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Dritter Band. Zweiter Teil. (Fortsetzung.)

Dreißigstes Kapitel.
Mutter Barberin

Auch die Nacht auf der Pritsche verlief ganz angenehm – wir hatten unter freiem Himmel schon weit schlechter geschlafen.

»Mir hat's vom Einzug der Kuh geträumt,« sagte Mattia.

»Mir auch.«

Um acht Uhr morgens that sich die Thür unsres Gefängnisses auf, und der Friedensrichter trat ein in Begleitung unsres Freundes, des Tierarztes, der selbst gekommen war, um uns zu befreien.

Die Fürsorge des Friedensrichters für seine beiden unschuldigen Gefangenen beschränkte sich nicht auf ihr Nachtessen; er überreichte mir auch noch ein schönes gestempeltes Papier und sagte freundlich: »Es war recht unsinnig von euch, so mir nichts, dir nichts in die Welt hineinzulaufen. Hier ist ein Paß, den ich euch vom Schultheißen habe ausstellen lassen und der euch künftig Schutz gewähren wird. Glückliche Reise, liebe Jungen.«

Damit schüttelte er uns beiden die Hand, während uns der Tierarzt küßte.

Kläglich genug waren wir eingezogen in dies Dorf, das wir nun im Triumph wieder verließen, wobei wir natürlich unsre Kuh am Strick führten und die Bauern, die unter ihren Thüren standen, nur so über die Achsel ansahen. Nur das eine bedauerten wir, daß uns der Gendarm, der für gut befunden hatte, uns festzunehmen, in diesem Augenblick nicht sah.

Bald hatten wir das Dorf erreicht, wo ich mit Vitalis über Nacht geblieben war, und von dem Bergabhang, der nach Chavanon hinunterführte, trennte uns jetzt nur noch eine große Heide.

Als wir durch die Dorfstraße gingen und uns gerade vor dem Haus befanden, wo Zerbino ein Stück Brot gestohlen hatte, kam mir ein neuer Einfall, den ich schleunigst meinem Freund mitteilte.

»Du, ich hab' dir ja versprochen, daß du bei Mutter Barberin Krapfen zu essen bekommen sollest, aber dazu braucht man Butter, Mehl und Eier.«

»Das muß prächtig schmecken.«

»Das will ich meinen – sie vergehen einem nur so auf der Zunge; aber vielleicht hat Mutter Barberin kein Mehl und keine Butter im Haus, denn sie ist nicht reich. Wie wär's, wenn wir ihr das mitbrächten?«

»Das ist ein herrlicher Einfall!«

»Dann halte die Kuh, aber laß sie um Gottes willen nicht los! Ich gehe in den Krämerladen hier und kaufe Butter und Mehl; Eier nehmen wir nicht mit, denn sie könnten unterwegs zerbrechen; wenn Mutter Barberin keine hat, so muß sie eben einige borgen.«

Nun kaufte ich ein Pfund Butter und zwei Pfund Mehl, und dann setzten wir unsren Marsch fort. Obwohl ich unsre Kuh nicht abtreiben wollte, machte ich unwillkürlich immer längere Schritte, denn ich konnte es kaum mehr erwarten, bei Mutter Barberin anzukommen.

Noch zehn Kilometer – noch acht – jetzt nur noch sechs; merkwürdigerweise schien mir jetzt, wo ich zu Mutter Barberin zurückkehrte, der Weg viel länger als damals, wo mich Vitalis von ihr fort, in den kalten Regen hinausführte. Ich befand mich in fieberhafter Aufregung und sah alle Augenblick auf die Uhr.

»Ist diese Gegend nicht schön?« fragte ich Mattia.

»Wenigstens verderben einem keine Bäume die Aussicht.«

»Warte nur, wenn wir nach Chavanon hinuntergehen, da siehst du Bäume genug, und zwar große – lauter Eichen und Kastanienbäume.«

»Mit Kastanien daran?«

»Und ob! Und in Mutter Barberins Hof steht ein krummer Birnbaum, auf dem man reiten kann und der die größten Birnen trägt, und die schmecken! Na, du wirst ja sehen!«

»Na, du wirst ja sehen,« lautete der Endreim aller meiner Schilderungen. Ich bildete mir wirklich ein, Mattia in ein Land der Wunder zu führen, denn das war es ja für mich, dessen Augen sich hier dem Licht erschlossen hatten, der hier zum Leben erwacht, geliebt worden und glücklich gewesen war. Je näher wir meinem Dorfe kamen, desto stürmischer drängten diese freudigen Erinnerungen auf mich ein, die zu meinem späteren, abenteuerlichen Leben in so scharfem Gegensatz standen. Die Luft hier hatte etwas Berauschendes für mich und verschönte alles um mich her.

Von dieser Trunkenheit angesteckt, kehrte auch Mattia in Gedanken – leider nur in Gedanken! – nach seiner Heimat zurück.

»Wenn du einmal nach Lucca kämest,« sagte er, »könnte ich dir auch schöne Sachen zeigen – du würdest schon sehen!«

»Sobald wir bei Etiennette, Lieschen und Benjamin waren, gehen wir nach Lucca.«

»Was, du willst ernstlich nach Lucca kommen?«

»Du bist ja auch mit mir zu Mutter Barberin gegangen! Wir besuchen zusammen deine Mutter und dein Schwesterchen Christine, das ich herumtrage, wenn es nicht zu groß ist, und das auch meine Schwester sein soll.«

»O, Remi!« – Vor lauter Rührung vermochte er nicht weiterzureden.

Während dieser Gespräche hatten wir endlich den Gipfel des Berges erreicht, von wo ein mehrfach gewundener Weg nach Chavanon hinab und an Mutter Barberins Häuschen vorüberführt. Noch einige Schritte, und ich stand auf der Stelle, wo ich Vitalis gebeten hatte, mich ausruhen zu lassen, damit ich auf das Häuschen hinunterblicken konnte, das ich zum letztenmal zu sehen glaubte.

»Nimm den Strick,« sagte ich zu Mattia, sprang auf den höchsten Absatz der Anhöhe und blickte hinab auf unser Thal, in dem sich nichts verändert hatte; zwischen zwei Baumgruppen gewahrte ich das Dach von Mutter Barberins Haus.

»Was hast du denn?« fragte Mattia.

»Dort! Dort! folge der Richtung meiner Hand! Das ist Mutter Barberins Häuschen, dort mein Birnbaum und mein Gärtchen!«

Mattia, dessen Blick nicht durch die Erinnerung geschärft war, sah weiter nicht viel, sagte das aber nicht.

In diesem Augenblick stieg ein leichtes Rauchwölkchen aus dem Kamin empor.

»Mutter Barberin ist zu Hause,« sagte ich: da traten mir plötzlich Thränen in die Augen und ich fiel Mattia um den Hals und küßte ihn; Capi sprang an mir hinauf und ich küßte auch ihn.

»Nun schnell hinunter!« rief ich.

»Wie richten wir's mit unsrer Ueberraschung ein, wenn Mutter Barberin zu Hause ist?« fragte Mattia.

»Du gehst allein hinein und sagst, du bringst ihr eine Kuh vom Prinzen, und wenn sie fragt, von welchem, dann erscheine ich.«

»Ach, welches Pech, daß wir nicht mit Musik einziehen können! Das wäre hübsch gewesen!«

»Mattia, mach um Gottes willen keine Dummheiten!«

»Sei ruhig, mir ist die Lust dazu vergangen, aber schade ist's doch, daß dies ungebildete Tier keine Musik mag, denn hier wäre ein Tusch so recht am Platz gewesen.«

Von einer Biegung des Weges aus, gerade über Mutter Barberins Haus, sahen wir eine weiße Haube im Hof erscheinen – das war Mutter Barberin. Sie stieß das Gatter auf, ging hinaus und entfernte sich nach dem Dorf zu.

Wir waren stehen geblieben, und ich hatte sie Mattia gezeigt.

»Sie geht fort,« sagte er, »was wird nun aus unsrer Ueberraschung?«

»Wir denken uns eine andre aus.«

»Was für eine?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Willst du ihr nicht rufen?«

Die Versuchung dazu war groß, aber ich widerstand ihr; seit Monaten freute ich mich auf eine Ueberraschung, und nun konnte ich nicht so leicht darauf verzichten.

Endlich standen wir vor dem Gatterpförtchen meines alten Hauses und traten in den Hof, wie ich ehedem.

Da ich die Gewohnheiten der Mutter Barberin genau kannte, wußte ich, daß die Thür nur eingeklinkt war und wir ohne Schwierigkeit ins Haus gelangen konnten, allein zuerst mußten wir die Kuh im Stall unterbringen. Der Stall befand sich ebenfalls noch in seinem früheren Zustand, das heißt, er lag voller Reisigbündel, die Mattia und ich, nachdem wir die Kuh am Futtertrog festgebunden hatten, in einer Ecke aufschichteten, was schnell gethan war, da Mutter Barberins Holzvorrat nicht sehr groß war.

»Jetzt gehen wir ins Haus,« sagte ich zu Mattia, »und ich setze mich in die Ecke am Herd, damit mich Mutter Barberin da findet; da das Gatter knarrt, wenn sie hereintritt, hast du Zeit genug, dich mit Capi hinter dem Bett zu verstecken, daß sie zuerst nur mich sieht. Was meinst du, ob sie wohl überrascht sein wird?«

Wie gesagt, so gethan. Ich setzte mich an meinen alten Platz am Kamin, wo ich so manchen Winterabend verbracht hatte. Da ich meine langen Haare nicht abschneiden konnte, steckte ich sie unter den Rockkragen und kauerte mich zusammen, so gut ich konnte, um dem kleinen Remi, dem Remi der Mutter Barberin möglichst ähnlich zu sehen.

Von meinem Platz aus übersah ich die Gatterthür, und es war also nicht zu befürchten, daß Mutter Barberin uns unerwartet über den Hals kommen würde. Nun konnte ich mich mit Muße umsehen; ich hätte mir einbilden können, erst gestern fortgegangen zu sein, so unverändert war alles – selbst das Parier, das die Stelle einer von mir zerbrochenen Fensterscheibe vertrat, war nicht erneuert worden, obgleich es ganz vergilbt und verraucht aussah.

Mit Vergnügen hätte ich jeden einzelnen Gegenstand in der Nähe betrachtet, aber da Mutter Barberin jeden Augenblick kommen konnte, durfte ich nicht wagen, meinen Platz zu verlassen.

Plötzlich bemerkte ich eine weiße Haube auf der Straße und eine Weile danach knirschte das Weidenband, worin das Gatter sich bewegte.

»Schnell verstecke dich,« sagte ich zu Mattia.

Ich machte mich so klein als irgend möglich. Nun ging die Thür auf, und schon von der Schwelle aus entdeckte mich Mutter Barberin.

»Wer ist denn da?« sagte sie.

Ohne zu antworten, blickte ich sie an, und sie mich ebenso. Plötzlich fingen ihre Hände an zu zittern.

»Mein Gott, mein Gott,« flüsterte sie, »ist es denn möglich, Remi!«

Nun lief ich auf sie zu und fiel ihr um den Hals.

»Mama!«

»Mein Junge, es ist mein Junge!«

Erst nach einigen Minuten faßten wir uns ein wenig und wischten uns die Augen ab.

»Wahrhaftig,« sagte sie, »wenn ich nicht ständig an dich gedacht hätte, würde ich dich nicht erkannt haben, so sehr hast du dich verändert. Was du groß und kräftig geworden bist!«

Ein unterdrücktes Schnauben erinnerte mich daran, daß Mattia noch immer hinter dem Bett steckte; ich rief ihn und er kam hervor.

»Das ist Mattia, mein Bruder,« stellte ich ihn vor.

»Ach, so hast du also deine Familie wieder gefunden?« rief Mutter Barberin.

»Nein, ich wollte damit nur sagen, daß er mein Freund und mein Gefährte ist, und hier ist auch Capi, ebenfalls ein Freund und Gefährte von mir. Capi, grüße die Mutter, deine Herrin!«

Capi richtete sich auf den Hinterfüßen auf, legte einer seiner Vorderpfoten auf sein Herz und verbeugte sich würdig und ernst, was Mutter Barberin zum Lachen brachte und ihre Thränen trocknete.

Mattia, der nicht wie ich über der Freude, Mutter Barberin wiederzusehen, alles andre vergaß, gab mir einen Wink, um mich an unsre Ueberraschung zu mahnen.

»Wenn's dir recht ist,« sagte ich zu Mutter Barberin, »so gehen wir ein bißchen in den Hof hinaus; ich möchte gern Mattia den krummen Birnbaum zeigen, von dem ich ihm so viel erzählt habe.«

»Wir können ihm auch dein Gärtchen zeigen, denn ich habe es ganz so gelassen, wie du es angelegt hast, damit du es bei deiner Rückkehr wieder findest, denn ich habe immer geglaubt, daß du zurückkommst.«

»Und haben dir die Topinamburs geschmeckt, die ich gepflanzt hatte?«

»Also du hast mich damit überrascht! Hab' mir's doch gleich gedacht! Du hast einem immer gern Ueberraschungen bereitet.«

Nun war der richtige Augenblick gekommen.

»Hat sich im Kuhstall nichts verändert, seit die arme ›Rote‹ fortgeführt worden ist, die gerade so ungern ging, wie ich?«

»Nein, gar nichts. Ich hebe mein Reisig drin auf.«

Da wir gerade am Stall vorüberkamen, stieß Mutter Barberin die Thür auf, und alsbald fing unsre hungrige Kuh, die ohne Zweifel glaubte, man bringe ihr Futter, laut zu brüllen an.

»Eine Kuh, eine Kuh im Stall!« schrie Mutter Barberin.

Nun konnten Mattia und ich uns nicht mehr länger halten und brachen in ein schallendes Gelächter aus, während uns Mutter Barberin verwundert ansah, da ihr die Anwesenheit einer Kuh in ihrem Stall so unwahrscheinlich und unmöglich erschien, daß sie den Zusammenhang trotz unsres Gelächters nicht erriet.

»Das ist eine Ueberraschung, die wir dir gemacht haben,« sagte ich, »gelt, sie kann sich schon neben den Topinamburs sehen lassen?«

»Eine Ueberraschung,« stammelte sie, »eine Ueberraschung!«

»Ich wollte nicht mit leeren Händen zu Mutter Barberin heimkehren, die so gut gegen ihren kleinen Remi, gegen das Findelkind, gewesen war, und als ich mich dann besann, was am praktischsten wäre, dachte ich, das wäre wohl ein Ersatz für die ›Rote‹, und dann haben wir auf dem Viehmarkt in Ussel die hier gekauft, von dem Geld, das Mattia und ich verdient haben.«

»O, du gutes Kind, du lieber Junge!« rief Mutter Barberin und küßte mich.

Dann zogen wir sie in den Stall hinein, damit sie unsre Kuh, die ja jetzt ihre Kuh war, näher besichtige, wobei die gute Frau immer wieder und wieder sagte: »Welch schöne Kuh! Was für liebe Buben!«

Plötzlich sagte sie: »Ja, bist du denn so reich geworden?«

»Das will ich meinen,« lachte Mattia, »wir haben noch achtundfünfzig Sous übrig.«

»Ach, ihr lieben Buben,« wiederholte sie abermals.

Es that mir von Herzen wohl, daß sie auch an Mattia dachte und uns in ihren Gedanken zusammenfaßte.

Unterdessen brüllte unsre Kuh immer fort.

»Sie will gemolken werden,« sagte Mattia.

Eilig lief ich ins Haus und holte den oft geflickten Blecheimer, in den man früher die »Rote« gemolken hatte und der noch an seinem alten Platz hing, obgleich seit lange keine Kuh mehr vorhanden war. Auf dem Rückweg nach dem Stall füllte ich den Eimer mit Wasser, um vor dem Melken die staubbedeckten Euter unsrer Kuh abzuwaschen. Welche Wonne für Mutter Barberin, als sie ihren Eimer zu drei Vierteilen voll schöner, schaumiger Milch bekam.

»Ich glaube, sie gibt mehr Milch als die ›Rote‹,« sagte sie.

»Und was für gute Milch,« sagte Mattia, »die schmeckt nach Orangenblüte.«

Mutter Barberin blickte Mattia neugierig an; offenbar überlegte sie, was Orangenblüte eigentlich sei.

»Das ist was ganz Gutes,« erklärte Mattia, der sein Wissen nicht gern für sich behielt, »das trinkt man im Spital, wenn man krank ist.«

Als die Kuh gemolken war, ließ man sie in dem grasbewachsenen Hof weiden, und wir gingen ins Haus zurück, wo ich, als ich den Eimer holte, unsre Butter und unser Mehl mitten auf den Tisch gesetzt hatte.

Als Mutter Barberin diese neue Ueberraschung entdeckte, wollte sie mit ihren Ausrufen wieder von vorne anfangen, aber ich hielt mich verpflichtet, ehrlich zu sagen: »Diese Ueberraschung ist ebensogut für uns als für dich; wir sind halb tot vor Hunger und möchten gern Krapfen essen. Weißt du noch, wie wir an der letzten Fastnacht, die ich hier erlebte, gestört worden sind, und wie du die Butter, die du entlehnt hattest, um mir Krapfen zu machen, dazu verwenden mußtest, Zwiebel zu schmoren?«

»Diesmal werden wir doch nicht gestört werden?«

»Weißt du denn, daß Barberin in Paris ist?«

»Ja.«

»Und weißt du auch warum?«

»Das ist von Wichtigkeit für dich.«

»Für mich?« fragte ich erschrocken.

Aber ehe sie antwortete, sah Mutter Barberin auf Mattia, als wage sie nicht, sich vor ihm auszusprechen.

»O, du kannst getrost vor Mattia darüber sprechen,« sagte ich, »ich habe dir ja erklärt, daß er mir wie ein Bruder ist, und alles, was mich angeht, interessiert auch ihn.«

»Ja, das ist nicht so einfach zu erzählen,« entgegnete sie, und ich drang nicht weiter in sie, weil ich sah, daß sie nicht reden wollte, und fürchtete, eine neue Weigerung ihrerseits könne Mattia weh thun. So begnügte ich mich mit der Frage, ob sie Barberin bald zurück erwarte.

»O nein, gewiß nicht.«

»Dann hat ja die Sache keine Eile! Wir wollen uns in erster Linie mit den Krapfen befassen, und du sagst mir dann später, was ich mit der Reise Barberins nach Paris zu thun habe. Hast du Eier?«

»Nein, ich habe keine Hühner mehr.«

»Wir haben dir keine Eier mitgebracht, weil wir Angst hatten, sie könnten zerbrechen. Kannst du keine entlehnen?«

Sie schien mir verlegen, und ich merkte, daß sie wohl schon allzu oft geborgt hatte und es jetzt nicht mehr thun konnte.

»Es ist auch besser, ich gehe selbst und kaufe welche,« sagte ich, »und du rührst unterdessen den Milchteig an. Sage nur Mattia, er solle dir das Reisig brechen, das versteht er sehr gut. Bei Soquet bekomme ich doch Eier? Ich bin gleich wieder hier!«

Bei Soquet kaufte ich nicht nur ein Dutzend Eier, sondern auch noch ein kleines Stück Speck.

Als ich zurückkam, war das Mehl schon mit Milch angerührt und man brauchte nur noch die Eier hineinzuschlagen.

Allerdings hatte der Teig auf diese Weise keine Zeit zum Gehen, aber wir hatten so furchtbar Hunger, daß wir nicht darauf warten konnten, und wenn die Krapfen auch ein wenig schwer ausfielen, so waren doch unsre Magen gut genug, um sich nicht dadurch bedrückt zu fühlen.

»Nun sage aber,« begann Mutter Barberin, während sie den Teig kräftig bearbeitete, »wie es kommt, daß du mir nie Nachricht gegeben hast? Du bist doch sonst ein so guter Junge! Weißt du, daß ich oft geglaubt habe, du seist gestorben, denn ich sagte mir, wenn Remi noch in dieser Welt lebte, würde er seiner Mutter Barberin doch gewiß ein Lebenszeichen gegeben haben!«

»Die Mutter Barberin war eben nicht allein; es war auch ein Vater Barberin da, und der ist der Herr im Haus, was er bewiesen hat, als er mich eines schönen Tages um vierzig Franken an einen alten Musikanten verkaufte.«

»Sprich mir nur nicht davon, mein lieber Remi.«

»Ich sage es ja nicht, um mich zu beklagen, sondern nur um dir zu erklären, warum ich dir nicht geschrieben habe. Ich habe Angst gehabt, er verkaufe mich aufs neue, wenn er mich ausfindig mache, und ich will mich nicht mehr verkaufen lassen. Deshalb habe ich dir nicht geschrieben, als ich meinen guten alten Herrn verlor.«

»Ach, der alte Musikant ist also gestorben?«

»Ja, und ich habe ihn sehr beweint, denn, daß ich heute etwas weiß und mir meinen Lebensunterhalt verdienen kann, verdanke ich ihm allein. Nach seinem Tod hab' ich wieder gute Menschen gefunden, die mich bei sich aufgenommen haben, aber wenn ich dir geschrieben hätte, ich sei da und da Gärtner, wäre man dann nicht gekommen und hätte mich geholt oder wenigstens den guten Leuten Geld abverlangt? Ich wollte weder das eine, noch das andre.«

»Ja, das begreife ich.«

»Aber deshalb hab' ich doch immer an dich gedacht, und wenn ich recht unglücklich war, was öfters vorkam, so rief ich immer Mutter Barberin zu Hilfe. Sobald ich mein eigner Herr war, habe ich mich zu dir auf den Weg gemacht. Daß ich nicht früher hier eingetroffen bin, kommt ja nur daher, daß wir das Geld für die Kuh erst unterwegs haben verdienen müssen. Es ist uns manchmal recht sauer geworden, aber desto größer ist deshalb jetzt unsre Freude, nicht wahr, Mattia?«

»Alle Abend haben wir das Geld gezählt, und zwar nicht bloß das, was wir im Lauf des Tages verdient hatten, sondern auch das, was schon vorher da war, um zu sehen, ob es keine Junge bekommen habe.«

»Ach, was für gute Kinder, was für brave Buben!«

Während dieses Gesprächs schlug Mutter Barberin den Krapfenteig, Mattia machte Reisig klein, und ich deckte den Tisch und füllte den Krug am Brunnen mit frischem Wasser. Als ich wieder hereinkam, scheuerte Mutter Barberin die Bratpfanne mit einem Büschel Heu aus, im Kamin flammte ein lustiges Feuer, das Mattia sorgfältig unterhielt, und Capi saß in der Ecke am Herd, verfolgte all diese Vorbereitungen mit gerührtem Blick und verbrannte sich bald die eine, bald die andre Pfote, die er dann mit leichtem Knurren zurückzog; das grelle Licht der Flamme erhellte auch die dunkelsten Ecken, und ich sah die auf den kattunenen Bettvorhang gedruckten Gestalten tanzen, vor denen ich mich als Kind so oft gefürchtet hatte, wenn ich des Nachts bei hellem Mondschein wach geworden war.

Mutter Barberin setzte die Pfanne aufs Feuer, nahm ein Stück Butter ans Messer und ließ es vorsichtig in die Pfanne gleiten, wo es alsbald zerschmolz.

»Das riecht prächtig,« sagte Mattia und streckte seine Nase übers Feuer, als könne er sich gar nicht verbrennen.

Die Butter fing an zu brodeln und zu prasseln.

»Sie singt,« rief Mattia, »ich muß sie begleiten.«

Bei Mattia mußte alles mit Musik geschehen: er nahm seine Geige und begleitete das Singen der Bratpfanne mit gedämpften, sanften Tönen, worüber sich Mutter Barberin halb totlachen wollte.

Allein der Augenblick war zu feierlich, als daß man sich lange einer unzeitgemäßen Heiterkeit hätte überlassen können. Mutter Barberin fährt mit dem Kochlöffel in die Schüssel, holt den langflüssigen, schaumigen Teig heraus und gießt ihn in die Bratpfanne, wo ihn die Butter, die vor dieser weißen Ueberschwemmung ängstlich zurückweicht, mit einem bräunlichen, zackigen Rand umschließt.

Nun beuge auch ich mich vor: Mutter Barberin schlägt leicht auf den Stiel der Bratpfanne und läßt den Krapfen zum größten Schrecken Mattias in die Luft fliegen; es ist aber nichts zu befürchten, und nach einem kurzen Spaziergang im Kamin, fällt er umgekehrt in die Pfanne zurück und zeigt uns sein bräunliches Angesicht. Schnell hole ich einen Teller herbei, und der Krapfen gleitet hinein.

Er ist für Mattia bestimmt, der sich Finger, Mund, Zunge und Gaumen daran verbrennt, was er aber gar nicht beachtet: mit vollem Mund sagt er: »Ach, was ist das gut!«

Nun kommt die Reihe an mich, meinen Teller hinzuhalten und mich zu verbrennen, aber auch ich beachte das letztere nicht. Nun ist der dritte Krapfen schön knusperig gebacken, und schon streckt Mattia seine Hand danach aus, aber Capi erklärt durch furchtbares Gebell, daß nun die Reihe an ihm sei. Da dies ganz in der Ordnung ist, gibt ihm Mattia den Krapfen zum großen Entsetzen Mutter Barberins, die die Gleichgültigkeit aller Landleute gegen die Tiere teilt und gar nicht fassen kann, daß man einem Hund das gleiche Essen, wie »einem Christenmenschen« gebe. Um sie zu beruhigen, setzte ich ihr auseinander, daß Capi ein Gelehrter und unser Freund sei, daß er auch einen Teil der Kuh verdient habe, und daß er nun mit uns essen müsse. Mutter Barberin selbst erklärte, sie rühre keinen Krapfen an, ehe unser Wolfshunger gestillt sei.

Das dauerte geraume Zeit, aber schließlich waren wir doch alle satt und die Schüssel leer. Mattia hatte wohl bemerkt, daß Mutter Barberin nicht vor ihm über die mich betreffende Angelegenheit reden wollte, und erklärte nun, er wolle sehen, was die Kuh im Hof anfange, und ließ Mutter Barberin und mich allein.

Wirklich konnte ich meine Ungeduld kaum mehr bezähmen, und es hatte meines ganzen Interesses für das Krapfenbacken bedurft, um mich abzulenken.

Meiner Ansicht nach war Barberin nach Paris gegangen, um Vitalis aufzusuchen und sich von diesem den rückständigen Lohn für mich ausbezahlen zu lassen. Darin sah ich noch nichts Schlimmes. Vitalis war tot und bezahlte nicht, und von mir konnte man nichts fordern. Aber wenn Barberin kein Geld von mir fordern konnte, so konnte er doch mich selbst zurückverlangen und, – war ich ihm erst wieder in die Hände gefallen, – gegen einen bestimmten Lohn vermieten, an wen er wollte. Das war aber von größter Wichtigkeit für mich, denn ich war fest entschlossen, lieber Frankreich zu verlassen und mit Mattia nach Italien oder Amerika, ja bis ans Ende der Welt zu fliehen, als mich wieder in die Gewalt des abscheulichen Barberin zu begeben.

Deshalb hatte ich mir vorgenommen, auch der Mutter Barberin gegenüber recht vorsichtig zu sein, – nicht daß ich glaubte, ich hätte Grund, ihr zu mißtrauen, denn ich wußte, daß sie mich über alles liebte, aber ebensogut wußte ich auch, daß sie vor ihrem Gatten zitterte, und wenn ich ihr zuviel anvertraute, so konnte sie es sich unwillkürlich entschlüpfen lassen und dadurch Barberin das Mittel an die Hand geben, sich meiner wieder zu bemächtigen. Das durfte nicht geschehen, wenigstens nicht durch meine Schuld, und darum war ich auf meiner Hut. Sobald Mattia hinausgegangen war, fragte ich Mutter Barberin, was die Reise ihres Mannes nach Paris mit mir zu thun habe.

Erst überzeugte sie sich, daß niemand an der Thüre lauschte, dann setzte sie sich neben mich und sagte vergnügt: »Es scheint, daß deine Familie Nachforschungen nach dir anstellt.«

»Meine Familie!«

»Ja, deine Familie, lieber Remi.«

»Ich habe eine Familie? Ich eine Familie! Mutter Barberin, ich, das ausgesetzte Kind!«

»Da man dich jetzt sucht, hat man dich damals wohl nicht freiwillig preisgegeben.«

»Wer sucht mich? O, Mutter Barberin, sprich! Sag mir's schnell, ich bitte dich!«

Plötzlich war es mir, als verliere ich den Verstand, und ich schrie auf: »O, das kann ja nicht sein! Nur Barberin sucht mich!«

»Ja, gewiß, aber für deine Familie.«

»Nein, für sich, um sich meiner wieder zu bemächtigen, mich wieder zu verkaufen – aber er kriegt mich nicht!«

»O, Remi, wie kannst du denken, ich würde mich dazu hergeben?«

»Er will dich täuschen, Mutter Barberin«.

»Komm, Kind, sei verständig! Höre, was ich dir zu sagen habe, und laß dich nicht so durch die Angst verwirren.«

»Ich denke an früher.«

»Nun höre, was ich selbst mit angehört habe – das wirst du wenigstens glauben, nicht wahr? Am nächsten Montag werden's gerade vier Wochen, daß, als ich in der Waschküche beschäftigt war, ein Mann oder bester gesagt, ein Herr, ins Haus trat, wo sich Barberin gerade befand.

»›Sind Sie der Barberin?‹ fragte der Herr, der sprach, wie einer, der nicht bei uns zu Hause ist. ›Ja,‹ sagte Jérôme, ›der bin ich.‹

»›Also haben Sie in Paris in der Avenue Breteuil ein Kind gefunden und sich verpflichtet, es aufzuziehen?‹ – ›Ja.‹ ›Bitte, wo ist das Kind gegenwärtig?‹ – ›Was geht das denn Sie an?‹ gab Jérôme zurück.«

Wenn ich an Mutter Barberins Aufrichtigkeit je gezweifelt hätte, so würde die liebenswürdige Antwort Barberins den besten Beweis dafür geliefert haben, daß sie mir Gehörtes wörtlich berichtete.

»Du weißt,« fuhr sie fort, »daß man da drin, in der Waschküche, alles versteht, was hier gesprochen wird, und weil von dir die Rede war, kam mich die Lust zu horchen an und ich trat näher an die Wand; aber dabei krachte ein Zweiglein Reisig unter meinem Fuß.

»›Wir sind wohl nicht allein?‹ fragte der Herr, ›'s ist nur meine Frau,‹ erwiderte Jérôme. ›Es ist hier aber sehr warm, und wenn's Ihnen recht ist, wollen wir draußen weitersprechen,‹ sagte der Herr hierauf, und dann gingen sie miteinander fort, und Jérôme kam erst nach vier Stunden allein zurück. Du kannst dir denken, wie neugierig ich war, zu hören, was dieser Herr, der vielleicht dein Vater war, gesagt hatte, aber Jérôme gab mir auf alle meine Fragen keine Antwort. Nur das sagte er, der Herr sei nicht dein Vater, stelle aber im Auftrag deiner Familie Nachforschungen nach dir an.«

»Und wo ist meine Familie? Habe ich einen Vater, eine Mutter?«

»Das habe ich auch gefragt, aber Jérôme sagte, das wisse er nicht, aber er müsse nach Paris gehen und suchen, den alten Musikanten aufzutreiben, an den er dich vermietet habe, und nach dem er sich bei einem andern Musikanten namens Garofoli in der Rue de Lourcine in Paris erkundigen wolle. Ich habe mir alle diese Namen gut bemerkt; behalte du sie nur auch.«

»Sei ganz ruhig, sie sind mir wohl bekannt! Hast du seit seiner Abreise nichts mehr von Barberin gehört?«

»Nein, wahrscheinlich sucht er dich noch immer. Der Herr hat ihm hundert Franken gegeben, und seither wahrscheinlich noch mehr. Dies und die schönen Sachen, die du anhattest, als man dich fand, beweisen, daß deine Eltern reiche Leute sind. Als ich dich habe in der Herdecke sitzen sehen, dachte ich schon, du habest sie gefunden, und deshalb glaubte ich auch, dein Freund sei dein rechter Bruder.«

In diesem Augenblick ging Mattia an der Thür vorüber, und ich rief ihm zu: »Mattia, meine Eltern suchen mich, ich habe eine Familie, eine rechte Familie!«

Aber merkwürdigerweise schien Mattia meine Freude und meine Begeisterung gar nicht zu teilen, und nun erzählte ich ihm alles, was mir Mutter Barberin gesagt hatte.


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