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Sechzehntes Kapitel.
Ankunft in Paris

Wir waren noch sehr weit von Paris entfernt und mußten von morgens bis abends dem schneidenden Nordwind entgegen auf den schneebedeckten Wegen weitermarschieren.

Wie traurig und trübselig diese langen Wanderungen waren!

Vitalis ging vorne draus, ich hinter ihm und Capi machte den Schluß. So wandelten wir mit vor Kälte blauen Gesichtern, mit leerem Magen und nassen Füßen weiter, ohne ein Wort miteinander zu reden, und die Leute, denen wir begegneten, blieben stehen und guckten uns verwundert nach. Sie mochten sich fragen, wohin wohl der stattliche alte Mann dieses Kind und diesen Hund bringen wolle.

Das Schweigen war für mich, der so sehr danach verlangte, zu sprechen und sich ein wenig zu zerstreuen, doppelt schmerzlich, aber richtete ich einmal das Wort an Vitalis, so antwortete er mir einsilbig und wendete sich nicht einmal nach mir um.

Glücklicherweise war Capi mitteilsamer, und gar manchmal leckte er mir mit seiner feuchten, warmen Zunge die Hand, als wolle er sagen: »Sei ruhig, ich bin da, ich, dein Freund Capi!« worauf ich ihn dann im Weitergehen zärtlich streichelte.

Er war mir für diese Liebesbeweise so dankbar, als ich ihm für die seinen, denn das Herz eines Hundes ist nicht minder zartfühlend als das eines Kindes.

Meine Liebkosungen waren für Capi ein solcher Trost, daß er für Augenblicke sogar den Tod seiner Kameraden vergessen konnte: dann gewann die Macht der Gewohnheit die Oberhand, und plötzlich blieb er mitten auf der Straße stehen, als wollte er, wie zur Zeit, als er noch Korporal war, seine Truppe an sich vorbeiziehen lassen.

Aber das dauerte nur wenige Augenblicke, dann erwachte die Erinnerung in ihm und er sprang an mir vorbei zu Vitalis und blickte ihn mit seinen klugen Augen so ausdrucksvoll an, als solle ihm dieser bezeugen, daß es nicht seine Schuld sei, wenn Dolce und Zerbino nicht mehr wiederkämen.

Das trug auch nicht zu unsrer Aufheiterung bei, und doch hätte uns – mir wenigstens – ab und zu ein bißchen Zerstreuung so not gethan.

Ueberall, soweit das Auge reicht, breitet der Schnee sein weißes Leichentuch über die Landschaft: am Himmel statt des Sonnenscheins ein fahles, bleiches Licht; auf den Feldern kein Leben, keine Bewegung, keine arbeitenden Landleute: kein Pferdegewieher, kein Ochsengebrüll, nichts als das Gekreisch hungriger Krähen, die auf den höchsten Höhen der kahlen Bäume sitzen und weit und breit kein Fleckchen Erde finden, auf dem sie nach einem Würmchen suchen können; in den Dörfern lauter geschlossene Häuser, ringsum Schweigen und Einsamkeit: die Kälte ist empfindlich, man hält sich am warmen Herd oder arbeitet in den Ställen und geschlossenen Scheunen.

Wir aber, wir wandern auf den bald holperigen, bald glitschigen Landstraßen, ohne Aufenthalt immer weiter und weiter und gönnen uns keine andre Rast, als die Nachtruhe in einem Stall oder in einer Schäferei, und ein winziges, ach, so winziges Stück Brot, dient uns als Mittag- und Abendessen zugleich: haben wir das Glück, zum Uebernachten in die Schäferei gewiesen zu werden, so freuen wir uns, denn die Wärme der Schafe schützt uns gegen die Kälte, und dann säugen um diese Jahreszeit auch die Schafe ihre Lämmer, und manchmal erlauben mir die Hirten, an einem Schaf zu trinken, das sehr viel Milch hat; wir sagen nicht, daß wir dem Hungertod nahe sind, aber Vitalis versteht es, mit gewohnter Gewandtheit anzudeuten, daß »der Kleine furchtbar gerne Schafmilch trinkt, weil er in seiner Kindheit daran gewöhnt war, und nun dadurch immer an die Heimat erinnert wird«. Dieser Kunstgriff hat nicht immer den gewünschten Erfolg, aber der Abend, an dem er ihn hat, ist für mich ein sehr glücklicher, denn wenn ich Schafmilch bekommen habe, so bin ich am nächsten Morgen viel munterer und kräftiger.

So reihten sich Kilometer an Kilometer und Tagemarsch an Tagemarsch: wir näherten uns Paris, und hätten mir's nicht die Meilensteine an der Landstraße verkündet, so wäre ich es durch den lebhafteren Verkehr und den Schnee gewahr geworden, der hier viel schmutziger aussah als auf den Ebenen der Champagne.

Merkwürdigerweise kam mir die Gegend nicht schöner und die Dörfer gar nicht anders vor, als die, die wir einige Tage zuvor durchwandert hatten. Ich hatte so viel von den Wundern der Stadt Paris erzählen hören, daß ich mir kindlicherweise einbildete, diese Wunder müßten sich schon in der Ferne auf ganz merkwürdige Weise ankündigen. Wohl war ich mir nicht klar darüber, was ich zu erwarten hatte, und wagte auch nicht, danach zu fragen, aber wie gesagt, ich erwartete Wunderdinge zu sehen; goldene Bäume, von Marmorpalästen begrenzte Straßen, und auf diesen Straßen lauter in Samt und Seide gehüllte Menschen wären mir ganz natürlich und selbstverständlich vorgekommen.

So aufmerksam ich auch nach den goldenen Bäumen Ausschau hielt, so fiel es mir doch auf, daß die Vorübergehenden uns gar nicht mehr ansahen, entweder weil sie es viel zu eilig dazu hatten, oder weil sie an den Anblick noch größeren Elendes gewöhnt waren, als wir boten.

Das war nicht sehr ermutigend. Was sollten wir in Paris, in dem kläglichen Zustand anfangen, in dem wir uns befanden?

Angstvoll legte ich mir während unsrer langen Märsche diese Frage vor, die ich für mein Leben gern mit Vitalis besprochen hätte, was ich aber nicht zu thun wagte, weil er nun immer so finster und kurz angebunden war.

Endlich geruhte er eines Tages sich neben mir niederzulassen, und aus der Art, wie er mich ansah, entnahm ich, daß ich nun hören sollte, was ich so lange zu wissen begehrt hatte.

Es war morgens und wir hatten auf einem in der Nähe des großen Dorfes Boissy-Saint Leger gelegenen Pachthof übernachtet. Schon bei Tagesanbruch hatten wir uns wieder auf den Weg gemacht und hatten, nachdem wir eine Parkmauer entlang und durch das ganze Dorf gegangen waren, endlich einen Hügel erreicht, von dessen Gipfel aus wir eine große schwarze Dunstwolke erblickten, die über einem unermeßlichen Häusermeer schwebte, aus dem nur einige hohe Bauwerke emporragten. Mit weit aufgerissenen Augen suchte ich mich in dem Gewirr von Dächern und Kirchtürmen zurechtzufinden, die sich in dem Dunst und dem aus den Kaminen emporsteigenden Rauch verloren.

»So hat sich also unser Leben völlig umgestaltet,« sagte Vitalis zu mir, als ob er eine längst begonnene Unterhaltung fortsetzte, »und in vier Stunden sind wir in Paris.«

»O, ist das Paris, was da unten liegt?«

»Ja, natürlich.«

In demselben Augenblick brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken und übergoß die vor mir liegende Stadt sekundenlang mit goldenem Schimmer.

Offenbar hatte ich mich nicht getäuscht, und es gab doch goldene Bäume dort!

Vitalis fuhr fort: »In Paris müssen wir uns trennen.«

Sofort lag dunkle Nacht vor mir, und die goldenen Bäume waren verschwunden.

Stumm vor Entsetzen blickte ich Vitalis an, aber die Blässe, die mein Gesicht überzogen hatte, und das Beben meiner Lippen verrieten ihm zur Genüge, was in mir vorging.

»Du bist bekümmert darüber,« fragte er, selbst schmerzlich bewegt.

»Uns trennen!« rief ich endlich, nachdem die erste Bestürzung vorüber war.

»Armer Kleiner!«

Dies Wort, hauptsächlich aber der Ton, in dem es gesprochen wurde, trieb mir die Thränen in die Augen – ich hatte so lange kein Wort des Mitgefühls mehr zu hören bekommen.

»Ach, wie gut Sie sind,« rief ich aus.

»Du bist gut, mein Junge, du bist ein mutiger kleiner Kerl. Sieh, es gibt im Menschenleben Augenblicke, in denen man solche Dinge einsieht und sich dadurch weicher stimmen läßt. Geht alles gut, so verfolgt man seinen Weg, ohne weiter viel an die zu denken, die einen begleiten: geht es aber schief, sieht man sich auf einem beschwerlichen Weg, so fühlt man, besonders wenn man alt ist und nicht mehr auf den morgigen Tag zu hoffen vermag, das Bedürfnis, sich auf die zu stützen, die man um sich hat, und preist sich glücklich in ihrem Besitz. Nicht wahr, das kommt dir sonderbar vor, daß du mir eine Stütze sein sollst? Und doch ist es so; schon daß dir jetzt Thränen in den Augen stehen, ist mir ein Trost, denn auch mir thut es weh, mein kleiner Remi.«

Erst später, als ich selbst jemand zu lieben hatte, habe ich die Richtigkeit dieser Worte gefühlt und an mir selbst erfahren.

»Das Unglück liegt darin,« fuhr Vitalis fort, »daß man immer gerade dann voneinander scheiden muß, wenn man sich am innigsten aneinander anschließen möchte.«

»Aber,« bemerkte ich schüchtern, »Sie werden mich doch nicht in Paris verlassen wollen?«

»Nein, gewiß nicht, das kannst du glauben! Was solltest du armer Junge in Paris allein anfangen? Uebrigens habe ich auch gar nicht das Recht, dich zu verlassen, das mußt du dir klar machen. An dem Tag, wo ich dich der guten Dame, die dich wie ihren Sohn hat erziehen wollen, wieder entrissen habe, bin ich selbst die Verpflichtung eingegangen, dich so gut als möglich zu erziehen. Unglücklicherweise hat sich das Schicksal gegen mich gewendet, so daß ich im Augenblick nichts für dich thun kann, und deshalb, nur deshalb denke ich daran, mich für einige Monate – keineswegs für immer – von dir zu trennen. In einigen Stunden sind wir in Paris, und was sollen wir da mit einer Truppe anfangen, die nur aus Capi besteht? Du siehst doch wohl selbst ein, daß wir nicht daran denken können, Vorstellungen zu geben?

»Das ist wahr, aber ich habe ja meine Harfe.«

»Wenn ich zwei solcher Kinder hätte, wie dich, so ließe sich vielleicht daran denken, aber ich bin noch nicht alt genug, um mit dir allein etwas machen zu können. Ja, wenn ich krank und gebrochen oder blind wäre! Leider bin ich aber wie ich bin, das heißt nicht geeignet, Mitleid einzuflößen, denn dazu muß man sich in Paris, wo es alle Leute so eilig haben, in einem sehr kläglichen Zustand befinden. Außerdem könnte ich mich nie entschließen, das öffentliche Mitleid anzurufen; also höre, für was ich mich entschieden habe. Ich will dich für den Rest des Winters einem ›Padrone‹ übergeben, der dich in eine Gesellschaft von andern Kindern ausnehmen wird, wo du dann die Harfe spielen kannst.«

Als ich meine Harfe erwähnte, hatte ich natürlich ein solches Ende nicht vorausgesehen.

Vitalis ließ mir aber gar nicht Zeit, einen Einwand zu machen. Ich werde unterdessen den kleinen italienischen Straßenmusikanten in Paris Unterricht auf der Harfe, der Sackpfeife und der Geige geben; ich bin in Paris bekannt und bekomme mit Leichtigkeit mehr Stunden, als ich geben kann. So finden wir beide unsren Unterhalt, wenn auch getrennt. Daneben will ich möglichst schnell als Ersatz für Dolce und Zerbino zwei Hunde abrichten, so daß wir im Frühjahr uns wieder miteinander auf den Weg machen können und uns nicht mehr zu trennen brauchen. Denen, die mutig kämpfen, ist das Glück nicht immer entgegen, mein lieber Remi, und Mut und Ergebung ist es, was ich jetzt von dir verlange. Wir müssen nur über die augenblickliche Schwierigkeit hinwegzukommen suchen – später geht dann alles besser, und im Frühjahr nehmen wir unser ungebundenes Leben wieder auf und ich führe dich nach Deutschland und England. Du wirst nun größer und dein Geist empfänglicher; ich will dich viel lehren und einen tüchtigen Mann aus dir machen. Das habe ich Frau Milligan versprochen, und ich werde mein Wort halten.

»Im Hinblick auf diese Reisen habe ich schon jetzt angefangen, dich englisch zu lehren, und daß du italienisch und französisch sprichst, will für einen Jungen in deinem Alter schon etwas heißen, und außerdem bist du auch sehr kräftig geworden. Du wirst schon sehen, lieber Remi, daß noch nicht alles verloren ist.«

Wenn ich jetzt an diesen Plan zurückdenke, der gewiß in unsrer damaligen Lage das Zweckmäßigste war, so sehe ich ein, daß mein Herr das Menschenmögliche versucht hat, uns aus unsrer unseligen Lage herauszureißen, aber die ersten Empfindungen decken sich selten mit der späteren Ueberlegung.

Damals sah ich von alledem nur zweierlei: Unsre Trennung und den »Padrone«.

Auf unsren Wanderungen hatte ich öfters Gelegenheit gehabt, derartige »Padrone« zu sehen, und diese wiesen nicht die mindeste Ähnlichkeit mit Vitalis auf, sondern waren harte, ungerechte, anspruchsvolle Trunkenbolde, führten ständig Schimpfworte im Mund und schlugen immer drein.

Wie leicht konnte ich einem solchen Padrone in die Hände fallen, und selbst wenn mir ein guter beschieden war, so gab es doch immer wieder eine Veränderung: nach meiner Pflegemutter Vitalis, nach Vitalis wieder ein andrer. Sollte es denn immer so fortgehen und ich nie einen Menschen finden, den ich für immer lieben durfte?

Nach und nach hatte ich mich an Vitalis wie an einen Vater angeschlossen – also sollte ich nie einen Vater, nie eine Familie haben und immer allein in der Welt stehen – und heimatlos herumirren?

Wohl hätte ich viel entgegnen können, und die Worte drängten sich mir auf die Lippen, aber ich unterdrückte sie, denn mein Herr hatte Mut und Ergebung von mir verlangt, und ich wollte ihm gehorchen, um sein Leid nicht zu vermehren. Uebrigens befand er sich schon im nächsten Augenblick nicht mehr neben mir, sondern schritt mir eiligst voran, als fürchte er meine Entgegnung zu hören.

Ich ging hinter ihm drein, und bald gelangten wir an einen Fluß, den wir auf der schmutzigsten Brücke überschritten, die ich je gesehen habe. Der Damm war von einer dicken Schichte Schnee bedeckt, die so schwarz aussah, wie eingestampfte Steinkohlen, und in die man bis über die Knöchel einsank.

Von der Brücke aus gelangten wir in ein Dorf mit engen Gassen, und von dem Dorf aus wieder aufs freie Feld. Auf der Landstraße folgten nun sich Wagen auf Wagen; ich hielt mich näher zu Vitalis und ging zu seiner Rechten, während Capi uns dicht auf den Fersen blieb.

Bald kamen wir in eine unabsehbare lange Straße, und diese war auf beiden Seiten mit Häusern bebaut, die aber ärmlich und schmutzig und viel weniger schön aussahen, als die Häuser in Bordeaux, Toulouse und Lyon.

Hie und da war der Schnee in Haufen zusammengekehrt, und auf diese harten, schwarzen Haufen hatte man Asche, Gemüseabfälle und Unrat aller Art geworfen: die Luft war mit übelriechenden Düften erfüllt; unaufhörlich fuhren schwere Lastwagen vorüber, denen die Fußgänger mit großer Gewandtheit und anscheinender Sorglosigkeit auszuweichen verstanden.

»Wo sind wir?« fragte ich Vitalis.

»In Paris, mein Junge.«

»In Paris!«

Wo waren meine Marmorpaläste? Wo blieben die in Sammet und Seide gekleideten Menschen?

Wie häßlich und armselig war doch die Wirklichkeit!

Ach Gott, das war also das Paris, nach dem mich so sehr verlangt hatte – und hier sollte ich den Winter verleben – getrennt von Vitalis ... und von Capi!!

 

Ende des ersten Bandes.

 


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