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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Die Ueberschwemmung

Als wir am andern Morgen in der Grube wieder zusammentrafen, fragte Onkel Gaspard: »Nun, Magister, bist du mit dem Jungen zufrieden gewesen?«

»Jawohl,« entgegnete dieser, »er kann hören und wird, wie ich hoffe, auch noch sehen lernen.«

»Hoffentlich kann er heut auch ordentlich zugreifen,« sagte der Onkel und gab mir einen Keil in die Hand, damit ich ihm einen großen Kohlenklotz ablösen helfe, den er von untenher in Angriff genommen hatte – die Fördermänner müssen nämlich den Häuern immer an die Hand gehen.

Als ich eben meinen »Hund« zum drittenmal nach dem Sankt Alphonsinenschacht gestoßen hatte, vernahm ich plötzlich ein entsetzliches Getöse, ein furchtbares Dröhnen, wie ich es noch nie gehört hatte, seit ich in der Grube beschäftigt war. War es ein Erdsturz, ein Zusammenbruch der ganzen Grube? Ich lauschte; das Getöse dauerte fort und wurde von allen Seiten zurückgeworfen. Was hatte das zu bedeuten? Mein erstes Gefühl war das des Schreckens und ich dachte daran, möglichst schnell nach den »Fahrten« zu eilen, um mich zu retten, aber ich war schon so oft wegen meiner Aengstlichkeit ausgelacht worden, daß ich mich schämte und blieb. Vielleicht war es nur ein »Schuß« oder ein »Hund«, der den Schacht heruntergestürzt war, vielleicht war es auch nur taubes Gestein, das in die Stollen hinunterrollte.

Plötzlich rannte mir eine Schar Ratten zwischen den Beinen durch, wie eine auf der Flucht begriffene Eskadron Kavallerie: nun glaubte ich auch ein fremdartiges Plätschern und Rauschen auf dem Boden und gegen die Wandungen des Stollens hin zu hören. Da die Stelle, auf der ich stehen geblieben war, ganz trocken schien, war mir das Wassergeplätscher vollständig unerklärlich.

Ich leuchtete auf dem Boden herum – jawohl, das war Wasser, das vom Schacht herkam und in die Stollen drang. Dieses fürchterliche Brausen und Tosen rührte also von einem Wasserfall her, der in die Grube herniederstürzte.

Ich ließ meinen Kohlenwagen auf den Schienen stehen und rannte zu Onkel Gaspard »vor Ort«.

»Onkel Gaspard, 's ist Wasser in der Grube!«

»Laß mich in Ruhe mit deinen Dummheiten!«

»Die Divonne hat ein Loch gemacht – wir müssen fliehen!«

»Laß mich in Ruhe!«

»So hören Sie doch nur!«

Ich sprach in so erregtem Ton, daß der Onkel Gaspard doch, auf seine Spitzhaue gelehnt, stehen blieb und horchte – das Geräusch wurde immer lauter, immer unheimlicher; es war kein Zweifel mehr möglich, – das war Wasser, das in die Grube stürzte.

»Lauf, was du kannst,« rief der Onkel, »das Wasser ist in der Grube!«

Damit hatte er seine Lampe ergriffen, was immer die erste Bewegung des Bergmannes ist, und war in den Stollen herabgesprungen.

Noch hatte ich nicht zehn Schritte gemacht, da kam auch der Magister herbei und wollte wissen, woher das Geräusch käme, das ihm ebenfalls aufgefallen war.

»Wasser in der Grube,« schrie Onkel Gaspard.

»Die Divonne hat ein Loch gemacht,« sagte ich.

»Dummer Kerl!«

»Lauf, was du kannst,« rief der Magister.

Mit rasender Geschwindigkeit stieg das Wasser in dem Stollen: glücklicherweise befanden wir uns nicht allzuweit von den »Fahrten« entfernt und konnten sie noch erreichen. Der Magister langte zuerst an der Leiter an, blieb aber stehen und sagte: »Steigt ihr zuerst hinauf! Ich bin der Aelteste und habe ein ruhiges Gewissen.«

Unsre Lage war zu einem längeren Austausch von Höflichkeiten nicht geeignet, und so stieg Onkel Gaspard zuerst hinauf, dann kam ich und hinter mir der Magister; diesem folgten in beträchtlicher Entfernung einige Bergleute, die sich uns noch zugesellt hatten.

Nie zuvor sind die vierzig Meter zwischen der zweiten und ersten Sohle mit solcher Geschwindigkeit zurückgelegt worden, aber noch ehe wir die letzte Sprosse erklommen hatten, stürzte uns ein förmlicher Wasserfall auf den Kopf und löschte unsre Lampen aus.

»Haltet fest!« schrie der Onkel Gaspard.

Er, der Magister und ich klammerten uns an den Sprossen an, um der Wasserflut Widerstand leisten zu können, aber die zehn Bergleute, die hinter uns kamen, wurden erbarmungslos weggeschwemmt – der Wasserfall hatte sich in eine Wasserlawine verwandelt.

Wohl befanden wir uns jetzt auf der ersten Sohle, aber damit waren wir noch nicht gerettet, denn um aus der Grube zu gelangen, mußten nur noch fünfzig Meter höher steigen, und auch hier war das Wasser; dazu waren wir auch noch in völliger Dunkelheit, da unsre Lampen erloschen waren.

»Wir sind verloren,« sagte der Magister mit ruhiger Stimme, »sprich dein Gebet, Remi!«

Aber im nämlichen Augenblick tauchten sieben oder acht Grubenlichter im Stollen auf, die auf uns zueilten: schon ging uns das Wasser bis an die Kniee, und ohne uns zu bücken, berührten wir es mit der Hand; es war kein stilles Wasser, sondern ein reißender Strom, ein Strudel, der alles mit sich fortriß und auf dem sogenannte »Stempel« – das heißt Holzstücke der Zimmerung – wie Federn herumgezwirbelt wurden.

Die Männer, deren Lampen wir bemerkt hatten und die nun auf uns zugeeilt kamen, wollten den Stollen entlang zu den Fahrten zu gelangen suchen, aber wie sollte man gegen diesen Strom ankämpfen, wie auch nur den »Stempeln« ausweichen, die er mit sich riß?

Wie vorhin der Magister, sagten auch diese Männer, als sie uns erreicht hatten: »Wir sind verloren!«

»Hierher,« rief der Magister, offenbar von uns allen der einzige, der den Kopf noch nicht ganz verloren hatte, »unsre einzige Zuflucht ist der alte Bau!«

Der alte Bau war ein seit lange »aufgelassener«, das heißt außer Betrieb gestellter Teil der Grube, den kein Mensch mehr betrat, ausgenommen der Magister, der dort häufig nach Mineralien für seine Sammlung suchte und genau Bescheid wußte.

»Kehrt um,« rief er, »und gebt mir eine Lampe, dann will ich euch den Weg zeigen.«

Gewöhnlich wurde er ausgelacht oder mit Achselzucken stehen gelassen, wenn er etwas sagte; jetzt aber fühlten sich auch die Stärksten schwach und gehorchten stumm der Stimme des guten alten Mannes, über den sie sich noch vor fünf Minuten lustig gemacht hätten. Unwillkürlich wurden ihm sämtliche Lampen hingestreckt.

Rasch ergriff er die nächste, zog mich mit seiner andern Hand fort und schritt an der Spitze unsrer kleinen Truppe weiter. Da wir mit dem Strom gingen, so kamen wir ziemlich rasch vorwärts.

Nachdem wir eine Weile lang weitergegangen waren – ich weiß nicht wie lange, denn in unsrer Angst hatten wir den Begriff der Zeit verloren, blieb er stehen.

»Es ist zu spät! Wir kommen nicht mehr hin, das Wasser steigt viel zu schnell!«

Wirklich überholte es uns mit entsetzlicher Eile und ging mir jetzt schon bis an die Brust.

»Wir müssen uns in eine schwebende Strecke werfen,« sagte der Magister.

»Und dann?«

»Die schwebende Strecke hat keinen Ausweg!«

In der That war eine schwebende Strecke für uns nichts als eine Sackgasse, allein wir waren nicht in der Lage, lange zu zaudern und zu wählen, und so begaben wir uns, den Magister an der Spitze, in die Krummhälsestrecke, während zwei unsrer Kameraden im Stollen weitergehen wollten – wir haben sie niemals wiedergesehen.

Nun erst, als uns wieder das Bewußtsein des Lebens kam, vernahmen wir auch das entsetzliche Getöse, das schon seit Beginn unsrer Flucht betäubend auf uns eingedrungen war und das wir doch nicht gehört hatten: Erdstürze, Wasserstrudel und Wasserfälle, krachendes Zusammenstürzen der Verzimmerung, Explosionen der zusammengepreßten Luft; all dies erfüllte die Grube mit einem wahren Höllenlärm.

»Die Sündflut!«

»Die Welt geht unter!«

»Herr, erbarme dich unser!«

Seit wir uns in der schwebenden Strecke befanden, hatte der Magister kein Wort gesprochen, denn über unnützes Klagen war er weit erhaben; nun aber sagte er: »Kinder, wir müssen uns feste Stützpunkte in den Schieferthon graben, denn wenn wir uns längere Zeit mit Händen und Füßen anklammern müssen, werden wir nur allzubald erschöpft sein.«

Der Rat war gut, aber schwer auszuführen, denn nicht einer hatte ein Werkzeug bei sich.

»Dann müssen wir eben unsre Lampenhaken nehmen,« riet der Magister, als dieser Einwand laut wurde.

Nun fingen wir alle an, mit den Haken unsrer Lampen den Schiefer in Angriff zu nehmen, was uns aber sehr hart ankam, da die schwebende Strecke nicht nur sehr schief abfiel, sondern auch sehr feucht und glitschig war. Allein das Bewußtsein, daß ein Ausgleiten den sicheren Tod zur Folge hat, verleiht Kraft und Geschicklichkeit, und in wenig Augenblicken hatte ein jeder eine Vertiefung gegraben, in die er wenigstens den Fuß setzen konnte.

Als dies glücklich vollbracht war, atmeten wir ein wenig auf und suchten einander zu erkennen. Wir waren unser sieben: dicht neben mir der Magister, der Onkel Gaspard, drei Häuer Namens Pagès, Compeyrou und Bergounhoux und noch ein Fördermann, Namens Carrory; die übrigen Arbeiter waren in den Stollen verschwunden.

Das Getöse in der Grube hatte einen unerhörten Grad erreicht, und halb wahnsinnig vor Angst starrten wir einander an und ein jeder suchte in den Augen seines Nachbarn die Erklärung, die der eigene Verstand nicht finden konnte.

»Es ist die Sündflut,« wiederholte der eine.

»Ein Erdbeben!«

»Der Berggeist zürnt und will sich rächen.«

»Eine Ueberschwemmung, verursacht durch die im alten Bau angestauten Wasser.«

»Ein Loch, das sich die Divonne gemacht hat.«

Die letztere Vermutung kam von mir, denn ich hielt nun einmal etwas auf mein Loch.

Der Magister hatte gar nichts gesagt und sah uns achselzuckend an, als säße er »über Tage« behaglich im Schatten eines Maulbeerbaums, verspeiste eine Zwiebel und erörterte diese Frage dazu.

»Daß es eine Ueberschwemmung ist, steht fest,« sagte er schließlich, nachdem ein jeder von uns andern seine Ansicht geäußert hatte, »und zwar ist es eine Ueberschwemmung, die von oben kommt.«

Nun, da ein gewisses Gefühl der Sicherheit über uns gekommen war, weil wir im Trockenen saßen und das Wasser nicht mehr stieg, wollte niemand mehr auf den Magister hören und alles Uebergewicht, das ihm seine Entschlossenheit in der Gefahr eingebracht hatte, war wieder verloren.

Um den Höllenlärm zu übertönen, sprachen wir so laut als möglich, und doch klangen unsre Stimmen dumpf.

»Sprich ein paar Worte,« sagte der Magister nach einiger Zeit zu mir.

»Was soll ich denn sagen?«

»Was du willst, sage mir ein paar Worte, die dir gerade einfallen.«

Ich sprach ein paar Worte.

»Gut, jetzt ein wenig leiser. So ist's recht! Gut.«

»Du bist wohl von Sinnen, Magister,« sagte Pagös.

»Macht dich die Angst verrückt?«

»Hast du denn geglaubt, du seist schon tot?«

»Ich glaube, daß das Wasser uns hier nicht erreichen wird, und daß wir, wenn wir sterben müssen, wenigstens nicht ertrinken werden.«

»Was soll das heißen, Magister?«

»Sieh deine Lampe an!«

»Nun, die brennt.«

»Wie sonst auch?«

»Nein, die Flamme ist lebhafter, aber kleiner.«

»Fürchtest du hier schlagendes Wetter?«

»Nein,« entgegnete der Magister, »das ist hier so wenig zu fürchten, als das Wasser, das um keinen Fuß mehr steigen wird.«

»Jetzt spielt er sich auch noch auf den Hexenmeister!«

»Ich spiele mich nicht auf den Hexenmeister: wir befinden uns hier in einer Luftglocke und die zusammengepreßte Luft verhindert das Wasser am Steigen; die an ihrem Ausgang durch die Luft abgeschlossene, schwebende Strecke ist für uns eine Art Taucherglocke; die durch das Wasser zurückgedrängte Luft hat sich in diesem Gang gesammelt, setzt dem Wasser Widerstand entgegen und staut es zurück.«

Nach dieser Auseinandersetzung ließ sich ungläubiges Murmeln vernehmen.

»Ist das eine Dummheit! Das Wasser ist doch stärker als alles andre.«

»Ja, über Tage, im Freien; aber wenn du dein Glas mit der Oeffnung nach unten in einen vollen Eimer steckst – dringt dann das Wasser ganz bis auf den Grund deines Glases? Nein, es bleibt ein leerer Raum, oder nicht? Nun, dieser leere Raum ist von Luft ausgefüllt, und hier bei uns ist es ganz der nämliche Fall. Wir befinden uns hier wie auf dem Grund des Glases, und das Wasser kann nicht bis zu uns dringen.«

»Das verstehe ich,« sagte der Onkel Gaspard, »und ich meine, ihr habt unrecht gehabt, euch so oft über den Magister lustig zu machen, denn er weiß offenbar manches, was wir nicht wissen.«

»Dann sind wir also gerettet,« rief Carrory.

»Gerettet? Das habe ich nicht gesagt – ich kann euch nur versichern, daß wir nicht ertrinken werden. Aber gerade was uns vor dem Wasser schützt, kann unser Verderben werden; die Luft kann nicht hinaus, weil sie gefangen ist, aber auch wir können nicht hinaus und sind gefangen.«

»Wenn aber das Wasser sinkt?«

»Wird es sinken? Das kann ich nicht sagen, denn um darüber etwas behaupten zu können, müßte man zuerst wissen, woher es kommt.«

»Du sagst ja, es sei eine Ueberschwemmung!«

»Wohl, aber wodurch ist sie entstanden? Ist die Divonne übergetreten und hat sich in die Schächte ergossen, war es ein Gewitter, ist eine Quelle entstanden, oder hat ein Erdbeben stattgefunden? Um das zu wissen, müßte man ›über Tage‹ sein, und wir sind leider darunter.«

»Vielleicht ist die ganze Stadt fortgerissen?«

»Vielleicht ...«

Das Rauschen des Wassers war verstummt, nur vernahm man noch manchmal ein dumpfes Dröhnen im Schoße der Erde und fühlte starke Erschütterungen.

»Die Grube muß voll sein, sie nimmt kein Wasser mehr auf.«

»Und mein Marius!« rief Pagès verzweifelt.

Marius war sein Sohn und Häuer auf der dritten Sohle; bis zu diesem Augenblick hatte der Trieb der Selbsterhaltung seine Gedanken so ausschließlich beschäftigt, daß erst die Worte des Magisters »die Grube ist voll«, ihn wieder aus sich herausrissen.

»Marius! Marius!« schrie er in herzzerreißendem Ton.

Niemand antwortete ihm, nicht einmal das Echo; der dumpfe Ton der Stimme drang nicht über unsre Glocke hinaus.

»Vielleicht hat er auch eine schwebende Strecke gefunden,« tröstete der Magister: »es wäre ja entsetzlich, wenn hundertfünfzig Mann ersäuft worden wären; das kann der liebe Gott nicht zulassen.«

Seine Stimme klang mir nicht sehr überzeugt. Mindestens hundertfünfzig Mann waren am Morgen eingefahren – wieviel waren wohl noch durch die Schachte hinaufgekommen oder hatten, wie wir, sonst eine Zuflucht gefunden! Alle unsre Genossen verloren, ertrunken, tot! Niemand sprach mehr ein Wort.

Nach einer Weile begann Bergounhoux wieder: »Nun, und was fangen wir jetzt an?«

»Was willst du denn thun?«

»Wir können nichts thun als warten,« sagte der Magister.

»Auf was?«

»Willst du vielleicht die vierzig oder fünfzig Meter, die uns noch von ›über Tage‹ trennen, mit deinem Lampenhaken durchbohren?«

»Aber, dann müssen wir ja Hungers sterben!«

»Das ist nicht unsre größte Gefahr; dem Hunger kann man widerstehen, und ich habe gelesen, daß Arbeiter, denen es genau ergangen war, wie uns, vierundzwanzig Tage lang nichts gegessen haben. Das ist schon lange, lange Jahre her, aber das bleibt sich immer gleich. Nein, vor dem Hunger fürchte ich mich nicht am meisten.«

»Vor was fürchtest du dich sonst, wenn du doch behauptest, das Wasser werde nicht mehr steigen?«

»Ist euch der Kopf nicht schwer? Habt ihr kein Ohrensausen? Könnt ihr leicht Atem holen?«

»Ich habe Kopfweh!«

»Mir ist's ganz übel.«

»Mir pochen die Schläfe.«

»Und mir ist's ganz dumm zu Mute.«

»Nun, hierin liegt die Gefahr! Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Luft leben können. Wir haben etliche vierzig Meter Wasser über uns, das heißt, die Luft hier erleidet einen Druck von vier bis fünf Atmosphären. Wie lebt man in einer solchen Luft? Das werden wir jetzt erfahren, möglicherweise sehr zu unsrem Schaden.«

Weder meine Gefährten, noch ich hatten eine Ahnung davon, was zusammengepreßte Luft ist, und da das Unbekannte immer doppelt beängstigt, erschreckten uns die Worte des Magisters sehr.

Dieser verlor indessen nicht einen Augenblick das Bewußtsein unsrer verzweifelten Lage; er erkannte die Gefahr in ihrem ganzen Umfang und dachte auf geeignete Mittel, uns nach Kräften gegen sie zu schützen.

»Wir müssen nun in erster Linie dafür sorgen, daß wir hier bleiben können, ohne Gefahr zu laufen, ins Wasser zu fallen.«

»Wir haben ja die Löcher.«

»Glaubt ihr denn, ihr werdet es nicht müde werden, immer in der nämlichen Stellung zu bleiben?«

»Ja, glaubst du denn, daß wir noch lang hier bleiben müssen?«

»Wie kann ich das wissen!«

»Man wird uns zu Hilfe kommen!«

»Gewiß, wenn man kann. Wie viel Zeit wird vergehen, ehe man auch nur mit den Rettungsarbeiten anfangen kann? Die über der Erde sind, können's wissen, aber wir, die wir unten sind, müssen uns hier möglichst gut einzurichten suchen, denn wenn einer von uns ausrutscht, dann ist er verloren.«

»Wir müssen uns alle zusammenbinden.«

»Hast du vielleicht Stricke?«

»Dann müssen wir uns an den Händen halten.«

»Ich meine, wir sollten uns eine Art Treppenabsätze graben: wir sind unsrer sieben und hätten auf zwei derartigen Absätzen Platz.«

»Mit was sollen wir denn graben?«

»Wo's leicht geht, mit den Lampenhaken, wo's hart ist, mit unsren Messern.«

»Das bringen wir unsrer Lebtage nicht zu stande.«

»Sag das nicht, Pagès, man kann gar viel, wo's das Leben gilt; wenn einer von uns einschläft, so wie wir jetzt dastehen, so ist er verloren.«

Unwillkürlich beugten wir uns alle vor der Autorität des Magisters, der durch seine Kaltblütigkeit und sein entschiedenes Auftreten seine Ueberlegenheit bewiesen hatte, und machten uns bei dem Schein von vier Grubenlampen an die Arbeit.

»Wir müssen uns Stellen aussuchen, wo die Arbeit nicht allzu schwierig ist,« sagte der Magister.

»Hört, ich will euch einen Vorschlag machen,« sagte der Onkel Gaspard; »der Magister ist von uns allen der einzige, der den Kopf nicht verloren und Mut bewiesen hat. Er ist Häuer gewesen wie wir und weiß gar manches, was wir nicht wissen. Ich verlange, daß er zu unsrem Anführer gewählt wird und die Arbeiten leitet.«

»Der Magister,« unterbrach ihn Carrory, der eigentlich nichts war als ein Vieh, ein Zugvieh und mit nicht mehr Vernunft begabt, als er brauchte, um seinen Hund zu schieben, »warum denn der Magister und nicht ich? Wenn man einen Fördermann wählt, so bin ich das so gut als er.«

»Schafskopf dummer, man wählt nicht einen Fördermann, sondern einen Mann, und er ist von uns allen der Tüchtigste.«

»Das habt ihr gestern nicht gesagt.«

»Gestern war ich noch so dumm als du und habe mich über den Magister lustig gemacht, wie die andern auch. Heute bitte ich ihn, den Oberbefehl zu übernehmen. Sag, Magister, was soll ich thun? Du weißt, ich hab' kräftige Arme. Und wie ist's mit euch andern?«

»Vorwärts, Magister, wir gehorchen dir!«

»Hört,« entgegnete der Magister, »da ihr wünscht, ich solle den Anführer machen, so will ich's wohl thun, aber nur unter der Bedingung, daß alles geschieht, was ich sage. Es ist möglich, daß wir lange, vielleicht mehrere Tage hier bleiben müssen; ich weiß nicht, was noch geschehen kann, und deshalb müßt ihr versprechen, mir unbedingt zu gehorchen, wenn ich euer Anführer bin.«

»Man wird dir gehorchen,« erwiderten alle.

»Ja, ihr werdet gehorchen, wenn ihr der Ansicht seid, das, was ich befehle, sei richtig, aber wenn ihr das nicht glaubt – was dann?«

»Du solltest jetzt nicht an unsre Foppereien denken, Magister, wir wissen, daß du mutig bist und viel gelernt hast.«

Ich war damals noch recht unerfahren und wunderte mich deshalb ungemein, daß die, die sonst nicht genug über den Magister hatten spotten können, jetzt die ersten waren, die allerlei Vorzüge bei ihm entdeckten.

»Also, ihr schwört?« fragte der Magister.

»Wir schwören!« erwiderten wir einstimmig.

Nun ging's an die Arbeit; wir hatten sämtlich sehr gute Messer mit festem Griff und starker Klinge in der Tasche.

»Die drei Stärksten,« befahl der Magister, »nehmen die schiefe Ebene in Angriff, und die Schwächeren, Remi, Carrory, Pagès und ich, schaffen den Schutt weg.«

»Nein, du nicht,« unterbrach ihn Compeyrou, ein wahrer Riese, »du darfst nicht arbeiten, Magister, du bist nicht kräftig genug. Du bist jetzt Steiger, und die Steiger arbeiten nicht mit den Armen.«

Da alle Compeyrous Ansicht teilten, beaufsichtigte er nur unsre Arbeit, die äußerst einfach gewesen wäre, wenn wir Werkzeuge gehabt hätten, und ging mit einer Lampe in der Hand von einem Arbeitsplatz zum andern.

An jeder der beiden Stellen gruben zwei Männer, und der dritte entfernte den abgelösten Schieferthon. Bald stieß man im Kohlenstaub auf einige »Stempel«, die hier verschüttet worden waren und sich für uns zum Festlegen des »Versatzes« sehr nützlich erwiesen.

Nach drei Stunden ununterbrochener Arbeit hatten wir zwei Flächen ausgehöhlt, die uns allen Raum zum Sitzen gewährten.

»Nun ist's für den Augenblick genug,« erklärte der Magister, »später verbreitern wir die gewonnenen Flächen noch so weit, daß wir uns auch legen können, aber wir dürfen unsre Kräfte nicht nutzlos vergeuden, denn wir werden ihrer noch sehr bedürfen.«

Nun ließen wir uns nieder; der Onkel Gaspard, der Magister, Carrory und ich auf dem unteren Absatz, und die drei Häuer auf dem obern.

»Wir müssen unser Licht sparen,« sagte der Magister, »laßt nur eine Lampe brennen und löscht die übrigen aus. Halt noch einen Augenblick,« rief er schnell, als sein Befehl sofort ausgeführt wurde. »Ein Luftzug könnte möglicherweise unsre Lampe ausblasen: es ist zwar nicht wahrscheinlich, aber man muß auch mit dem Unwahrscheinlichen rechnen – wer hat Streichhölzer bei sich?«

Obgleich es aufs strengste verboten war, in der Grube ein Streichholz anzuzünden, hatten doch beinahe sämtliche Arbeiter welche in der Tasche, und vier Stimmen antworteten: »Ich.«

»Auch ich habe welche,« sagte der Magister, »aber sie sind ganz naß geworden.«

Dies war auch bei den andern der Fall, denn alle trugen die Zündhölzer in der Hosentasche, und wir waren bis an die Schultern im Wasser gewesen.

Schließlich sagte auch noch Carrory, der sehr langsam von Begriff und äußerst maulfaul war: »Auch ich habe Zündhölzer.«

»Nasse?«

»Ich weiß nicht; sie stecken in meiner Kappe.«

»Dann gib deine Kappe her!«

Statt aber seine Mütze aus Otterfell, die so groß war als der Turban eines Meßtürken, aus der Hand zu geben, reichte Carrory nur eine Schachtel Streichhölzer herüber, die, dank ihrem eigentümlichen Aufbewahrungsort, ganz trocken geblieben waren.

»So, jetzt löscht die Lampen aus,« befahl der Magister, und nur eine einzige Lampe, die unser Gefängnis äußerst spärlich beleuchtete, durfte weiterbrennen.


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