagte ich, »aber nicht als mein Diener, sondern als mein Kamerad.«

Ich schob das Tragband meiner Harfe zurecht, rief: »Vorwärts!« und eine Viertelstunde später hatten wir Paris im Rücken.

Der scharfe Märzwind hatte die Landstraße getrocknet, und es ging sich leicht auf dem festen Boden.

Die Luft war mild und die Aprilsonne leuchtete an einem Himmel von wolkenlosem Blau – welcher Unterschied zwischen diesem und dem wüsten Schneewetter, bei dem ich Paris, nach dem ich mich gesehnt hatte, wie die Israeliten nach dem gelobten Land, zum erstenmal betreten hatte.

Die Straßengräben entlang fing das frische Gras an zu sprießen, ab und zu war es schon mit den silberschimmernden Sternchen der Gänseblumen und Erdbeerblüten durchwirkt, die ihre Blütenkelche der Sonne zuwandten.

Wanderten wir an Gärten entlang, so sahen wir die duftigen Blütendolden des Flieder rötlich aus dem zarten Grün des Laubwerks hervorschimmern, und wenn ein leichter Lufthauch leise die ruhige Luft bewegte, so streuten uns die Gelbveilchen über die Abdeckungen der alten Mauern ihre Blütenblätter auf den Kopf.

In den Gärten, in den Sträuchern am Weg und in den großen Bäumen, allüberall zwitscherten lustige Vögel ihr fröhliches Lied, und vor uns huschten die Schwalben auf der Jagd nach unsichtbaren Mückchen dicht über die Erde hin.

Der Beginn unsrer Reise war vielversprechend, und vertrauensvoll schritt ich aus auf der dröhnenden Landstraße. Capi, seines Strickes ledig, sprang um uns her, bellte Wagen und Steinhaufen, alles und jedes für nichts und wieder nichts an, lediglich aus Freude am Bellen. Dagegen ging Mattia still und schweigsam an meiner Seite und schien nachzudenken; ich schwieg, teils, weil ich ihn in seinen Gedanken nicht stören wollte, teils, weil ich selbst mancherlei zu überlegen hatte.

Wohin gingen wir denn in diesem festen, entschlossenen Schritte?

Wohl hatte ich Lieschen versprochen, ihre Geschwister zu besuchen, ehe ich zu ihr käme, aber ich hatte mich in betreff der Reihenfolge meiner Besuche nicht gebunden und konnte anfangen, bei wem ich wollte, das heißt, ich hatte die Wahl zwischen den Cevennen, der Charente und der Picardie.

Da ich mich von Paris südlich gewendet hatte, konnte mein erster Besuch keinenfalls Benjamin gelten, aber zwischen Alexis und Etiennette blieb mir die Wahl.

Eigentlich hatte aber der Wunsch, Mutter Barberin wiederzusehen, meine Schritte südlich gelenkt, denn wenn ich auch lange nicht mehr von ihr gesprochen habe, so hatte ich sie deshalb doch nicht vergessen. Auch daraus, daß ich ihr all die Zeit her nicht geschrieben hatte, darf man nicht schließen, daß ich undankbar gewesen sei, denn gar manchmal war ich drauf und dran, ihr zu schreiben, und nur die Angst, durch meinen Brief könnte Barberin mir auf die Spur kommen, sich meiner bemächtigen und mich an einen andern Herrn, der dann wohl kein zweiter Vitalis war, verkaufen, ließ mich immer wieder davon abstehen.

Hatte ich aber aus diesen Gründen nicht an Mutter Barberin zu schreiben gewagt, so konnte ich doch nun versuchen, sie zu sehen, und das um so leichter, als ich jetzt Mattia bei mir hatte, den ich vorausschicken konnte, während ich mich vorsichtig zurückhalten wollte. Mattia sollte zu Mutter Barberin ins Haus gehen, sie unter irgend einem Vorwand zum Schwatzen bringen, ihr aber nur, falls er sie allein traf, die ganze Wahrheit erzählen und mich holen. Dann konnte ich wieder einmal das Haus betreten, in dem ich meine Kindheit verlebt hatte, und meiner Pflegemutter um den Hals fallen; befand sich dagegen ihr Mann in der Nähe, so sollte er Mutter Barberin bitten, sich an einen näher zu bezeichnenden Ort zu begeben, und dann konnte ich sie da umarmen.

Dies war der Plan, den ich mir im Gehen schmiedete, aber selbstverständlich handelte es sich nicht nur darum, zu erwägen, ob und wie ich Mutter Barberin sehen konnte, sondern ich mußte vor allem zu ergründen suchen, ob der Weg zu ihr auch durch Dörfer und Städte führte, die uns eine Einnahme in Aussicht stellten. Dafür war die Karte gut, und da wir uns gerade auf freiem Feld befanden und keine Störung zu befürchten hatten, setzten wir uns auf einen Haufen Kieselsteine und ich breitete die Karte vor uns im Gras aus.

Es dauerte schrecklich lange, bis ich mich zurechtgefunden hatte, schließlich gelang es mir aber doch, meinen Reiseplan festzustellen und mich davon zu überzeugen, daß wir, wenn uns das Glück nur ein wenig begünstigte, unterwegs nicht notwendig Hungers zu sterben brauchten.

»Was ist denn das für ein Ding?« fragte Mattia und wies auf die Karte, worauf ich ihm des Langen und Breiten erklärte, was eine Karte sei – beinahe mit den nämlichen Ausdrücken, die Vitalis bei meiner ersten Geographiestunde gebraucht hatte.

Aufmerksam hörte er mir zu und sagte schließlich: »Ja, dann muß man aber lesen können.«

»Gewiß, kannst du nicht lesen?«

»Nein.«

»Möchtest du's lernen?«

»O ja, sehr gerne.«

»Dann will ich dich's lehren.«

»Kann man auf der Karte den Weg von Gisors nach Paris sehen?«

»Freilich! Nichts leichter als das.«

Damit zeigte ich ihm den Weg mit dem Finger, aber anfangs wollte er mir nicht glauben.

»Ich habe den Weg zu Fuß gemacht,« sagte er, »und er ist viel weiter.«

Nun suchte ich ihm so gut ich konnte – also nicht sehr deutlich – zu erklären, wie man die Entfernungen auf einer Karte wiedergibt; er hörte mich an, schien aber von der Unfehlbarkeit meiner wissenschaftlichen Erläuterungen keineswegs überzeugt zu sein.

Da mein Ranzen nun einmal geöffnet war, kam mir der Gedanke, seinen Inhalt zu mustern – nebenbei gewährte es mir eine gewisse Genugthuung, Mattia meine Reichtümer zu zeigen – und nun breitete ich alles auf dem Grase aus.

Ich war glücklicher Besitzer von drei Hemden, drei Paar Strümpfen, fünf Taschentüchern – alles dies in tadellosem Zustand – und von einem Paar etwas abgetragener Schuhe.

Mattia war ganz geblendet.

»Und was hast du?« fragte ich ihn.

»Ich habe meine Geige und was ich auf dem Leibe trage.«

»Nun,« entgegnete ich, »wir teilen, wie es sich unter Kameraden gehört, und du bekommst zwei Hemden, zwei Paar Strümpfe und drei Taschentücher, aber du mußt auch den Ranzen abwechselnd mit mir tragen, weil es nicht mehr als billig ist, daß auch das Tragen geteilt wird.«

Mattia wollte ablehnen, aber ich hatte schon die mir sehr lieblich dünkende Gewohnheit des Befehlens angenommen und verbot Mattia den Mund.

Aus meinen Hemden hatte ich auch das Nähetui Etiennettes und ein kleines Schächtelchen ausgepackt, das die Rosenknospe Lieschens enthielt. Er wollte es öffnen, aber ich gestattete dies nicht und schob es schnell wieder in den Ranzen.

»Wenn du mir einen Gefallen thun willst,« sagte ich, »so machst du das Schächtelchen niemals auf, denn es enthält ein Geschenk.«

»Gut,« sagte er, »ich verspreche dir, es nie zu berühren.«

Seit ich meinen Schafpelz wieder angethan und meine Harfe wieder um die Schulter gehängt hatte, waren meine Beinkleider eine große Belästigung für mich. Ein Gärtner konnte lange Hosen tragen, aber nun war ich wieder Künstler geworden, und ein Künstler konnte nur mit Kniehosen und langen, von bunten Bändern umwundenen Strümpfen vor dem Publikum erscheinen.

Wenn man einen derartigen Einfall hat und Herr seines Willens ist, so pflegt man mit der Ausführung nicht lange zu zögern. Folglich öffnete ich das Nähetui Etiennettes und nahm ihre Schere zur Hand.

»Während ich meine Hosen zurechtmache,« sagte ich zu Mattia, »kannst du mich einmal hören lassen, wie du Geige spielst.«

»Gerne.«

Damit nahm er seine Geige und fing an zu spielen, während ich mutig die Spitze meiner Schere oberhalb des Knies in das Tuch einbohrte und anfing draufloszuschneiden, ohne zu denken, daß ich die Beinkleider, über die ich mich so sehr gefreut hatte, als Vater Peter sie mir nebst dazu passender Weste und Jacke schenkte, zu Grunde richte – ganz im Gegenteil.

Anfangs hatte ich Mattia zugehört und dazu an meiner Hose herumgeschnipfelt, bald aber ließ ich die Schere ruhen und war ganz Ohr, denn Mattia spielte beinahe so gut als Vitalis.

»Wer hat dich denn das Geigenspielen gelehrt?« fragte ich und klatschte ihm lebhaft Beifall.

»Niemand, ich habe jedermann ein bißchen was abgelernt, am weitesten bin ich aber durch fleißiges Ueben gekommen.«

»Und wer hat dich die Noten gelehrt?«

»Die kenne ich nicht, ich spiele nur nach dem Gehör.«

»So werde ich sie dich lehren.«

»Kannst du denn alles?«

»Ich muß wohl – als Direktor einer Gesellschaft.«

Man ist nicht umsonst Künstler – man hat auch sein bißchen Eigenliebe, und nun wollte ich Mattia zeigen, daß ich ebenfalls ein bedeutender Musiker sei.

Ich nahm meine Harfe zur Hand und sang, um ihn auf den ersten Streich zu überwältigen, mein berühmtes Lied:

»Fenesta vascia e patrona crudele«.

Wie es sich unter Künstlern ziemt, gab mir nun Mattia die ihm gezollten Lobsprüche zurück; er war ein bedeutendes Talent, ich war ein bedeutendes Talent, wir waren einander wert.

Leider konnten wir aber nicht hier sitzen bleiben und uns gegenseitig lobhudeln, sondern mußten nun, nachdem wir zu unsrem Vergnügen musiziert hatten, daran denken, um ein Abendessen und Nachtlager zu spielen.

Ich schnallte meinen Ranzen zu, und Mattia nahm ihn nun für eine Weile auf den Rücken.

Vorwärts auf der staubigen Landstraße! Aber im ersten Dorf, durch das wir kamen, mußte Halt gemacht und die erste Vorstellung der »Gesellschaft Remi« gegeben werden.

»Lehre mich dein Lied,« bat Mattia unterwegs, »du sollst sehen, wie hübsch es klingt, wenn ich dich auf der Geige begleiten kann, was nicht lange dauern wird.«

»Gewiß würde das sehr hübsch klingen und das ›verehrliche Publikum‹ müßte ja ein Herz von Stein haben, wenn es uns nicht mit großen Soustücken überschüttete.«

Dies Unglück blieb uns erspart, denn gar bald kamen wir an einem Bauernhof vorüber, dessen Hof voll sonntäglich geputzter Menschen war, die alle mit bunten Bändern umwundene Sträuße trugen – die Frauen am Busen, die Männer im Knopfloch. Man brauchte nicht übermäßig schlau zu sein, um zu vermuten, daß hier eine Hochzeit gefeiert würde.

Nun kam mir der Gedanke, daß diese Leute vielleicht froh wären, wenn wir ihnen zum Tanz aufspielten, und trat, von Mattia und Capi gefolgt, in den Hof. Den Filzhut in der Hand, machte ich dem ersten, der mir begegnete, eine würdevolle, tiefe Verbeugung, wie ich sie bei Vitalis gesehen hatte, und trug ihm mein Anliegen vor.

Es war dies ein dicker Bursche mit einem ziegelroten, gutmütigen Gesicht, das in einem hohen, steifen Kragen steckte. Statt aller Antwort drehte er sich nach der Hochzeitsgesellschaft um, steckte zwei Finger in den Mund und brachte vermittels dieses Instrumentes einen so gellenden Pfiff hervor, daß Capi ganz erschrocken zusammenfuhr.

»Heda, Leute!« rief er. »Wie wär's mit einem Tänzchen? Da kommen eben die Musikanten!«

»Bravo! Musik! Musik!« riefen Männer- und Weiberstimmen durcheinander.

»Platz für den Konter!«

Wenige Minuten später hatten sich die tanzenden Paare im Hof aufgestellt und das erschreckte Hühnervolk in die Flucht gejagt.

»Hast du schon Quadrillen gespielt?« fragte ich Mattia ziemlich besorgt auf italienisch.

»Ja.«

Sofort gab er mir auf der Geige eine an, die ich zufällig auch kannte, und wir waren gerettet.

Aus einem Schuppen war ein Karren gezogen worden, auf den wir klettern mußten.

Obgleich Mattia und ich noch nie zusammengespielt hatten, machten wir unsre Sache gar nicht so übel, allerdings spielten wir nicht für sehr feine oder anspruchsvolle Ohren.

»Spielt vielleicht einer von euch auch das Klapphorn?« fragte uns der junge Mensch mit dem dicken, roten Gesicht.

»Ja, ich,« erwiderte Mattia, »aber ich habe keins.«

»Ich will dir eins holen – es klingt viel lustiger, als die Geige.«

»Was, auch das Klapphorn spielst du?« fragte ich Mattia, immer auf italienisch.

»Und die Trompete und die Flöte und so ziemlich alles, was man spielen kann.«

Mattia war unbezahlbar, das war klar.

Bald wurde das Klapphorn gebracht, und wir spielten Quadrillen, Polkas und Walzer, hauptsächlich aber Quadrillen bis in die Nacht hinein, ohne daß uns die Tänzer auch nur einen Augenblick hätten ausschnaufen lassen. Für mich war die Sache nicht so schlimm, aber Mattia, dem bei weitem der anstrengendste Teil unsrer Aufgabe zufiel und der von seiner Reise und den ausgestandenen Entbehrungen ohnehin erschöpft war, erbleichte ab und zu so sehr, daß ich fürchtete, er könne ohnmächtig werden.

Glücklicherweise bemerkte dies auch die Braut und sagte: »Nun ist's genug; der Kleine kann nicht mehr! Nun heißt's Geld herausrücken für die Musikanten!«

»Wenn Sie gestatten,« sagte ich, während ich von dem Wagen zur Erde herabsprang, »möchte ich durch unsren Kassierer einsammeln lassen.«

Damit warf ich Capi meinen Hut hin, und dieser nahm ihn in die Schnauze. Er erntete gar viel Beifall für die Anmut, mit der er sich verbeugte, wenn man ihm etwas gegeben hatte, und – was für uns die Hauptsache war – die Gaben flossen ihm reichlich zu. Ich folgte ihm mit den Augen und sah wie die Silberstücke in den Hut fielen – das letzte, ein Fünffrankenthaler, wurde vom Bräutigam hineingeworfen.

Welches Glück! Aber das war noch nicht alles! Nun lud man uns auch zum Essen ein und wies uns ein Nachtlager in der Scheune an. Als wir am andern Morgen das Haus verließen, sahen wir uns im Besitz eines Vermögens von achtundzwanzig Franken.

»Das verdanken wir dir, lieber Mattia,« sagte ich zu meinem Kameraden, »allein hätte ich keine Kapelle veranstalten können.«

Dabei fiel mir ein, was Vater Peter gesagt hatte, als ich anfing, Lieschen Stunden zu geben; ich sah ein, daß eine gute That immer ihren Lohn in sich trägt, und sagte wie Vater Acquin: »Ich hätte leicht einen dümmeren Streich machen können, als dich in meine Truppe aufnehmen.«

Mit achtundzwanzig Franken in der Tasche waren wir reiche Herren, und ich konnte, ohne allzu leichtsinnig zu sein, in Corbeil einige Sachen anschaffen, die ich für unumgänglich notwendig hielt. In erster Linie erstand ich bei einem Trödler ein Klapphorn für Mattia, das um den Preis von drei Franken zwar weder neu noch schön war, aber wenn man es ein wenig ausbeulte und blank putzte, immerhin für unsern Zweck genügte; ferner rote Bänder für unsre Strümpfe, und schließlich noch einen alten Tornister für Mattia, denn es war für uns beide weniger ermüdend, ständig einen leichten Ranzen, als von Zeit zu Zeit einen schweren zu tragen.

Als wir Corbeil verließen, waren wir wirklich gut ausgestattet und hatten, nachdem alles bezahlt war, noch dreißig Franken im Beutel, denn unsre Vorstellungen waren einträglich gewesen. Unser Repertoire hatten wir derart eingeteilt, daß wir mehrere Tage am nämlichen Ort bleiben konnten, ohne uns zu wiederholen, und außerdem vertrugen Mattia und ich uns aufs beste, so daß wir schon jetzt wie zwei Brüder miteinander standen.

»Du, 's ist doch was Nettes um einen Gesellschaftsdirektor wie du, der einen nicht prügelt,« konnte er wohl lachend sagen.

»Also bist du zufrieden?«

»Na, ob ich zufrieden bin! Zum erstenmal in meinem Leben, seit ich von zu Hause fort bin, sehne ich mich nicht nach dem Spital.«

Diese außerordentlich günstige Lage der Dinge erweckte ehrgeizige Gedanken in mir.

Von Corbeil aus hatten wir den Weg nach Montargis eingeschlagen, um uns zu Mutter Barberin zu begeben. Wie wär's, wenn ich ihr etwas mitbrächte? Nun, da ich reich war, mußte ich ihr eigentlich doch ein Geschenk machen, denn bloß hingehen und sie umarmen, hieß mich meiner Dankesschuld doch allzu wohlfeil entledigen.

Vor allem andern wußte ich etwas, das ihr nicht nur für den Augenblick, sondern für den ganzen Rest ihres Lebens Freude machen würde, und das war – eine Kuh, ein Ersatz für die arme »Rote«.

Welche Freude wäre das für Mutter Barberin und auch für mich! Ich malte mir die Sache so aus: Ehe wir nach Chavanon kamen, kauften wir eine Kuh, und Mattia führte sie an der Leine in Mutter Barberins Hof – selbstverständlich war ihr Mann nicht da – »Frau Barberin,« sagte Mattia, »da bringe ich Euch eine Kuh.« Sie seufzte und sagte: »Eine Kuh! Du irrst dich, du bist fehlgegangen, mein Junge!« – »Nein, ganz gewiß nicht. Ihr seid doch Frau Barberin von Chavanon? Nun, seht Ihr wohl – und der Prinz (ganz wie in den Feenmärchen!) hat mir befohlen, diese Kuh, die er Euch schenkt, zu Frau Barberin zu führen.« – »Der Prinz! Welcher Prinz?« Dann erschien ich und fiel ihr um den Hals, und nachdem wir uns hinlänglich geherzt und geküßt hatten, wurden Fastnachtküchlein und Aepfelkrapfen gebacken, die aber von uns Dreien verspeist wurden, und nicht von Barberin, wie an jenem Fastnachtabend, an dem er zurückgekommen war, um uns unsre Pfanne umzuleeren und unsre Butter an seine Zwiebelsuppe zu thun.

Ach welch schöner Traum! Aber um ihn zu verwirklichen, mußte man auch eine Kuh kaufen können!

Was mochte wohl eine Kuh kosten? Ich hatte keine Ahnung davon, aber jedenfalls Geld, viel Geld!

Ich wollte weder eine sehr große, noch eine sehr fette Kuh, denn je fetter eine Kuh ist, desto höher steht sie auch im Preis, und je größer eine Kuh ist, desto mehr Futter braucht sie, und ich wollte nicht, daß für Mutter Barberin aus meinem Geschenk Verlegenheiten erwachsen würden.

Die Hauptsache war jedenfalls, einmal zu erfahren, was eine Kuh, wie ich sie wünschte, etwa kosten konnte, und das wurde mir glücklicherweise nicht schwer, da wir sowohl auf den Landstraßen, als auch des Abends in den Herbergen oft mit Fuhrleuten und Viehhändlern zusammentrafen. Es schien mir also äußerst einfach, einen solchen nach dem Preis einer Kuh zu fragen.

Aber gleich das erste Mal, wo ich mich mit meiner Frage an einen Ochsentreiber wendete, dessen biederes Aussehen mir Vertrauen eingeflößt hatte, wurde ich nur ausgelacht.

Der Ochsentreiber wollte sich halb totlachen, schlug mit den Fäusten auf den Tisch und rief schließlich den Wirt.

»Hören Sie nur, was mich der kleine Musikant da fragt? Er will wissen, was eine mittelgroße und nicht allzu fette Kuh kostet! Muß sie auch abgerichtet sein und sich wie dein Hund an der Leine durch das Land führen lassen?«

»Sie muß gute Milch geben und darf nicht zu viel Futter brauchen,« entgegnete ich.

Nachdem er all seinen Witz erschöpft und seinen Geist zur Genüge hatte leuchten lassen, geruhte er, mir ernsthaft zu antworten und sogar Unterhandlungen mit mir anzuknüpfen. Er habe gerade, was ich brauche, sagte er, eine gute, sanfte Kuh, die viel Milch gebe, eine Milch wie eitel Sahne, und dabei fast gar nichts fresse, und wenn ich ihm fünfzehn Pistolen, das heißt fünfzig Thaler bar auf den Tisch hinzahle, so sei die Kuh mein.

So schwer ich ihn anfangs zum Reden gebracht hatte, soviel Mühe kostete es jetzt, wo er im Zuge war, ihn wieder zum Schweigen zu bringen. Endlich kamen wir aber doch von ihm los und konnten unser Nachtlager aufsuchen, und nun überlegte ich mir, was ich gehört hatte.

Fünfzehn Pistolen oder hundertfünfzig Franken, das war eine große Summe, die ich entfernt nicht besaß.

War es möglich, sie zu verdienen? Das glaubte ich allerdings und ich wollte diese hundertundfünfzig Franken Sou um Sou zusammensparen. Nur würde viel Zeit darüber hingehen.

Wenn wir nun statt geradenwegs nach Chavanon zu gehen, uns zuerst nach Varses begaben, so gewannen wir diese Zeit, konnten vielleicht die hundertundfünfzig Franken zusammenbringen und dann mein Zaubermärchen: »Die Kuh des Prinzen« in Scene setzen.

Am nächsten Morgen teilte ich meinen neuen Plan auch Mattia mit, und dieser erhob keinen Widerspruch.

»Jawohl,« sagte er, »mir ist's recht, wenn wir nach Varses gehen – so ein Bergwerk muß was Merkwürdiges sein, und ich hätte schon lange gern eines gesehen.«


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