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Zweiunddreißigstes Kapitel.
Barberin

Hätte es mich nicht so gedrängt, nach Paris zu kommen, so wäre ich lange, sehr lange bei Lieschen geblieben, denn wir hatten uns gar so viel zu sagen, und das ging so langsam in der Sprache, deren wir uns bedienen mußten.

Lieschen berichtete mir von ihrer Übersiedelung nach Dreuzy und erzählte, daß ihr Onkel und ihre Tante, von deren fünf Kindern nicht eines mehr am Leben war, sie sehr liebgewonnen hatten und sie wie ihre eigene Tochter hielten. Dann schilderte sie mir das Leben im Haus, ihre Beschäftigungen, ihre Spiele und ihre Vergnügungen: Fischfang, Nachenfahrten, Spaziergänge in den großen Wäldern und dergleichen mehr, womit ihre Zeit großenteils ausgefüllt war, da sie ja nicht zur Schule gehen konnte.

Ich meinerseits hatte ihr über alle meine Erlebnisse seit unsrer Trennung, über das Grubenunglück, den Besuch bei meiner Amme und die Aussichten, meine Familie wieder zu finden, Bericht zu erstatten.

Selbstverständlich spielte meine Familie, meine reiche Familie, eine große Rolle in meinen Erzählungen, und ich wiederholte Lieschen, was ich schon Mattia erklärt hatte, wobei ich hauptsächlich meine Hoffnungen auf Reichtum betonte, denn deren Verwirklichung sollte ja uns alle, ihren Vater, ihre Geschwister und hauptsächlich sie selbst, so glücklich machen.

Lieschen, die nicht Mattias frühreife Erfahrung besaß und zu ihrem Glück die Schule Garofolis nicht durchgemacht hatte, war ganz geneigt, anzunehmen, daß die reichen Leute in der Welt nichts zu thun haben, als glücklich zu sein, und daß der Reichtum eine Art Talisman sei, der sofort jeden Wunsch erfülle. – War doch ihr Vater nur deshalb ins Gefängnis gekommen und die ganze Familie zerstreut worden, weil er arm war! Ob nun ich reich war, oder sie, darauf kam's nicht an – wir würden ja in jedem Fall alle glücklich und vereinigt sein, und mehr wollte sie nicht.

Wir verplauderten indessen nicht alle unsre Zeit vor der Schleuse, bei dem Rauschen des Wassers, das durch die »Schützen« schoß, sondern machten auch alle drei in Begleitung des Herrn Capi und der Fräulein Puppe große Spaziergänge in der wunderschönen Umgebung von Dreuzy. Soviel schöne Gegenden ich auch bei meinen Kreuz- und Querzügen durch Frankreich kennen gelernt hatte, so war mir doch keine so schön und interessant vorgekommen, als die, wo wir uns im Augenblick befanden: ungeheure Forste, schöne Wiesen, Felsen, Hügel, Höhlen, schäumende Wasserfälle, ruhige Teiche und in dem engen, von schroffen, steilen Höhen eingefaßten Thal der in vielfachen Windungen sich dahinschlängelnde Kanal. Es war herrlich! Freilich ist mein Urteil vielleicht nicht ganz unbefangen, weil jeder Ort, an dem ich mit Lieschen geweilt und mit ihr gespielt habe, in meinen Augen einen ganz eigenen Zauber besitzt, der andern weniger bevorzugten Gegenden abging.

Des Abends setzten wir uns vors Haus, wenn es nicht allzu feucht war, und vors Kamin, wenn sich der Nebel verdichtete, und dann ließ ich zu Lieschens größter Freude die Harfe erklingen. Mattia spielte auch Klapphorn und Geige, aber Lieschen zog die Harfe vor, worauf ich nicht wenig stolz war. Ehe wir zu Bett gingen, mußte ich Lieschen dann noch mein neapolitanisches Lied singen.

Aber trotz alledem mußten wir uns wieder trennen, was mir nicht viel Kummer bereitete. Ich hatte mich nämlich so in meine Träume hineingelebt, daß ich nicht mehr dachte, ich werde einmal reich werden, sondern daß ich mir einbildete, ich sei es schon, und somit war auch mein letztes Wort zu Lieschen: »Ich komme ganz bald zurück und hole dich in einer vierspännigen Kutsche ab.«

Sie glaubte mir so fest, daß sie mit der Hand ein Zeichen machte, als ob sie Pferde antreibe; offenbar sah sie den Wagen schon so deutlich, wie ich.

Ehe wir aber im vierspännigen Wagen von Paris nach Dreuzy fahren konnten, mußten wir auf Schusters Rappen von Dreuzy nach Paris gelangen, und ohne Mattia hätte ich die Tagemärsche möglichst lang ausgedehnt und mich mit dem zum täglichen Leben unentbehrlichen Erwerb begnügt. Wozu sich denn jetzt noch anstrengen? Wir brauchten keine Kuh und keine Puppe mehr zu kaufen und auch meinen Eltern kein Geld mitzubringen.

Allein diese Gründe, durch die ich meine Ansicht verteidigen wollte, machten auf Mattia nicht den mindesten Eindruck.

»Laß uns verdienen, soviel wir verdienen können,« sagte er und zwang mich, zu meiner Harfe zu greifen. »Wer weiß, ob wir Barberin sofort finden werden?«

»Finden wir ihn nicht um zwölf, so finden wir ihn um zwei Uhr; die Rue Mouffetard ist nicht so lang.«

»Und wenn er gar nicht in der Rue Mouffetard wohnt?«

»So gehen wir dahin, wo er wohnt.«

»Und wenn er nach Chavanon zurückgekehrt ist?«

»Dann müssen wir an ihn schreiben und seine Antwort abwarten.«

»Und wovon wollen wir in der Zwischenzeit leben, wenn wir mit leeren Taschen dastehen? Man sollte wirklich meinen, du kennest Paris gar nicht und habest die Steinbrüche von Gentilly völlig vergessen!«

»Das hab' ich nicht!«

»Nun also! Ich habe auch nicht vergessen, wie du mich, fast verhungert an die Kirchenmauer von Sankt Medardus gelehnt, gefunden hast. Ich will in Paris keinen Hunger leiden, und darum wollen wir arbeiten, wie wenn wir eine Kuh für deine Eltern kaufen müßten.«

Das war ein äußerst weiser Rat, aber trotzdem muß ich gestehen, daß ich nicht mehr sang wie damals, als es sich darum handelte, Sou um Sou für Mutter Barberins Kuh und für Lieschens Puppe zusammenzusparen.

»Wie faul wirst du erst werden, wenn du reich bist,« seufzte Mattia.

Von Corbeil aus schlugen wir den nämlichen Weg ein, wie sechs Monate zuvor, als wir uns von Paris nach Chavanon aufmachten. Ehe wir nach Villejuif hineingingen, traten wir in den Meierhof, wo wir zum erstenmal gemeinschaftlich gespielt hatten und die Hochzeitsgesellschaft zu unsrer Musik getanzt hatte. Das junge Ehepaar erkannte uns sofort; wir mußten ihnen wieder zum Tanz aufspielen, und sie gaben uns Abendbrot und Nachtlager.

Von hier brachen wir am nächsten Morgen nach Paris auf, das wir vor sechs Monaten und vierzehn Tagen verlassen hatten. Allein der Tag der Rückkehr hatte nichts mit dem des Aufbruchs gemein: das Wetter war grau in grau, trübselig und frostig: am Himmel keine Sonne, am Wegsaum kein Gras, keine Blume mehr; die Sonne hatte ihr Werk vollbracht, die Herbstnebel hatten sie verdrängt, und statt der gelben Blüten des Goldlacks wehte uns der Wind welke Blätter zu.

Doch was konnte mir das trübe Wetter anhaben, ich trug ja eine Freude in mir, die keiner äußeren Steigerung bedurfte. Freilich, Mattia wurde immer trauriger, je näher wir der Stadt kamen, und oft sprach er stundenlang kein Wort. Er hatte über den Anlaß seiner trüben Stimmung nicht gesprochen, und ich schrieb diese der Angst vor der Trennung zu, die er sich nun einmal nicht ausreden lassen wollte.

Erst als wir vor den Festungswerken Halt machten, um zu frühstücken, sagte er mir, während er auf einem Stein saß und sein Brot verzehrte, was ihn so sehr beschäftigte.

»Weißt du, an wen ich denke, nun ich wieder nach Paris zurückkomme?«

»An wen denn?«

»Ja, an wen! An Garofoli! Wenn er nun aus dem Gefängnis heraus wäre? Als man mir sagte, daß er sitze, vergaß ich zu fragen, wie lange; er kann also jetzt wieder frei und in seine Wohnung in der Rue de Lourcine zurückgekommen sein. Nun sollen wir in der Rue Mouffetard Barberin suchen, und diese Straße liegt in Garofolis Viertel, dicht bei seiner Straße. Wie nun, wenn uns Garofoli zufällig begegnet? Er ist mein Herr, er ist mein Onkel und darf mich mitnehmen, ohne daß ich etwas dagegen machen kann. Du hast schon Angst, wieder in Barberins Hände zu fallen, und kannst dir denken, wie sehr ich mich vor Garofoli fürchte. Ach Gott, mein armer Kopf! Und der Kopf ist noch gar nichts im Vergleich mit dem Gedanken an die Trennung: wir könnten uns gar nicht mehr sehen, und diese Trennung durch meine Familie wäre noch bedeutend schlimmer, als die durch die deine. Gewiß, Garofoli würde dich auch mitnehmen und dir den Unterricht, den er seinen Zöglingen mit Peitschenbegleitung erteilt, auch zu gute kommen lassen, aber du würdest nicht mitgehen wollen, und ich selbst möchte deine Gesellschaft dabei gar nicht haben – du bist nie geprügelt worden.«

Ganz von dem Gedanken an meine Hoffnungen erfüllt, hatte ich gar nicht an Garofoli gedacht, nun aber sah ich sofort ein, wie recht Mattia mit seinen Befürchtungen hatte und welcher Gefahr wir ausgesetzt waren.

»Was willst du thun?« fragte ich Mattia, »willst du lieber nicht nach Paris hineingehen?«

»Ich glaube, ich könnte eine Begegnung mit Garofoli schon vermeiden, wenn ich nur nicht in die Rue Mouffetard ginge.«

»Nun, so geh nicht mit dahin! Ich gehe allein, und wir treffen uns um sieben Uhr irgendwo.«

Wir verabredeten nun, uns am Ende des Pont de l'Archevêché, hinter dem Chor der Kirche von Notre Dame zu treffen, und machten uns auf, in die Stadt hineinzugehen.

Auf der Place d'Italie trennten wir uns und nahmen so gerührt Abschied voneinander, als sollten wir uns niemals wiedersehen, und dann gingen Mattia und Capi nach dem Jardin des Plantes hinunter, während ich mich nach der nahegelegenen Rue Mouffetard aufmachte.

Zum erstenmal seit sechs Monaten war ich allein und hatte Mattia und Capi nicht bei mir, was mir in dem großen Paris sehr unheimlich war. Allein ich durfte mich durch diese Empfindung nicht niederdrücken lassen – sollte ich nicht Barberin und durch ihn meine Familie wiederfinden?

Ich hatte mir die Namen und Wohnungen der Zimmervermieter, bei denen ich Barberin suchen sollte, genau aufgeschrieben, aber das war eine überflüssige Vorsichtsmaßregel; ich hatte weder Namen noch Adressen vergessen und brauchte mein Papier gar nicht zu Rate zu ziehen: Pajot, Barrabaud und Chopinet.

Ich kam zuerst zu Pajot und trat ziemlich mutig in eine kleine Garküche, die sich im Erdgeschoß eines »möblierten« Hauses befand, aber meine Stimme zitterte, als ich nach Barberin fragte.

»Wer ist denn Barberin?«

»Barberin aus Chavanon.« Darauf ließ ich eine Schilderung Barberins folgen, das heißt des Barberin, den ich hatte von Paris zurückkommen sehen: hartes Gesicht, finsterer Ausdruck, trägt den Kopf nach der rechten Schulter geneigt.

»Haben wir nicht im Haus! Kennen ihn nicht.«

Ich dankte und ging etwas weiter, zu Barrabaud; dieser war nicht nur Zimmervermieter, sondern auch Gemüsehöker. Anfangs gelang es mir schwer, mir Gehör zu verschaffen, da der Mann eben damit beschäftigt war, einen grünen Teig zu verkaufen, den er mit einer Art Kelle zerteilte und Spinat nannte, und die Frau mit einer Kundin um einen zu wenig herausgegebenen Sou stritt. Endlich aber, nachdem ich meine Frage dreimal wiederholt hatte, erhielt ich doch eine Antwort.

»Ach ja, Barberin ... den haben wir seinerzeit gehabt ... es ist vielleicht vier Jahre, und der Lump ist uns noch eine Woche schuldig gewesen ... wo steckt er denn?«

Das wollte ich ja gerade selbst erfragen! Enttäuscht und bis zu einem gewissen Grad beunruhigt, ging ich weiter. Nun blieb mir nur noch Chopinet: wenn auch der nichts wußte – wo konnte ich Barberin dann noch suchen?

Wie Pajot war auch Chopinet nebenbei Garkoch, und als ich in die Küche trat, wo er eben das Essen zurichtete, saßen mehrere Leute bei Tisch.

Ich wendete mich mit meiner Frage an Chopinet selbst, der eben im Begriff war, seinen Kunden die Suppe auszuschöpfen.

»Barberin,« erwiderte er, »ist nicht mehr hier.«

»Und wo ist er denn jetzt?« fragte ich zitternd.

»Ja, das weiß ich auch nicht.«

Mir wurde ganz schwindelig, die Kochtöpfe schienen mir alle auf dem Herd herumzutanzen.

»Wo kann ich denn etwa nach ihm suchen?«

»Er hat keine Adresse hinterlassen.«

Mein Gesicht mußte meine Enttäuschung mit Mitleid erregender Beredsamkeit ausdrücken, wenigstens sprach mich einer der am Tisch essenden Männer an und sagte: »Was willst du denn von Barberin?«

Da ich ihm unmöglich meine Geschichte erzählen und die Wahrheit sagen konnte, erwiderte ich: »Ich komme aus seiner Heimat, von Chavanon, und soll ihm Nachricht von seiner Frau bringen, die mir gesagt hat, ich finde ihn hier.«

»Wenn du weißt, wo Barberin ist,« sagte der Wirt zu dem, der mich gefragt hatte, »so kannst du's dem Buben hier schon sagen, der führt nichts gegen ihn im Schild, nicht wahr?«

»O nein, Herr!«

Meine Hoffnung belebte sich wieder.

»Barberin wird wohl im Hotel du Cantal, Passage d'Austerlitz wohnen, wenigstens war er noch vor drei Wochen dort.«

Ich dankte und ging, doch wollte ich, ehe ich mich nach der Passage d'Austerlitz begab, noch Erkundigungen nach Garofoli einziehen, um Mattia Nachricht bringen zu können.

Ich befand mich ganz nahe bei der Rue de Lourcine und hatte nur einige Schritte bis zu dem Haus, wo ich mit Vitalis gewesen. Wie an jenem Tag war auch heute der nämliche alte Mann damit beschäftigt, Lumpen an der grünlichen Hofmauer aufzuhängen – es sah aus, als ob er die ganze Zeit über nichts andres gethan hätte.

»Ist Herr Garofoli zurückgekommen?« fragte ich.

Der alte Mann sah mich an und hustete, ohne mir zu antworten; offenbar mußte ich ihm andeuten, daß ich wußte, wo Garofoli weilte, um etwas aus ihm herauszubringen.

»Ist er noch immer dort,« sagte ich mit pfiffiger Miene, »die Zeit soll ihm wohl lang werden da.«

»Möglich, aber sie geht auch vorbei.«

»Vielleicht ihm nicht ganz so schnell als uns.« Ueber diesen Witz mußte der alte Lumpensammler furchtbar lachen, was ihm einen starken Hustenanfall zuzog.

»Wissen Sie, wann er zurückkommt?« fragte ich, als sich der Husten gelegt hatte.

»In drei Monaten.«

Wenn Garofoli noch drei Monate sitzen mußte, so konnte Mattia wieder aufatmen, denn innerhalb dreier Monate hatten meine Eltern natürlich längst Mittel und Wege gefunden, den »Padrone« unschädlich zu machen.

Nun aber eilte ich, von neuem Mut beseelt, ins Hotel du Cantal, wo ich Barberin ja ganz sicher finden mußte, und meine Freude und Hoffnung waren so groß, daß ich selbst Barberin milder beurteilte und anerkannte, daß ich es ihm verdankte, wenn ich nun meine Eltern wiederfände.

Durch den Jardin des Plantes ist es nicht weit von der Rue de Lourcine nach der Passage d'Austerlitz, und bald stand ich vor dem Hotel du Cantal, das vom Hotel aber nur den Namen hatte und in Wahrheit eine ganz elende Bude war und einer alten, halbtauben Frau mit wackeligem Kopf gehörte.

Als ich meine gewöhnliche Frage vorgebracht hatte, hielt sie ihre Hand wie ein Hörrohr ans Ohr und bat mich mit leiser Stimme, meine Worte zu wiederholen, weil sie etwas schwer höre.

»Ich möchte Barberin sprechen, Barberin von Chavanon – er wohnt doch bei Ihnen, nicht wahr?«

Ohne mir zu antworten, fuhr sie mit ihren beiden Armen so rasch in die Luft, daß eine auf ihrem Schoß eingeschlafene Katze erschrocken zur Erde sprang.

»Ach, ach!« sagte sie, sah mich an und wackelte noch viel bedenklicher mit dem Kopf und fragte dann: »Am End' bist du der Junge?«

»Welcher Junge?«

»Der, den er suchte.«

»Den er suchte« – bei diesen Worten krampfte sich mein Herz zusammen.

»Barberin!« rief ich.

»Gestorben – der verstorbene Barberin mußt du sagen!«

Ich mußte mich auf meine Harfe stützen.

»Er ist also gestorben!« schrie ich, um mich verständlich zu machen.

»Vor acht Tagen, im Spital Saint Antoine.«

Sprachlos, vernichtet stand ich da; Barberin tot – wie sollte ich nun meine Familie finden, wo sie suchen?

»Also du bist der Junge, den er suchte, um ihn seiner reichen Familie zurückzubringen?«

Wieder flackerte meine Hoffnung auf, krampfhaft hielt ich mich an dies Wort: »Also Sie wissen?« stammelte ich.

»Ich weiß nur, was der arme Mann erzählt hat: Er sagte, er habe ein Kind gefunden und aufgezogen, und die Familie, die es verloren habe, wolle es wieder haben, und nun sei er in Paris, um es zu suchen.«

»Aber die Familie?« fragte ich mit bebender Stimme, »meine Familie?«

»Also du bist's wirklich! So so! Du bist's, du bist's.«

»Was hat Ihnen denn Barberin über meine Familie gesagt? Sie sehen doch meine Angst und meine Aufregung, so reden Sie doch!«

Aber ohne auf meine Fragen zu antworten, wackelte sie mit dem Kopf, erhob die Arme gen Himmel und rief in einem fort: »Ist das eine G'schicht! Ist das eine G'schicht! Barberin sucht ihn, er kommt, und Barberin ist nicht mehr da! Ist das eine G'schicht!«

»Hat Ihnen denn Barberin nie von meiner Familie gesprochen?« drang ich wieder in sie.

»Mehr als zwanzigmal, mehr als hundertmal, eine reiche Familie!«

»Aber wo wohnt sie? Wie heißt sie?«

»Ja, da steht der Ochs am Berg! Von dem hat er nie etwas gesagt. Da hat er ein Geheimnis daraus gemacht, weil der Schlaukopf die Belohnung hat ganz allein für sich haben wollen, wie's auch nicht mehr als billig war.«

Ach, ich verstand nur allzugut, was das alte Weib mir begreiflich machen wollte. Barberin war gestorben und hatte das Geheimnis meiner Geburt mit fortgenommen, und ich sah nun so nah dem Ziel all meine schönen Träume, meine glänzenden Hoffnungen zu nichte werden!

»Und Sie kennen niemand, dem er vielleicht mehr darüber gesagt hätte als Ihnen?«

»Na so dumm war der Barberin nicht! Sich jemand anvertrauen! O nein, dazu war er viel zu mißtrauisch.«

»Und Sie haben nie ein Glied der Familie bei ihm gesehen?«

»Nein.«

»Und Freunde von ihm, mit denen er von meiner Familie hätte sprechen können?«

»Er hatte keine Freunde.«

Vergeblich zerbrach ich mir den Kopf – ich fand keinen Anhaltspunkt mehr!

»Einmal bekam er einen Brief,« sagte die alte Frau, nachdem sie lange nachgedacht hatte, »einen eingeschriebenen Brief.«

»Woher kam er?«

»Das weiß ich nicht; der Briefträger gab ihn Barberin selbst und ich habe nicht einmal den Poststempel gesehen.«

»Den Brief wird man aber doch wieder finden können?«

»Nach seinem Tod haben wir alles durchsucht, was er hier gelassen hatte. Nicht aus Neugierde, natürlich, nur um seine Frau benachrichtigen zu können; wir haben aber nichts entdeckt, und auch im Spital hat man in seinen Kleidern keinerlei Papiere gefunden. Wenn er nicht selbst gesagt hätte, daß er aus Chavanon sei, so hätte man seiner Frau nicht einmal seinen Tod anzeigen können.«

»Mutter Barberin ist also benachrichtigt worden?«

»Jawohl.«

Lange stand ich sprachlos da; ich konnte kein Wort hervorbringen. Was sagen? Was fragen? Die Alte hatte offenbar alles gesagt, was sie wußte, und alles daran gesetzt, herauszubringen, was ihr Barberin hatte verheimlichen wollen.

Ich ging auf die Thüre zu.

»Und wo gehst du jetzt hin?« fragte das alte Weib.

»Zu meinem Freund.«

»So, du hast einen Freund.«

»Ja wohl.«

»Wohnt der in Paris?«

»Wir sind heute morgen zusammen in Paris angekommen.«

»Nun, weißt du, wenn ihr noch in keinem Gasthof abgestiegen seid, so könnt ihr's nirgends besser treffen als bei mir, das kann ich wohl sagen. Und du mußt auch bedenken, daß deine Familie, wenn sie zu lange ohne Nachricht von Barberin bleibt, sich jedenfalls hierher wendet, und dann bist du gleich da und kannst sie empfangen. Was ich da sage, ist nur zu deinem Vorteil. Wie alt ist denn dein Freund?«

»Er ist ein wenig jünger als ich.«

»Zwei so kleine Buben allein auf dem Pariser Pflaster. Wenn ich bedenke, daß ihr so leicht in eine Herberge geraten könnt, wo schlechte Gesellschaft verkehrt! Ja, ja, 's ist nicht überall wie hier!«

Wohl war ich von den verheißenen Vorzügen dieses sogenannten Gasthofes gar nicht überzeugt, denn das Hotel du Cantal war eines der schmutzigsten, ärmlichsten Häuser, die man sehen konnte, und doch hatte ich bei meinem abenteuerlichen Wanderleben recht erbärmliche kennen gelernt. Allein da ich meine reiche Familie nicht gefunden hatte, war der Augenblick, mich wählerisch zu zeigen, noch nicht gekommen. Ach Gott, wie recht hatte Mattia gehabt, als er unterwegs Geld verdienen wollte! Was fingen wir jetzt an, ohne die siebzehn Franken in unsrer Kasse!

»Was kostet denn ein Zimmer für meinen Freund und mich?« fragte ich.

»Zehn Sous täglich. Das ist doch gewiß nicht zu teuer.«

»Nun gut, so kommen wir heute abend wieder.«

»Kommt nur bald heim; in Paris ist's auf den Straßen nicht geheuer.«

Da ich bis zu meiner Zusammenkunft mit Mattia noch mehrere Stunden vor mit hatte und nicht wußte, wie sie ausfüllen, begab ich mich traurig in den Jardin des Plantes und setzte mich auf eine abgelegene Bank; meine Beine waren wie zerschlagen, der Verstand stand mir still.

Ich war aber auch so plötzlich, so unerwartet aus allen meinen Himmeln gestürzt! War es mir denn bestimmt, ein Unglück nach dem andern durchzukosten, und so oft ich mich in einer gesicherten Lage wähnte, den Ast, den ich erfaßte, unter meiner Hand brechen zu sehen und wieder zur Erde zu stürzen?

War es denn nicht wirklich ein entsetzliches Verhängnis, daß Barberin gerade in dem Augenblick sterben mußte, wo ich seiner bedurfte, und daß er aus Gewinnsucht den Namen und die Adresse dessen, der mich suchen ließ und der jedenfalls mein Vater war, vor jedermann geheim gehalten hatte!

Während ich mit thränengeschwollenen Augen in dem Schatten eines Baumes saß und diesen trüben Gedanken nachhing, kamen ein Herr und eine Dame, hinter denen ein Kind einen kleinen Wagen herzog, und setzten sich auf die Bank mir gegenüber. Dann riefen sie dem Kind, das sein Wägelchen im Stich ließ und mit ausgebreiteten Aermchen auf sie zulief: der Vater fing es auf und reichte es, nachdem er seine Haare mit lautschallenden Küssen bedeckt hatte, der Mutter hin, die es nun ihrerseits auf die nämlichen Stellen küßte, während das Kind lustig lachte und seine Eltern mit den kleinen, fetten Grübchenhänden auf beide Wangen tätschelte.

Als ich das Bild betrachtete, das Glück der Eltern und die Freude des Kindes sah, da flossen meine Thränen in Strömen.

Ach, ich war nie so geküßt und geherzt worden und durfte nun auch nicht mehr hoffen, es jemals noch zu werden.

Einem plötzlichen Einfall gehorchend, nahm ich meine Harfe zur Hand und spielte ganz leise einen Walzer für das Kind, das seine kleinen Füßchen im Takt bewegte. Der Herr kam zu mir her und wollte mir ein Silberstück geben.

»Ach, bitte nicht, mein Herr,« sagte ich, »gönnen Sie mir das Vergnügen, Ihrem herzigen Kind eine Freude gemacht zu haben.«

Er betrachtete mich aufmerksam, aber in demselben Augenblick kam ein Aufseher herbei und hieß mich, trotz der Einwendungen des Herrn, schleunigst machen, daß ich fortkomme, falls ich nicht ins Gefängnis wandern wolle, weil ich im Garten gespielt habe. So warf ich denn meine Harfe über die Schulter und ging, wobei ich mich aber oft umdrehte und den Herrn und die Dame betrachtete, die mir mit gerührten Blicken nachsahen.

Da es noch zu früh war, um zu meinem Stelldichein mit Mattia zu gehen, wanderte ich die Quais auf und ab und blickte in das fließende Wasser.

Die Nacht brach herein, man zündete die Gaslaternen an; dann machte ich mich auf nach der Kirche von Notre Dame, hinter deren Chormauer ich mich erschöpft auf eine Bank niederließ und aufs neue in meine traurigen Betrachtungen versank. Noch nie hatte ich mich so müde und niedergeschlagen gefühlt; in mir und um mich war alles düster und traurig und in dem großen, lichthellen, lärmenden, geräusch- und lebensvollen Paris fühlte ich mich verlassener und verlorener als draußen auf freiem Feld.

Manchmal drehten sich die Vorübergehenden um und sahen mich an, aber was lag mir an ihrem Mitleid oder ihrer Neugier? Ich suchte ja nicht die Teilnahme Gleichgültiger.

Zu meiner Zerstreuung fing ich an, die Stunden zu zählen, die ich rings umher schlagen hörte, und zu berechnen, wie lange es noch dauern könne, bis ich aus Mattias Freundschaft Mut und Kraft schöpfen könne; es war mir ein unendlicher Trost, zu denken, daß ich bald in seine sanften, fröhlichen Augen blicken dürfe.

Kurz vor sieben Uhr vernahm ich ein freudiges Bellen und beinahe gleichzeitig sah ich einen weißen Körper aus der Dunkelheit auf mich zukommen; ehe ich Zeit zum Ueberlegen gehabt hatte, war Capi auf mich zugesprungen und leckte mir die Hände; ich schloß ihn in meine Arme und küßte ihn auf die Schnauze.

Sofort erschien auch Mattia.

»Nun,« rief er schon von weitem.

»Barberin ist tot.«

Eiligst kam er herbei, und nun erzählte ich ihm in wenig Worten, was ich unternommen und erfahren hatte.

Auch er war sehr betrübt, was meinem Herzen wohl that, denn es bewies mir, daß er wohl für sich die Trennung von mir fürchtete, mir aber doch aufrichtig wünschte, daß ich meine Eltern wiederfinde.

Mit guten, liebevollen Worten suchte er mich zu trösten und mir zu beweisen, daß ich nicht verzweifeln dürfe.

»Wenn deine Eltern Barberin ausfindig gemacht haben, so wird es sie beunruhigen, nichts mehr von ihm zu hören; sie werden erfahren wollen, was aus ihm geworden ist, und dann ganz von selbst ins Hotel du Cantal kommen. Laß uns also dorthin gehen, es ist gewiß nur ein Aufschub von wenig Tagen.«

Das hatte mir auch schon das alte Weib mit dem wackeligen Kopf gesagt, aber aus Mattias Mund gewannen die Worte eine ganz andre Bedeutung für mich. Natürlich konnte es sich ja nur um eine Verzögerung handeln! Wie kindisch war ich gewesen, gleich so trostlos zu sein und so völlig zu verzweifeln!

Als ich nun einigermaßen beruhigt war, erzählte ich Mattia, was ich über Garofoli in Erfahrung gebracht hatte.

»Noch drei Monate!« jubelte er laut und tanzte vor Freude singend auf der Straße herum.

Plötzlich hörte er wieder auf, kam zu mir zurück und bemerkte: »Was doch für ein Unterschied zwischen Familie und Familie ist! Da sitzt du und jammerst, daß du deine Familie nicht findest, und ich tanze vor Freude, weil ich die meine verloren habe.«

»Ein Onkel ist doch keine Familie, wenigstens einer wie Garofoli nicht; würdest du wohl tanzen, wenn du deine Schwester Christin« verloren hättest?«

»O, sag' doch so etwas nicht!«

»Siehst du wohl!«

Wir gingen die Quais entlang nach der Passage d'Austerlitz, und da ich ruhiger geworden und meine Augen nicht mehr durch die Gemütsbewegung getrübt wurden, vermochte ich mich auch des schönen Anblickes zu erfreuen, den die Seine gewährt, wenn der Vollmond seinen silbernen Schimmer über ihre funkelnden, spiegelnden, flimmernden Wasser gießt.

Es mag ja sein, daß das Hotel du Cantal ein anständiges Haus war, aber jedenfalls war es kein schönes, und als wir uns mit einer rauchigen Kerze in einem Dachkämmerchen sahen, das so klein war, daß sich der eine von uns immer aufs Bett setzen mußte, wenn der andre stehen wollte, konnte ich nicht umhin, daran zu denken, daß ich nicht erwartet hatte, heute in einem derartigen Gelaß zu übernachten. Die gelblichen, baumwollnen Betttücher hatten so wenig gemein mit den schönen Windeln, von denen Mutter Barberin mir so viel erzählt hatte, als unser mit italienischem Käse beschmiertes Brot, aus dem unser Nachtessen bestand, mit dem Festmahl, das ich Mattia zugedacht hatte.

Schließlich war aber doch noch nicht alles verloren – ich brauchte ja nur zu warten, und mit diesem tröstlichen Gedanken sank ich in Schlaf.


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