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Achtunddreißigstes Kapitel.
Arthurs Onkel. – Herr James Milligan

Wäre ich an Mattias Stelle gewesen, so hätte ich vielleicht ebensoviel Einbildungskraft entwickelt, wie er, aber in meiner Lage durfte ich mir die Gedankenfreiheit nicht gestatten, die er sich erlaubte, denn es handelte sich um meinen Vater, dem ich Ehrfurcht schuldete, wenn er auch für Mattia nur »der Driscoll« war, von dem er denken konnte, was er wollte. Unstreitig war manches recht merkwürdig, aber mir war jeder Zweifel verboten, wenn er auch Mattia gestattet war. Deshalb versuchte ich es auch, Mattia zum Schweigen zu bringen, sobald er anfing, mir seine Zweifel mitzuteilen; doch gelang mir dies durchaus nicht immer, und dann mußte ich seine Fragen über mich ergehen lassen.

»Warum haben Allen, Ned, Annie und Kate strohblonde Haare, und warum bist du nicht auch blond?« fragte er immer wieder.

»Warum behandelt dich die ganze Familie Driscoll, mit Ausnahme der kleinen Kate, die noch nicht weiß, was sie thut, wie einen räudigen Hund?«

»Wie können Leute, die nicht reich sind, ihre Kinder in Spitzen kleiden?«

All diese Fragen konnte ich nur mit einer Gegenfrage halbwegs beantworten.

»Warum hätte mich die Familie Driscoll suchen lassen, wenn ich nicht ihr Kind wäre? Warum hätten sie Barberin und Greth und Galley bezahlt?«

Darauf mußte Mattia die Antwort schuldig bleiben, trotzdem erklärte er sich aber noch lange nicht für besiegt.

»Daß ich deine Frage nicht zu beantworten vermag, beweist noch lange nicht, daß ich mit meiner Ansicht unrecht habe. Ein andrer an meiner Stelle würde wohl leicht herausbringen, warum er dich gesucht und das Geld dafür ausgegeben hat. Ich finde es nur nicht heraus, weil ich zu dumm bin und von nichts was verstehe.«

»Red' nur nicht so, du bist im Gegenteil schlauer als schlau.«

»Wenn ich das wäre, könnte ich dir das alles vermutlich leicht erklären, so kann ich's nicht, aber das fühle ich bestimmt: du gehörst nicht zur Familie Driscoll, du bist nicht dieser Leute Kind und kannst es gar nicht sein, und das wird später schon noch einmal herauskommen. Aber durch den Eigensinn, mit dem du nicht sehen und nicht hören willst, verzögerst du selbst den Augenblick der Entdeckung. Ich verstehe ganz gut, daß dir das, was du die Achtung vor deiner Familie nennst, eine gewisse Zurückhaltung auferlegt, aber es dürfte dich nicht vollständig lähmen.«

»Was soll ich denn thun?«

»Mit mir nach Frankreich zurückkehren.«

»Das ist unmöglich.«

»Weil dich die Pflicht bei deiner Familie zurückhält, aber was hält dich denn zurück, wenn sie gar nicht deine Familie ist?«

Derartige Erörterungen hatten nur das eine Ergebnis, mich unglücklicher zu machen, als ich es je gewesen war, denn nichts ist fürchterlicher als der Zweifel. Woher sollte mir Licht und Klarheit kommen? Wie sollte ich je die Wahrheit erfahren? Und dabei mußte ich singen, Tänze spielen und lachen, auch wenn mir's noch so schwer ums Herz war.

Die Sonntage waren meine besten Tage, denn da darf man in den Straßen Londons keine Musik machen, und ich konnte mit Mattia und Capi spazieren gehen und mich meinem Schmerz überlassen. Ach Gott, wie wenig mehr glich ich dem Jungen, der ich noch wenige Monate zuvor gewesen war!

An einem dieser Sonntage, als ich mich eben anschickte mit Mattia auszugehen, hielt mich mein Vater mit der Bemerkung, er bedürfe meiner, zu Hause zurück und hieß Mattia allein spazieren gehen. Mein Großvater war nicht heruntergekommen, meine Mutter und Geschwister waren alle ausgegangen und also mein Vater und ich im Hause ganz allein.

Etwa nach einer Stunde wurde an die Thür geklopft, mein Vater öffnete und kam mit einem Herrn zurück, der in nichts den sonstigen Besuchern des Hauses glich, sondern vollständig das war, was man in England einen »Gentleman« nennt, das heißt, ein elegant gekleideter, vornehmer Herr. Er hatte ein hochmütiges, etwas abgelebtes Gesicht und mochte etwa fünfzig Jahre alt sein. Was mir am meisten an ihm auffiel, das war sein Lächeln, bei dem durch eine eigentümliche Bewegung der Lippen seine weißen, spitzigen Hundezähne ganz zum Vorschein kamen, so daß man sich fragte, ob das wirklich ein Lächeln und nicht vielmehr die Lust zu beißen sei.

Während er sich mit meinem Vater auf englisch unterhielt, wanderten seine Augen immer wieder zu mir herüber, sobald sie aber meinem Blick begegneten, gab er seine Beobachtung auf.

Nach einigen Minuten fragte er meinen Vater im reinsten, fließendsten Französisch: »Ist das der Junge, von dem Sie mir erzählt haben? Es geht dir wohl recht gut?«

»So antworte doch!« sagte mein Vater.

»Ja, mein Herr.«

»Bist du niemals krank gewesen?«

»Doch, ich habe einmal eine Lungenentzündung gehabt.«

»So? Wie hast du dir sie denn geholt?«

»Dadurch, daß ich bei einer furchtbaren Kälte im Schnee geschlafen habe; mein Herr, der bei mir war, ist erfroren, und ich habe diese Lungenentzündung davongetragen.«

»Ist das schon lange her?«

»Drei Jahre?«

»Und seither hat sich gar keine Nachwirkung dieser Krankheit fühlbar gemacht?«

Nein.«

»Keine Müdigkeit, keine Ermattung, keine Nachtschweiße?«

»Nein, nie. Ich werde nur müde, wenn ich sehr viel gegangen bin, aber das macht mich nicht krank.«

»Und du kannst jede Anstrengung leicht ertragen?«

»Das muß ich wohl.«

Nun stand er auf und kam zu mir her; dann befühlte er meinen Arm, legte mir die Hand aufs Herz, legte seinen Kopf an meinen Rücken und an meine Brust und hieß mich stark aufatmen, wie wenn ich gelaufen wäre; dann mußte ich auch noch husten.

Als dies geschehen war, sah er mir lange aufmerksam ins Gesicht, und in diesem Augenblick kam mir der Gedanke, er könne mich beißen wollen, so schrecklich war sein Lächeln.

Ohne ein weiteres Wort an mich zu richten, nahm er seine englische Unterhaltung mit meinem Vater wieder auf, und nach ein paar Minuten gingen sie beide hinaus, aber nicht durch die nach der Straße, sondern durch die in den Wagenschuppen führende Thür.

Was mochte dieser Vorgang zu bedeuten haben? Wollte mich der Herr in seinen Dienst nehmen? Dann hätte ich mich ja von Mattia und Capi trennen müssen, und außerdem war ich auch fest entschlossen, in niemandes Dienst zu treten, nicht in den eines Herrn, der mir gefiele, geschweige denn in den dieses Gentleman, der mir mißfiel.

Nach einer gewissen Zeit kam mein Vater wieder herein und sagte, er müsse ausgehen und brauche mich nun doch nicht, ich könne auch spazieren gehen, wenn ich Lust hätte.

Eigentlich hatte ich gar keine Lust, aber was sollte ich allein in dem trübseligen Haus anfangen? Da war's noch besser, auszugehen.

Da es regnete, ging ich erst in unsern Wagen, um mein Schaffell zu holen, und war über alle Maßen überrascht, Mattia dort zu finden. Schon wollte ich ihn ausfragen, aber er legte mir die Hand auf den Mund und sagte ganz leise: »Mach vorsichtig die Thür des Schuppens auf, ich schleiche mich dann hinter dir hinaus – man darf nicht wissen, daß ich hier war.«

Erst auf der Straße entschloß sich Mattia, zu sprechen.

»Weißt du, wer der Herr ist, der eben bei deinem Vater war?« fragte er. »Es ist Herr James Milligan, der Onkel deines Freundes Arthur.«

Starr vor Staunen blieb ich regungslos stehen, aber er zog mich fort und erzählte im Gehen weiter.

»Weil es mir langweilig war, an diesem trübseligen Sonntag allein in diesen Straßen herumzuschlendern, ging ich wieder heim, um zu schlafen, und legte mich auf mein Bett, schlief aber nicht. Dein Vater ist in Begleitung dieses Herrn in den Schuppen gekommen, und ohne aufzupassen, habe ich gehört, was sie sprachen.

»›Eine felsenfeste Gesundheit das,‹ hat der Herr gesagt, ›zehn andre wären daran zu Grunde gegangen, aber er kommt mit einer Lungenentzündung davon.‹

»Nun habe ich aufgepaßt, weil ich dachte, es sei von dir die Rede, aber gleich sprang die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand über.

»›Wie geht es Ihrem Neffen?‹ fragte dein Vater.

»›Besser; er wird noch einmal davonkommen. Vor drei Monaten gaben ihn alle Aerzte auf, aber seine liebe Mutter hat ihn mit ihrer Pflege noch einmal herausgerissen. Ja, ja, Frau Milligan ist eine gute Mutter!‹ – Na, du kannst dir denken, wie ich bei diesem Namen die Ohren spitzte.

»›Da es Ihrem Neffen besser geht, sind also alle Ihre Vorsichtsmaßregeln vergeblich?‹

»›Vielleicht für den Augenblick‹ entgegnete der Herr; ›aber ich kann durchaus nicht gelten lassen, daß Arthur am Leben bleibe, denn das wäre ein Wunder, und heutzutage geschehen keine Wunder mehr. Am Tag seines Todes aber muß ich gegen jede Wiederkehr gesichert und ich, James Milligan, der einzige Erbe sein!‹

»›Seien Sie ohne Sorge‹, sagte dein Vater, ›das wird der Fall sein, ich stehe Ihnen dafür.‹

»›Ich verlasse mich fest auf Sie,‹ sagte der Herr und setzte noch einige Worte hinzu, die ich nicht ganz verstanden habe und die keinen Sinn zu haben scheinen, ich glaube aber, daß es hieß: ›Wenn dieser Augenblick gekommen ist, werden wir sehen, was wir zu thun haben.‹ Und dann ging er.«

Im ersten Augenblick wollte ich nach Hause zurück und meinen Vater nach der Adresse Herrn Milligans fragen, um Nachricht von Arthur und seiner Mutter zu bekommen. Aber sofort sagte ich mir, daß es Wahnsinn wäre, sich bei einem Mann, der mit Ungeduld auf den Tod seines Neffen wartet, nach dem Befinden eben dieses Neffen zu erkundigen. Und dann wäre es außerdem auch sehr unvorsichtig gewesen, Herrn Milligan zu verraten, daß er belauscht worden war.

Arthur war am Leben und auf dem Weg der Besserung, und für den Augenblick gewährte mir diese gute Nachricht Freude genug.


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