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Einunddreißigstes Kapitel.
Die alte und die neue Familie

In dieser Nacht schlief ich nur wenig, und doch hatte ich mich so sehr darauf gefreut, wieder in meinem Kinderbett zu liegen, wo ich einstens so viele gute Nächte durchgeschlafen hatte, ohne auch nur ein einziges Mal aufzuwachen; und wie oft hatte ich mich, von der Kälte der Nacht durchschauert oder vom Morgentau bis auf die Knochen durchnäßt, nach dem molligen, warmen Deckbett gesehnt, das ich mir sonst bis an die Nasenspitze heraufgezogen hatte!

Wohl schlief ich, von all den Aufregungen und Anstrengungen des gestrigen und des heutigen Tages übermüdet, ein, sobald ich im Bett lag, aber bald schreckte ich aus dem Schlummer auf und konnte dann den Schlaf nicht mehr finden, so fieberhaft erregt war ich.

Meine Familie!

In dem Gedanken an diese Familie war ich eingeschlafen und hatte von Vater, Mutter, Brüdern und Schwestern geträumt und mit ihnen, die ich noch nicht kannte, ein paar flüchtige Minuten durchlebt. Mattia, Lieschen, Mutter Barberin, Frau Milligan, Arthur – alle gehörten sie zu meiner Familie, und mein Vater war der wieder auferstandene, steinreiche Vitalis, und dieser hatte während unsrer Trennung auch Dolce und Zerbino, die nicht von den Wölfen zerrissen worden waren, wieder aufgefunden.

Beim Erwachen sah ich sie alle noch vor mir, als hätten wir eben den Abend zusammen verbracht, und natürlich konnte ich nicht mehr einschlafen.

Daß mich aber meine Familie suchen ließ, das war kein Traumgebilde, das war Wirklichkeit, aber um sie aufzufinden, mußte ich mich an Barberin wenden, und dieser Gedanke trübte meine Freude. Es wäre mir unendlich lieber gewesen, Barberin hätte mit meinem Glück nichts zu thun gehabt; ich hatte nicht vergessen, wie er zu Vitalis gesagt hatte: »Die dies Kind aufgezogen haben, werden einen erklecklichen Profit machen.«

Nicht aus Mitleid hatte er mich auf der Straße aufgelesen und mich zu sich genommen, sondern nur, weil ich in schönes Kinderzeug gehüllt war, und weil er hoffte, mich meinen Eltern einst mit Vorteil wieder zustellen zu können. Aber dieser Tag hatte zu lange auf sich warten lassen, und deshalb hatte er mich an Vitalis verkauft – jetzt wollte er mich an meinen Vater verkaufen.

Welcher Unterschied zwischen diesem Mann und seiner Frau! Mutter Barberin hatte mich nicht ums Geld geliebt, – ach, wie gerne hätte ich Mittel und Wege gefunden, den zu erwartenden Vorteil ihr zuzuwenden!

Aber ich mochte mir den Kopf zerbrechen, wie ich wollte – ich konnte Barberin nicht umgehen, wenn ich meine Eltern finden wollte, und mußte nun, statt, wie ich gehofft hatte, ein paar Tage ruhig hier bleiben zu können, nach Paris eilen und ihn dort aufzufinden suchen. Leider wußte Mutter Barberin nur, daß ihr Mann in Paris sei, aber seit seiner Abreise hatte er ihr nicht geschrieben und auch nicht, wie sonst, durch einen heimkehrenden Landsmann Nachricht geschickt.

Wo war er? Wo wohnte er? Auch das wußte sie nicht so genau, daß sie ihm hätte einen Brief schreiben können, aber man brauchte nur bei einigen Zimmervermietern im Quartier Mouffetard nach ihm zu fragen, dann würde man ihn bei dem einen oder dem andern sicher finden.

Gewiß war es für mich eine große unverhoffte Freude, eine Familie zu haben, aber sie wurde mir erstens dadurch getrübt, daß ich nicht bei Mutter Barberin bleiben, und zweitens, Lieschen keine Nachricht von ihren Geschwistern bringen konnte.

Von all diesen Gedanken bewegt, verbrachte ich die Nacht; bald sagte ich mir, ich dürfe Etiennette und Lieschen nicht im Stich lassen, bald meinte ich, ich könne gar nicht schnell genug nach Paris kommen, um meine Familie zu finden.

Endlich schlief ich wieder ein, ohne zu einem festen Entschluß gekommen zu sein, und diese Nacht, auf die ich mich so sehr gefreut hatte, steht als eine der peinvollsten in meiner Erinnerung.

Am andern Morgen, als wir alle drei um den Herd herumsaßen, auf dem die Milch von unsrer Kuh warm gemacht wurde, hielten wir Kriegsrat.

»Was soll ich thun?« fragte ich und setzte ihnen allen meine Aengste und Bedenken auseinander.

»Du mußt schleunigst nach Paris gehen,« sagte Mutter Barberin, »deine Eltern suchen dich, und du darfst ihre Freude nicht verzögern.«

»Also, es ist abgemacht, dann gehen wir nach Paris,« erklärte ich.

Aber dieser Entschluß wurde von Mattia durchaus nicht gebilligt.

»Du meinst, wir sollen nicht nach Paris gehen, aber warum begründest du diese Ansicht nicht auch wie Mutter Barberin die ihre?«

Er schüttelte den Kopf.

»Du siehst doch, wie mich das aufregt, und solltest dich nicht lange besinnen, mir zu Hilfe zu kommen.«

Endlich sagte er: »Ich finde, daß man über den Neuen die Alten nicht vergessen sollte. Bis jetzt waren Lieschen, Etiennette, Alexis und Benjamin deine Familie; sie waren deine Geschwister und haben dich lieb gehabt. Nun aber zeigt sich dir eine neue Familie, die du noch gar nicht kennst, die nichts für dich gethan hat, als dich auf der Straße auszusetzen, und plötzlich läßt du die, die gut gegen dich waren, im Stich, und zwar denen zu lieb, die sich schlecht benommen haben. Ich halte das nicht für gerecht.«

»Du kannst nicht behaupten, daß Remis Eltern ihn ausgesetzt haben,« unterbrach ihn Mutter Barberin; »vielleicht hat man ihnen ihr Kind gestohlen, und sie beweinen, suchen es bis auf den heutigen Tag.«

»Das weiß ich nicht, aber ich weiß, daß der Vater Acquin Remi sterbend vor seiner Thür gefunden und für ihn gesorgt hat wie für sein eigen Kind; und ich weiß auch, daß Alexis, Benjamin, Etiennette und Lieschen ihn wie ihren Bruder geliebt haben, und ich behaupte, daß die, die ihn so bei sich aufgenommen haben, mindestens ebensoviel Anspruch auf seine Liebe haben, als die, die ihn, sei es nun freiwillig oder unfreiwillig, verloren haben. Die Freundschaft Vater Acquins und seiner Kinder ist eine freiwillige gewesen – sie haben keine Verpflichtungen gegen Remi gehabt.«

Mattia sprach diese Worte, wie wenn er böse auf mich wäre, und sah weder Mutter Barberin, noch mich dabei an. Das that mir weh, aber trotz des Verdrusses darüber, mich so getadelt zu sehen, empfand ich die ganze Macht dieser Beweise. Uebrigens sah ich mich ganz in der Lage unentschlossener Menschen, die häufig dem recht geben, der zuletzt gesprochen hat.

»Mattia hat recht,« erklärte ich, »und ich habe mich auch keineswegs mit leichtem Herzen dazu entschlossen, nach Paris zu gehen, ohne Etiennette und Lieschen gesehen zu haben.«

»Aber deine Eltern!« drängte Mutter Barberin weiter.

Ich mußte mich entscheiden und suchen, alles in Einklang zu bringen.

»Wir besuchen Etiennette nicht,« erklärte ich, »weil das ein allzu großer Umweg wäre; außerdem kann Etiennette ja lesen und schreiben, und wir können uns mit ihr brieflich in Verbindung setzen. Aber ehe wir nach Paris gehen, besuchen wir Lieschen in Dreuzy; das ist kein großer Umweg, und Lieschen kann nicht lesen und nicht schreiben, und ich habe doch hauptsächlich um ihretwillen die Reise unternommen; ich kann ihr dann wenigstens von Alexis erzählen, und außerdem bitte ich Etiennette, mir nach Dreuzy zu schreiben, und dann kann ich Lieschen auch ihren Brief vorlesen.«

»So ist's recht,« sagte Mattia und lächelte beifällig.

Unsre Abreise wurde nun auf den nächsten Morgen festgesetzt, und ich verbrachte einen Teil des Tages damit, einen langen Brief an Etiennette zu schreiben, worin ich hauptsächlich erklärte, warum ich meine Absicht, sie zu besuchen, nicht ausführen könne.

Am nächsten Morgen mußte ich wieder einmal den Schmerz des Abschiedsnehmens durchkosten, aber diesmal verließ ich Chavanon doch nicht wie damals mit Vitalis; ich konnte wenigstens Mutter Barberin umarmen und ihr versprechen, sie bald mit meinen Eltern zu besuchen. Den ganzen Abend hatten wir erörtert, was ich ihr alles schenken würde: ich sollte nun ja reich werden.

»Nichts wird mir so viel Freude machen können, wie deine Kuh, lieber Remi,« sagte sie, »mit all deinem Reichtum kannst du mich nicht glücklicher machen, als du es mit deiner Armut gethan hast.«

Auch von unsrer lieben kleinen Kuh mußten wir uns nun trennen; Mattia küßte sie mindestens zehnmal aufs Maul, was ihr sehr zu gefallen schien, denn bei jedem Kuß streckte sie ihre lange Zunge heraus.

Nun sind wir wieder auf der Landstraße: den Ranzen auf dem Rücken, Capi voran, wandern wir dahin, und von dem Wunsche beseelt, möglichst bald nach Paris zu gelangen, beschleunige ich ab und zu ganz unbewußt meine Schritte.

Aber Mattia macht mich bald darauf aufmerksam, daß auf diese Weise unsre Kraft bald erschöpft sein würde, und dann verlangsame ich meine Schritte, um ganz gegen meinen Willen bald wieder in eine raschere Gangart zu verfallen.

»Was du's eilig hast!« sagte Mattia mißgestimmt.

»Es ist wahr, aber ich meine, du solltest es ebenso eilig haben, denn meine Familie wird auch die deine sein.«

Er schüttelte den Kopf, wie er schon öfters gethan hatte, wenn von meiner Familie die Rede war, was mich ärgerte und kränkte.

»Sind wir denn nicht Brüder?«

»O ja, wir unter uns; das bezweifle ich nicht im mindesten; dir bin ich heute ein Bruder und werde es auch morgen sein, das glaube und fühle ich.«

»Nun also?

»Wie willst du mich denn zu dem Bruder deiner Brüder – wenn du welche hast – und zum Sohn deines Vaters und deiner Mutter machen?«

»Wäre ich, wenn wir nach Lucca gekommen wären, nicht auch der Bruder deiner Schwester Christina gewesen?«

»O, ganz gewiß!«

»Warum willst du also nicht auch der Bruder meiner Geschwister sein, falls ich welche habe?«

»Weil das etwas ganz, ganz andres ist.«

»Inwiefern?«

»Ich bin nicht in schönes Kindszeug eingemacht gewesen,« sagte Mattia.

»Und was macht denn das aus?«

»O, sehr viel – alles, das weißt du so gut als ich. Wärst du nach Lucca gekommen – ich sehe ja gut, daß daraus jetzt auch nichts mehr wird – so wärest du von meinen Angehörigen, von armen Leuten empfangen worden, und sie hätten dir nichts vorwerfen können, weil sie noch ärmer gewesen wären als du. Aber das schöne Kindszeug beweist, wie Mutter Barberin meint, daß deine Eltern reich, vielleicht vornehme Leute sind! Wie kannst du denn glauben, daß sie so einen armen Tropf, wie mich, bei sich aufnehmen würden?«

»Was bin ich selbst denn andres als ein armer Tropf?«

»Heute, ja, aber morgen bist du ihr Sohn, während ich auch morgen bleibe, was ich heute war. Man wird dich ins Gymnasium schicken, dir Lehrer halten, und mir bleibt nichts übrig, als einsam weiterzuziehen und an dich zu denken, wie du hoffentlich auch an mich denken wirst.«

»O, mein lieber Mattia, wie kannst du so was sagen!«

»Ich spreche wie ich denke, o mio caro, und nur, weil wir voneinander getrennt werden, nur deshalb kann ich deiner Freude nicht froh werden. Wir werden voneinander scheiden müssen, und ich habe mir eingebildet, wir würden immer, immer bei einander bleiben, wie jetzt. Das heißt, nicht als das, was wir jetzt sind – ich hatte mir ausgemalt, wie wir miteinander lernen und fleißig sein und dann vielleicht rechte Musiker werden würden, die vor einem rechten Publikum spielen: das alles hätten wir miteinander gethan und uns niemals getrennt!«

»Aber so wird's auch kommen, lieber Mattia; wenn meine Eltern reich sind, so sind sie's für dich wie für mich; wenn sie mich aufs Gymnasium schicken, so kommst du mit mir; wir trennen uns nicht, wir lernen miteinander und bleiben immer zusammen, wie du es dir ausgemalt hast, und wie ich es mir ebenso wünsche, wie du.«

»Ich weiß, daß du's auch wünschest, aber du bist dann nicht mehr dein eigener Herr, wie jetzt.«

»Jetzt hör' mal! Daß meine Eltern mich suchen, beweist doch, daß sie sich für mich interessieren, daß sie mich lieben oder lieben lernen werden; wenn sie mich aber lieben, so werden sie mir die Bitte nicht abschlagen, die ich an sie richten werde: alle diejenigen glücklich zu machen, die so gut gegen mich gewesen sind und die mich lieb gehabt haben, als ich noch allein in der Welt stand, und das sind, außer dir, Mutter Barberin, Vater Acquin, den man aus dem Gefängnis befreien muß, Etiennette, Alexis, Benjamin und Lieschen. Lieschen müssen sie zu sich nehmen, heilen und unterrichten lassen, und dich muß man mit mir aufs Gymnasium thun, falls man mich hinschickt. So wird und muß es kommen – wenn meine Eltern reich sind, und ich versichre dich, es wäre mir sehr lieb, wenn sie's wären.«

»Und mir wär's sehr lieb, wenn sie arm wären.«

»Bist du dumm!«

»Mag leicht sein.«

Ohne ein Wort weiter, rief Mattia Capi herbei, denn es war mittlerweile Zeit geworden für unsre Frühstücksrast. Mattia nahm den Hund in die Arme und fragte ihn, wie einen vernünftigen Menschen: »Nicht wahr, alter Capi, dir wär's auch lieber, wenn Remi arme Eltern bekäme?«

Wie gewöhnlich, wenn er meinen Namen nennen hörte, ließ Capi ein befriedigtes Bellen vernehmen und legte seine rechte Pfote aufs Herz.

»Mit armen Eltern setzen wir alle drei unser freies Leben fort, wir gehen, wohin wir mögen, und haben für nichts zu sorgen, als ein verehrliches Publikum zufriedenzustellen.«

»Wau, wau!«

»Dagegen wird Capi bei reichen Eltern in den Hof, in eine Hundehütte gesperrt und wahrscheinlich an die Kette – an eine schöne stählerne Kette, aber doch immerhin eine Kette – gelegt, weil reiche Leute keine Hunde im Hause dulden.«

Bis zu einem gewissen Grad war ich Mattia böse, weil er mir arme Eltern wünschte, statt den Traum mit mir zu träumen, den Mutter Barberin in mir wachgerufen und in den ich mich so schnell versenkt hatte, doch freute ich mich andrerseits über seine innige Freundschaft zu mir und seine Angst, von mir getrennt zu werden, die ja seiner Mißstimmung zu Grunde lagen. Ja, Mattia liebte mich, er dachte nur an unsre gegenseitige Zuneigung und wollte durchaus nicht, daß wir getrennt würden.

Hätten wir nicht unterwegs unser täglich Brot verdienen müssen, so wäre ich wohl trotz Mattias Einwendungen immer weiter geeilt, so aber sah ich mich genötigt, in den großen Dörfern auf unserm Weg zu spielen, und in Erwartung des Augenblicks, wo meine reichen Eltern ihre Schätze mit uns teilen würden, mußten wir uns mit den kleinen Sousstückchen begnügen, die wir hier und dort mühsam genug zusammenbrachten.

So aber brauchten wir von Chavanon nach Dreuzy länger, als mir lieb war.

Uebrigens lag, abgesehen von unserm Unterhalt, ein andrer Grund vor, der uns zwang, auf möglichst große Einnahmen bedacht zu sein. Ich hatte nicht vergessen, daß Mutter Barberin gesagt hatte, mit allen meinen Reichtümern würde ich ihr keine so große Freude machen können, als ich es durch meine Armut gethan hatte, und deshalb wollte ich auch das kleine Lieschen so glücklich machen wie Mutter Barberin. Selbstverständlich würde ich mit Lieschen meinen ganzen Reichtum teilen, darüber konnte ja kein Zweifel bestehen, wenigstens nicht für mich, aber vorher wollte ich Lieschen ein Geschenk mitbringen, das ich von selbstverdientem Geld kaufte – ein Geschenk der Armut.

Es bestand in einer in Decize gekauften Puppe, die gottlob weniger teuer kam, als eine Kuh.

Von Decize nach Dreuzy konnten wir uns mit gutem Gewissen beeilen, denn wir kamen mit wenig Ausnahmen, nur durch arme Dörfer, deren Bewohner nicht geneigt waren, sich gegen arme Musikanten, die sie gar nichts angingen, sehr freigebig zu erweisen.

Von Châtillon aus folgten wir den Ufern des Kanals, und diese bewaldeten Ufer, das klare Wasser, die von Pferden geschleppten Boote, die so langsam dahinglitten – alles versetzte mich in die glückliche Zeit zurück, wo ich mit Frau Milligan und Arthur auf dem »Schwan« ebenso dahingeschwommen war. Wo mochte der »Schwan« jetzt weilen? Wie oft, wie oft hatte ich nicht, wenn ich an einen Kanal kam oder an einem solchen entlang wanderte, nach dem nicht zu verkennenden »Schwan« Erkundigungen eingezogen. Vermutlich war Frau Milligan mit dem wiedergenesenen Arthur heimgekehrt – dies war die wahrscheinlichste und jedenfalls auch die vernünftigste Vermutung, trotzdem dachte ich bei jedem derartigen Schiff, das uns entgegenkam: wenn das der »Schwan« wäre!

Es war Herbst und wir konnten unsre Tagemärsche weniger lang ausdehnen, als im Sommer, deshalb suchten wir es immer so einzurichten, daß wir morgens früher aufbrachen, um nicht allzuspät in den Dörfern einzutreffen, wo wir übernachten wollten; aber obgleich wir, besonders gegen das Ende des Weges, unsre Schritte sehr beschleunigt hatten, trafen wir erst bei völliger Dunkelheit in Dreuzy ein.

Da der Mann Tante Katharines Schleusenwärter war und neben seiner Schleuse wohnte, brauchten wir nur am Kanal weiterzugehen, um das Haus zu finden, das am äußersten Ende des Dorfes inmitten einer mit hohen Bäumen bepflanzten Wiese stand.

Mein Herz schlug heftig, als wir uns dem Hause näherten, dessen Thür und Fenster geschlossen waren. Das letztere war weder mit Läden noch mit Gardinen versehen und leuchtete rötlich im Wiederschein eines großen, flammenden Kaminfeuers. Ich sah Lieschen neben ihrer Tante am Tisch sitzen, während uns ein ihr gegenübersitzender Mann, wahrscheinlich der Onkel, den Rücken zukehrte.

»Das ist der richtige Augenblick,« sagte Mattia, »wir kommen gerade recht zum Nachtessen.«

Ohne ein Wort zu sprechen, hielt ich ihn mit einer Hand zurück, während ich mit der andern Capi ein Zeichen gab, ruhig hinter mir zu bleiben.

Dann nahm ich meine Harfe von der Schulter und schickte mich an, zu spielen.

»O ja,« sagte Mattia leise, »ein Ständchen! Das ist ein guter Gedanke!«

»Du nicht! Ich allein.«

Und nun spielte ich die ersten Takte meines neapolitanischen Liedes, sang aber nicht, um mich nicht durch meine Stimme zu verraten.

Während ich spielte, beobachtete ich Lieschen und sah, wie sie rasch mit dem Kopf in die Höhe fuhr und wie ihre Augen aufleuchteten.

Nun fing ich an zu singen.

Sofort war sie vom Stuhl gesprungen und aus der Thür gestürzt: ich hatte gerade noch Zeit, Mattia meine Harfe zu geben, um Lieschen in meinen Armen auffangen zu können.

Man holte uns ins Haus, und nachdem Tante Katharine mich geküßt und umarmt hatte, legte sie zwei weitere Gedecke auf, aber ich bat sie, auch noch für eine dritte Person zu decken, da wir noch eine kleine Freundin bei uns hätten.

Damit zog ich unsre Puppe aus meinem Ranzen und setzte sie auf den Stuhl neben Lieschen.

Den Blick, den mir Lieschen zuwarf, habe ich nie vergessen und sehe ihn noch heute.


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