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Dreiunddreißigstes Kapitel.
Nachforschungen

Am andern Morgen war es mein erstes, an Mutter Barberin zu schreiben und ihr alles mitzuteilen, was ich erfahren hatte. Das war keine kleine Aufgabe für mich, denn, wie sollte ich über ihren verstorbenen Mann schreiben? Sie hatte ihren Jérôme, mit dem sie lange Jahre verheiratet gewesen war, lieb gehabt, und es mußte ihr weh thun, wenn ich gar keinen Anteil an ihrem Schmerz nahm. Schließlich kam ich unter fortwährend wiederholten Beteuerungen meiner Liebe und Anhänglichkeit doch mit meinem Papier zu Ende. Falls meine Familie an sie schrieb, um Erkundigungen nach Barberin einzuziehen, bat ich, mich sofort zu benachrichtigen und mir die Adresse ins Hotel du Cantal nach Paris zu schicken.

Nachdem dies erledigt war, ging ich an die Erfüllung einer andern Pflicht, die mir auch schwer fiel, wenigstens in gewissem Sinn. Als ich in Dreuzy Lieschen versprochen hatte, mein erster Gang in Paris solle der zu ihrem Vater sein, nahm ich mir vor, meine Eltern, falls sie so reich waren, wie ich hoffte, sofort zu bitten, seine Schuld zu bezahlen, so daß ich eigentlich nur ins Gefängnis gehen wollte, um ihn daraus zu befreien und abzuholen. Das war die erste Nummer in dem Programm von Freuden, das ich mir entworfen hatte. Welche Enttäuschung war es, nun mit leeren Händen ins Gefängnis gehen zu müssen, und ihm ebensowenig helfen zu können und die Schuld meiner Dankbarkeit abzutragen, als wie ich mich das erste Mal von ihm getrennt hatte.

Glücklicherweise konnte ich ihm Grüße und Küsse von Alexis und Lieschen bringen, und der Anblick seiner väterlichen Freude würde wohl mein Bedauern mildern und mir das befriedigende Bewußtsein gewähren, in Erwartung des weiteren ein kleinwenig zur Erleichterung seines Loses beigetragen zu haben.

Mattia, der furchtbar begierig war, einmal ein Gefängnis zu sehen, begleitete mich, übrigens legte ich auch Wert darauf, daß er den Mann kennen lernte, der mehr als zwei Jahre lang so gut gegen mich gewesen war.

Man führte uns ins Sprechzimmer, und bald kam der Vater, der schon unter der Thür die Arme nach mir ausbreitete.

»Ach, du guter Junge,« sagte er und küßte mich, »mein lieber, lieber Remi!«

Sofort fing ich an, ihm von Alexis und Lieschen zu erzählen, und eben wollte ich ihm erklären, warum ich nicht auch bei Etiennette gewesen sei, als er mich unterbrach: »Und deine Eltern?«

»Wissen sie denn davon?«

Nun erzählte er mir, daß ihn Barberin vor etwa vierzehn Tagen besucht habe.

»Er ist gestorben,« sagte ich.

»Ist das ein Unglück!«

Nun berichtete er mir, daß Barberin sich an ihn gewendet habe, um zu erfahren, was aus mir geworden sei. In Paris angelangt, hatte er sich zu Garofoli begeben, diesen aber natürlich nicht getroffen. Er mußte ihn im Gefängnis einer entfernten Provinz aufsuchen. Von Garofoli erfuhr er, daß ich nach Vitalis' Tod bei einem Gärtner Namens Acquin in La Glacière Aufnahme gefunden hatte. Nach Paris zurückgeeilt, hörte er in La Glacière, der Vater Acquin sitze in Clichy, wo er ihn dann auch aufgesucht und von ihm gehört hatte, daß ich in ganz Frankreich herumziehe, und niemand genau wissen könne, wo ich mich im Augenblick befinde, nur das stehe fest, daß ich irgend einmal bei einem seiner Kinder vorsprechen werde. Daraufhin hatte er nach Dreuzy, Varses, Esnandes und Saint Quentin geschrieben, aber mich hatte keiner seiner Briefe erreicht.

»Und was hat Ihnen Barberin von meiner Familie gesagt?«

»Nichts, oder so gut als nichts; nachdem deine Eltern beim Polizeikommissär des Quartier des Invalides in Erfahrung gebracht hatten, daß ein Steinmetz aus Chavanon Namens Barberin, das Kind aufgenommen habe, waren sie zu ihm gekommen, um dich zu holen; als du dann nicht da warst, erteilten sie ihm den Auftrag, dich suchen zu helfen.«

»Und er hat Ihnen ihren Namen, ihren Wohnort nicht genannt?«

»Als ich ihn danach fragte, sagte er, das werde er mir alles später erklären, und ich drang nicht weiter in ihn, weil ich merkte, daß er den Namen deiner Eltern geheimhielt, um sich durch niemand den Gewinn schmälern zu lassen, den er sich von ihnen versprach. Weil ich nun auch ein wenig dein Vater war, bildete sich dein Barberin ein, ich wolle mich dafür bezahlt machen; ich hab' ihn dann gehörig ablaufen lassen und seither nicht wiedergesehen, auch keine Ahnung davon gehabt, daß er seither gestorben ist. So weißt du nun also wohl, daß du Eltern hast, aber wegen des Eigennutzes des alten Geizhalses weißt du weder wer, noch wo sie sind.«

Ich erklärte, welche Hoffnungen uns im Hotel du Cantal festhielten, und auch er war der Ansicht, daß meine Eltern mich dort finden würden, so gut wie sie Barberin entdeckt hatten.

Diese Worte waren mir lieblich zu hören und gaben mir meine alte Lustigkeit wieder; die übrige Zeit unsres Besuches erzählte ich ihm nur von Lieschen und Alexis und von dem Grubenunglück.

»Welch entsetzlicher Beruf,« sagte er, als ich zu Ende war, »den mein armer Alexis hat ergreifen müssen! Ach, wie viel besser war er, als er noch Levkojen zog!«

»Das kommt alles wieder,« suchte ich ihn zu trösten.

»Gott gebe es, mein lieber Remi.«

Fast hätte ich mich verschnappt und ihm gesagt, meine Eltern würden ihn in Bälde aus dem Gefängnis befreien, aber es fiel mir noch rechtzeitig ein, daß es nicht passend ist, im voraus mit der Freude zu prahlen, die man einem andern machen will, und begnügte mich mit der Versicherung, er werde sich nächstens frei und all seine Kinder um sich versammelt sehen.

»In Erwartung dieses schönen Augenblicks,« sagte Mattia, als wir wieder aus der Straße standen, »bin ich der Ansicht, daß wir unsre Zeit nicht verlieren, sondern Geld verdienen sollten.«

»Hätten wir von Chavanon nach Dreuzy und von Dreuzy nach Paris nicht so viel Zeit mit Geldverdienen verloren, so hätten wir Barberin noch am Leben getroffen.«

»Das ist wahr und ich mache mir selbst so große Vorwürfe, dich aufgehalten zu haben, daß du's mir nicht auch noch vorzuwerfen brauchst.«

»Das soll kein Vorwurf sein, lieber Mattia, das kannst du mir glauben, ohne dich hätte ich Lieschen keine Puppe schenken können und ständen wir jetzt ohne einen Pfennig Geld in Paris.«

»Nun also, wenn ich recht gehabt hatte, daß ich Geld verdienen wollte, so wollen wir annehmen, ich habe wieder recht. Ich wüßte übrigens auch gar nicht, was wir bessres thun könnten, als singen und spielen. Mit dem Spazierengehen wollen wir noch ein bißchen warten, bis wir deinen Wagen haben, dann werden wir weniger müde. Hier in Paris weiß ich Bescheid und kenne alle guten Orte.«

Das stimmte; er kannte sie so gut, daß wir am Abend eine Einnahme von vierzehn Franken zählten.

Während ich einschlief, fiel mir ein, wie oft ich Vitalis hatte sagen hören, das Glück begünstige nur den, der seiner nicht bedürfe.

Offenbar bedeutete diese glänzende Einnahme für uns nichts, als daß meine Eltern von einem Augenblick zum andern erscheinen konnten.

Ich war so überzeugt von der Untrüglichkeit meiner Ahnungen, daß ich den nächsten Tag am liebsten ganz im Gasthof geblieben wäre, aber Mattia zwang mich, auszugehen, zu spielen und zu singen, und an diesem Tag hatten wir eine Einnahme von elf Franken.

»Wenn wir nicht bald durch deine Eltern reich werden,« sagte Mattia lachend, »so werden wir allein und durch eigne Arbeit reich werden, und das wäre auch gar nicht übel.«

So vergingen noch drei Tage, ohne daß sich irgend etwas ereignet hätte, als ich aber am vierten Tag nach Hause kam, um, wie gewöhnlich zu fragen, ob niemand da gewesen oder ob kein Brief an mich oder an Barberin gekommen sei, reichte mir die Wirtin einen Brief, den Mutter Barberin, da sie nicht selbst schreiben konnte, durch den Geistlichen hatte abfassen lassen.

Sie teilte mir darin mit, daß sie von dem Tod ihres Mannes benachrichtigt worden sei und kurz vorher beiliegenden Brief von ihm erhalten habe, den sie mir schicke, weil sie annehme, er könne mir von Nutzen sein.

»Schnell, schnell,« rief Mattia, »lies den Brief Barberins.«

 

»Mein liebes Weib!

»Ich liege hier im Krankenhaus und bin so krank, daß ich nicht glaube, daß ich davonkomme. Wenn ich noch mehr Kraft hätte, würde ich Dir erzählen, wie das gekommen ist, aber da das doch nichts nützen würde, ist es besser, gleich auf das Dringendste zu kommen. Sollte ich also nicht noch einmal durchschlupfen, so schreibe an Greth und Galley, Greensquare, Lincolns-Inn in London. Das sind die Advokaten, die mit den Nachforschungen nach Remi betraut wurden. Du mußt ihnen sagen, daß nur Du allein ihnen Nachricht über das Kind geben könnest, und Du mußt Dir diese gut bezahlen lassen, denn dies Geld soll Dir ein sorgenfreies, glückliches Alter bereiten. Was aus Remi geworden ist, kannst Du erfahren, wenn Du an einen Gärtner Namens Acquin schreibst, der im Schuldgefängnis Clichy in Paris gefangen sitzt. Laß alle Briefe durch den Herrn Pfarrer schreiben, denn in dieser Sache darfst Du niemand vertrauen: auch unternimm nichts, ehe Du weißt, daß ich tot bin.

Ich küsse und umarme Dich zum letztenmal
Dein Barberin.«

 

Noch hatte ich das letzte Wort dieses Briefes nicht gelesen, als auch schon Mattia mit einem Satz in die Höhe sprang und rief: »Auf, nach London!«

Ich war von dem Gelesenen so überrascht, daß ich Mattia anstarrte, ohne zu begreifen, was er meinte.

»Da nach Barberins Brief englische Advokaten beauftragt sind, dich aufzusuchen, folgt daraus, daß deine Eltern Engländer sind, nicht wahr?«

»Aber ...«

»Es ist dir nicht recht, ein Engländer zu sein?«

»Ich hätte gerne das nämliche Vaterland gehabt wie Lieschen und die Kinder.«

»Und ich hätte gewünscht, du wärest Italiener gewesen.«

»Falls ich ein Engländer wäre, wäre ich auch ein Landsmann von Arthur und Frau Milligan.«

»Wie, du sagst, wenn du ein Engländer wärest? – Aber das steht ja fest; wenn deine Eltern Franzosen wären, würden sie doch wohl schwerlich englische Rechtsanwälte beauftragen, ihr verlorenes Kind in Frankreich zu suchen; da du nun also ein Engländer bist, mußt du nach England gehen, denn das ist das sicherste Mittel, dich deinen Eltern näher zu bringen.«

»Wenn ich aber an diese Leute schriebe?«

»Wozu denn? Man verständigt sich viel leichter mündlich als schriftlich. Als wir in Paris ankamen, hatten wir siebzehn Franken, jetzt verfügen wir nach Abzug von allem, was wir verzehrt haben, noch über dreiundvierzig Franken, und das ist mehr als genug, um damit nach London zu kommen. Wir besteigen in Boulogne ein Schiff, das uns nach London bringt, und das ist nicht teuer.«

»Du bist doch noch nie in London gewesen?«

»Freilich nicht, aber beim Cirkus Gassot haben wir zwei Clowns gehabt, die Engländer waren und mir von London erzählt und mich auch ein wenig englisch gelehrt haben, damit wir miteinander sprechen konnten, ohne daß uns die Mutter Gassot, eine neugierige, alte Hexe, verstand. Und was haben wir ihr nicht alles auf englisch an den Kopf geworfen, ohne daß sie darum mit uns anbinden konnte. Ich führe dich nach London!«

»Ich habe bei Vitalis auch englisch gelernt.«

»Ja, aber du hast es seither jedenfalls verlernt, und ich kann's noch. Du wirst schon sehen! Uebrigens will ich nicht nur nach London gehen, weil ich dir zum Führer dienen möchte, ich habe noch einen andern Grund.«

»Welchen?«

»Wenn deine Eltern dich in Paris holen würden, so könnten sie leicht sagen, sie wollen mich nicht mitnehmen, während sie mich nicht wohl zurückschicken können, wenn ich schon in England bin.«

Eine derartige Voraussetzung schien mir beleidigend für meine Eltern, aber schließlich mochte sie ja vernünftig sein, und dieser Gedanke mußte mir genügen, mich zur sofortigen Abreise zu bestimmen.

»Also vorwärts!« sagte ich.

»Du willst also wirklich?«

Zwei Minuten später waren unsre Ränzel geschnallt und wir gingen, zum Abmarsch bereit, hinunter.

Als die Wirtin das sah, erhob sie ein großes Geschrei.

»Ja, will denn der junge Herr« – der junge Herr war ich – »nicht hier auf seine Eltern warten? Das wäre doch das allergescheiteste, und dann würden die Herren Eltern auch sehen, wie gut der junge Herr hier versorgt ist.«

Allein ihre Beredsamkeit vermochte nicht, mich zurückzuhalten; nachdem ich die letzte Nacht noch bezahlt hatte, ging ich auf die Straße, wo Capi und Mattia auf mich warteten.

»Aber eure Adresse?« rief uns die Alte noch nach.

Vielleicht war es ganz vernünftig, ihr meine Adresse zu hinterlassen, und ich schrieb sie ihr in ihr Buch.

»Nach London,« rief sie entsetzt, »zwei so junge Burschen in London, auf den Landstraßen, auf dem Meer!«

Ehe wir uns auf den Weg nach Boulogne machten, mußten wir dem Vater Lebewohl sagen, aber der Abschied war nicht traurig: er freute sich, daß ich nun bald meine Eltern finden sollte, und mir machte es Vergnügen, ihn wieder und wieder zu versichern, ich komme bald mit meinen Eltern wieder, um ihm zu danken.

»Auf Wiedersehen, mein Junge, viel Glück auf die Reise und schreib auch, wenn du nicht so bald zurückkommst, wie du möchtest.«

»Ich komme zurück.«

Noch an demselben Tag gingen wir in einem Zug bis nach Moisselles, wo wir auf einem Pachthof übernachteten, denn es handelte sich darum, unser Geld für die Ueberfahrt zu sparen. Wohl sagte Mattia, sie komme nicht teuer, aber wir wußten eben nicht, wie hoch sich dieses »nicht teuer« belief.

Unterwegs lehrte mich Mattia englische Wörter, denn die Frage, ob meine Eltern wohl französisch oder italienisch verstünden, beunruhigte mich sehr. Wie sollten wir uns verständigen, wenn sie nur englisch sprachen? Gar oft hatte ich mir meine Heimkehr ins väterliche Haus ausgemalt, dabei aber nie an die Möglichkeit gedacht, in meinen Herzensergießungen auf diese Weise gehemmt zu werden; außerdem erschien mir das Englische sehr schwer und ich fürchtete, zu seiner Erlernung lange Zeit zu brauchen.

Den Weg von Paris nach Boulogne legten wir in acht Tagen zurück, denn wir gaben nur in den größten Städten, durch die wir kamen, Vorstellungen, um unser Kapital immer wieder zu ergänzen. In Boulogne angelangt, hatten wir zweiunddreißig Franken im Vermögen, also weit mehr, als zur Ueberfahrt nötig war.

Weil Mattia das Meer noch nie gesehen hatte, ging unser erster Spaziergang auf den Hafendamm; einige Minuten stand er sprachlos da, und seine Augen schweiften weit hinaus in die nebligen Fernen – dann aber schnalzte er mit der Zunge und erklärte, das sei häßlich, trübselig und schmutzig. Daran knüpfte sich eine äußerst lebhafte Erörterung, denn wir hatten gar oft vom Meer gesprochen, und ich hatte ihm stets erklärt, es sei das Schönste, was man sehen könne, und ich beharrte auch jetzt auf meiner Meinung.

»Du magst recht haben, wenn das Meer blau ist, wie du es in Cette gesehen hast,« sagte Mattia, »aber wenn es grün und gelb aussieht, wie dies Meer, und so ein grauer Himmel mit schwarzen Wolken darüber herunterhängt, dann ist es häßlich, sehr häßlich und flößt mir nicht die mindeste Lust ein, mich daraufzubegeben.«

Meistens waren Mattia und ich einer Meinung, und wenn dies einmal nicht der Fall war, so schloß er sich meiner oder ich mich seiner Meinung an, aber diesmal bestand ich auf meinem Kopf und erklärte sogar, dies grüne, unergründliche Meer mit den vom Wind zerrissenen dunklen Wolken darüber sei noch viel schöner, als ein blaues unter blauem Himmel.

»Das sagst du nur, weil du ein Engländer bist, und du liebst dies abscheuliche Meer bloß, weil es das deines Vaterlandes ist.«

Das Londoner Schiff stach morgens um vier Uhr in See, und schon um halb vier Uhr waren wir an Bord, wo wir hinter einem Haufen aufeinandergeschichteter Kisten gegen den feuchten Nordwind Schutz suchten und es uns so behaglich als möglich machten.

Beim Schein einiger qualmender Laternen sahen wir zu, wie das Schiff seine Ladung einnahm; die Flaschenzüge knarrten, die Kisten krachten, als sie in den Schiffsraum hinabgelassen wurden, und von Zeit zu Zeit riefen sich die Matrosen mit rauher Stimme einige Worte zu; aber all der Lärm wurde übertönt von dem Zischen und Brausen des Dampfes, der in kleinen, weißen Wolken der Maschine stoßweise entwich. Eine Glocke ertönte, die Anker wurden gelichtet – wir waren auf dem Weg nach meinem Vaterland.

Oft hatte ich Mattia versichert, es gebe nichts Schöneres als eine Wasserfahrt, da gleite man so ruhig und sanft auf dem Wasser dahin – es sei reizend – ganz wie in einem Traum.

Dabei hatte ich natürlich den »Schwan« und unsre Fahrt auf dem »Kanal du Midi« im Auge gehabt, aber das Meer hatte nicht die mindeste Aehnlichkeit mit dem Kanal. Kaum waren wir aus dem Hafen draußen, so schien sich der Dampfer in die tiefsten Tiefen des Meeres versenken zu wollen und wiederholte diese Bewegung, von heftigen Stößen begleitet, vier- oder fünfmal, daß es war, als säßen wir in einer ungeheuren Schaukel; während dieser Stöße entwich der Dampf mit schrillem Geräusch, dann trat eine gewisse Stille ein und man vernahm nichts mehr, als das Rauschen der Schaufeln, die je nach der Neigung des Schiffes bald auf der einen, bald auf der andern Seite ins Wasser fuhren.

»Na, dein Gleiten ist ja ganz allerliebst,« sagte Mattia, worauf ich ihm die Antwort schuldig blieb, weil ich damals noch nicht wußte, was eine Barre ist; indessen trug nicht nur die Barre, die das Schiff in eine schlingernde, schwankende Bewegung versetzte, die Schuld an der Heftigkeit der Erschütterung, sondern auch auf dem offenen Meer ging die See sehr hoch.

Plötzlich erhob sich Mattia, der schon geraume Zeit verstummt war.

»Was hast du denn?« fragte ich.

»Nichts, als daß es mir denn doch zu arg tanzt, und daß mir todübel ist.«

»Das ist die Seekrankheit.«

»Zum Kuckuck auch, das spür' ich wohl!«

Gleich darauf lief er eilends fort und neigte sich über den Bord des Schiffes hinaus.

Ach Gott, was war der arme Mattia krank! Wohl nahm ich ihn in die Arme und legte seinen Kopf an meine Brust, aber davon wurde ihm nicht besser; er seufzte und stöhnte und sprang von Zeit zu Zeit auf, um seinen Kopf wieder und wieder über den Bord des Schiffes hinauszubeugen; nach vollbrachter That kehrte er dann zu mir zurück und schmiegte sich wieder an mich an.

Als der Tag anbrach – ein bleicher, nebliger, sonnenloser Tag – sahen wir weiße, steile Klippen vor uns und hier und dort bemerkte man stillliegende Schiffe mit gerefften Segeln; allmählich ließ auch das Schlingern nach, und unser Schiff glitt auf glattem Wasser dahin, wie auf einem Kanal; zur Rechten und Linken sah man durch die Morgennebel in der Ferne bewaldete Ufer winken: wir befanden uns jetzt auf der Themse.

»Jetzt sind wir in England,« verkündete ich Mattia, der diese Freudenbotschaft indes sehr ungnädig aufnahm, sich der ganzen Länge nach auf dem Verdeck ausstreckte und sagte: »Laß mich in Ruh', ich will schlafen.«

Da ich nicht seekrank geworden war, fühlte ich auch kein Bedürfnis zu schlafen. Ich bettete nun Mattia so bequem als möglich, kletterte auf die Kisten hinauf und ließ mich, Capi zwischen den Beinen, auf der höchsten nieder.

Von hier aus übersah ich den Fluß in seinem ganzen Lauf, stromaufwärts und stromabwärts; rechts dehnte sich eine große, von weißem Schaum umsäumte Sandbank aus, während man bei einem Blick nach links sich wieder auf offener See zu befinden glaubte. Das war aber nur eine Täuschung; bald verengerten sich die bläulichen Ufer, die beim Näherkommen gelb und schlammig aussahen.

Inmitten des Stromes lag eine ganze Flotille verankert, zwischen der Dampf- und Schleppschiffe durchschossen, die lange schwarze Rauchstreifen hinter sich ließen.

Welche Menge von Schiffen und Segeln! Nie hätte ich's für möglich gehalten, daß ein Fluß dermaßen bevölkert sein könnte – und ich war ganz starr vor Staunen. Einzelne Schiffe machten sich eben segelfertig, und in ihrem Takelwerk flogen die Matrosen auf Strickleitern hin und her, die aus der Ferne aussahen, wie wenn sie aus Spinnweben wären.

Hinter uns ließ unser Dampfer eine weiße, schaumige Furche in dem gelben Wasser zurück, auf dem Trümmer aller Art herumschwammen: Bretter, Holzstücke, ganz aufgetriebene Tierleichen, Korke und Gräser; von Zeit zu Zeit stieß irgend ein großer Vogel mit mächtigem Flügelschlag auf eines dieser Ueberbleibsel herab und flog, seine Beute im Schnabel, mit einem durchdringenden Schrei sofort wieder in die Höhe.

Wie schade, daß Mattia durchaus schlafen wollte! Er thäte viel besser daran, aufzuwachen, denn hier bot sich den Blicken ein Schauspiel, das sich des Ansehens schon verlohnte und immer schöner und interessanter wurde, je weiter unser Schiff den Fluß hinauffuhr. Hier sah man außer Segel- und kleinen Dampfschiffen große Dreimaster und ungeheure Riesendampfer, die aus fernen Ländern wiederkehrten, völlig schwarze Kohlenschiffe, mit Stroh oder Heu beladene Barken, die aussahen, wie vom Strom mitfortgerissene Mieten, große, rote, weiße und schwarze Tonnen, die von der Flut im Kreis herumgewirbelt werden; dazu kam noch, was man auf beiden Ufern sehen konnte, die jetzt mit allen Einzelheiten, mit ihren zierlich bemalten Häusern, mit ihren grünen Wiesen, mit ihren nie von einem Messer berührten, unverschnittenen Bäumen deutlich zu erkennen waren.

Lange, lange saß ich da und betrachtete, ohne irgend etwas andres zu denken, bewundernd alles, was mich umgab.

Nun aber reiht sich auf den beiden Ufern der Themse Haus an Haus zu einer langen, roten Linie, die Luft verdichtet und trübt sich, denn Rauch und Nebel fließen ineinander, und kein Mensch vermag zu sagen, welcher von beiden dem andern an Dichtigkeit über ist; dann taucht an Stelle der Bäume oder des weidenden Viehs auf den Wiesen ein Wald von Masten vor uns auf.

Nun halte ich es nicht länger aus, ich klettre von meinem Beobachtungsposten herab und suche Mattia: er ist aufgewacht, und mit der Seekrankheit ist auch seine schlechte Laune verschwunden und er steigt gern mit mir auf die Kisten: auch er ist ganz geblendet und reibt sich die Augen; hier und dort ziehen sich Kanäle zwischen den Wiesen durch und münden in den Fluß – auch diese sind mit Fahrzeugen bedeckt.

Unglücklicherweise verdichten sich der Nebel und der Rauch immer mehr, und je weiter man vorwärts kommt, desto mehr trübt sich die Aussicht, desto weniger kann man sehen.

Endlich verlangsamt das Dampfboot seinen Lauf, die Maschine steht still, Taue werden ausgeworfen, wir sind in London und schiffen uns aus, während uns eine Menge Leute betrachten, aber nicht mit uns sprechen.

»Der Augenblick ist da, wo du dein Englisch verwerten kannst, lieber Mattia.«

Mattia, der an nichts Böses denkt, nähert sich einem dicken Mann mit rotem Bart und fragt ihn, den Hut in der Hand, nach dem Weg nach Green-Square.

Es will mich bedünken, als brauche Mattia ungewöhnlich lange, um sich mit dem Mann zu verständigen, der ihn mehreremal die nämlichen Worte wiederholen läßt, aber ich möchte mir um keinen Preis den Anschein geben, als zweifle ich an dem Wissen meines Freundes.

Endlich kommt er zurück.

»Das ist höchst einfach; wir brauchen nur dem Lauf der Themse zu folgen und wollen die Quais entlang gehen.«

Allein dazumal gab es in London noch keine Quais, und die Häuser gingen alle bis ans Ufer hinaus; wir sind also genötigt, durch die finstern, schmutzigen, durch Kisten, Ballen und Packen aller Art versperrten Gassen zu wandern, die am Fluß entlang zu führen scheinen; wir kommen in diesem Durcheinander nur langsam vorwärts: ich führe Capi an einem Strick und er folgt mir auf der Ferse nach; es ist erst ein Uhr, aber gleichwohl brennt das Gas in den Läden; es regnet förmlich Ruß.

Auf diese Weise gesehen, macht London durchaus nicht den nämlichen Eindruck auf uns, wie die Themse.

Immerhin kommen wir vorwärts, und von Zeit zu Zeit fragt Mattia irgend jemand, ob wir noch weit von Lincolns-Inn entfernt seien. Endlich gelangen wir an eine große Bogenwölbung, die sich über die Straße spannt und zwei Seitenthörchen hat, das ist Temple-Bar. Von neuem fragen wir nach dem Weg, und man heißt uns rechts gehen.

Nun befinden wir uns nicht mehr in einer großen, belebten und geräuschvollen Straße, sondern in kleinen, stillen Gassen, die sich wie ein Labyrinth durcheinanderwirren, und wir haben das Gefühl, uns immer nur um uns selbst herumzubewegen und gar nicht vorwärts zu kommen. Plötzlich, gerade als wir glauben, uns ganz verlaufen zu haben, stehen wir auf einem kleinen Kirchhof voller Gräber, deren schwarze Steine aussehen, als seien sie mit Ofenschwärze oder Wichse angestrichen worden: das ist » Green Square«.

Während Mattia einen vorüberschwebenden Schatten befragt, bleibe ich stehen, um das laute Pochen meines Herzens zu unterdrücken, ich bekomme keine Luft mehr, ich zittere am ganzen Leib.

Dann raffe ich mich auf und folge Mattia, und wir bleiben vor einem Messingschild stehen, auf dem wir lesen: » Greth und Galley«.

Mattia will die Glocke ziehen, aber ich halte ihn zurück.

»Was hast du?« fragte er, »du bist ja ganz bleich.«

»Warte nur ein wenig! Ich muß mir erst ein Herz fassen.«

Es klingelt und wir treten ein.

Ich bin dermaßen aufgeregt, daß ich nichts deutlich erkenne, doch scheint es mir, daß wir in einer Kanzlei sind, wo zwei oder drei Leute bei dem Schein summender Gasflammen, über ihre Pulte gebückt, schreiben.

Mattia wendet sich an einen dieser Leute, denn selbstverständlich habe ich ihn gebeten, das Wort zu führen. Aus dem, was er sagt, klingt mehreremal das Wort boy, family und Barberin an mein Ohr, und ich kann mir denken, daß er dem Mann erklärt, ich sei der Junge, mit dessen Aufsuchung Barberin betraut worden war. Der Name Barberin verfehlt seine Wirkung nicht: man sieht uns an, und der, mit dem Mattia zuerst gesprochen hat, steht auf und öffnet uns eine Thür.

Wir treten in ein mit Büchern und Akten überfülltes Gemach: ein Herr sitzt vor einem Schreibtisch und ein zweiter, in Robe und Perücke, der mehrere blaue Aktenstücke in der Hand hält, spricht mit ihm.

In wenig Worten erklärt der Mann, der uns hereingeführt hat, wer wir sind, und darauf mustern uns die beiden Herren von Kopf zu Fuß.

»Welcher von euch ist der von Barberin aufgezogene Knabe?« fragte der am Schreibtisch sitzende Herr auf französisch.

»Ich, mein Herr,« entgegnete ich, vom Klang der vertrauten Sprache ermutigt, und trat einen Schritt vor.

»Wo ist Barberin?«

»Er ist tot.«

Die beiden Herren sehen sich einen Augenblick an, dann verläßt der mit der Perücke das Zimmer.

»Wie seid ihr denn hierhergekommen?« fragte der Herr weiter.

»Zu Fuß bis Boulogne, und von Boulogne bis London auf dem Schiff; wir sind eben erst gelandet.«

»Dann hat euch Barberin wohl Geld gegeben?«

»Wir haben Barberin gar nicht gesehen.«

»Wie habt ihr euch denn hierher gefunden?«

So kurz als möglich erteilte ich die verlangte Auskunft; auch mich drängte es, einige Fragen zu stellen, besonders eine brannte mir auf den Lippen, aber ich kam nicht dazu.

Während meiner Erzählung machte sich der Herr, dessen Gesicht etwas Hartes und dessen Lächeln etwas Malitiöses hatte, Notizen und betrachtete mich auf eine Weise, die mich in Verlegenheit brachte.

»Und was ist denn das für ein Junge?« fragte er und deutete mit der Spitze seiner Stahlfeder auf Mattia, als wolle er einen Pfeil auf ihn abschnellen.

»Mein Freund, mein Gefährte, mein Bruder.«

»Sehr gut; also nicht eine Bekanntschaft von der Landstraße her?«

»Der zärtlichste, der liebevollste Bruder von der Welt!«

»O, ich zweifle nicht daran.«

Nun schien mir endlich der Augenblick gekommen, nach dem zu fragen, was mir so sehr am Herzen lag: »Lebt meine Familie in England?«

»Gewiß, in London, wenigstens im Augenblick.«

»Dann werde ich sie also sehen?«

»In wenig Augenblicken wirst du mit ihr vereint sein; ich werde dich hinführen lassen.«

Er klingelte.

»Noch ein Wort, mein Herr – habe ich einen Vater?«

»Nicht nur einen Vater, sondern auch eine Mutter und Brüder und Schwestern.«

Aber nun ging die Thüre auf, und das machte meinen Herzensergüssen ein Ende – ich konnte nur noch Mattia einen thränenfeuchten Blick zuwerfen.

Der Herr sprach mit dem Eintretenden englisch, und ich glaubte zu verstehen, daß ihm gesagt wurde, wohin er uns führen solle.

Ich war aufgestanden.

»Ach, ich vergaß dir zu sagen,« sagte der Herr, »daß dein Name Driscoll ist – so heißt dein Vater.«

Ich glaube, trotz seines unguten Gesichtes, wäre ich ihm um den Hals gefallen, wenn er mir Zeit dazu gelassen hätte, allein er wies mit der Hand nach der Thüre, und wir gingen fort.


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