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Neuntes Kapitel.
Ich begegne einem Riesen mit Siebenmeilenstiefeln

Meine Erinnerung versetzt mich aus dieser dürren Ebene in das immer frische und grüne Thal der Dordogne, das wir in kleinen Tagemärschen durchziehen, denn der Reichtum des Landes ist die Grundlage der Wohlhabenheit seiner Bewohner, und wir geben zahlreiche Vorstellungen, bei denen die Sous ziemlich reichlich in die Sammelschale Capis fallen.

Eine luftige, leichte Brücke, die aussieht, als wäre sie auf Sommerfäden über dem vom Wasser aufsteigenden Dunst aufgebaut, schwingt sich über einen breiten Fluß, der seine trägen Wasser sachte dahinwälzt; – es ist die Brücke von Cubzac, und der Fluß ist die Dordogne.

Eine Stadt in Ruinen mit Gräben, Grotten, Türmen und inmitten die zerbröckelnden Mauern eines Klosters, dazu Cikaden, die in dem hier und dort sich anklammernden Gesträuch ihr Gezirpe ertönen lassen – das ist Saint Emilion.

Aber all das fließt in meinem Gedächtnis undeutlich ineinander, während mir bald darauf ein andrer Anblick einen so tiefen Eindruck machte, daß er mir heute noch gegenwärtig ist.

Wir hatten in einem ziemlich elenden Dorf übernachtet und waren mit Tagesanbruch weitergezogen. Lange waren wir auf einer staubigen Straße marschiert, als sich vor unsern, bis dahin durch einen von Weinbergen umsäumten Weg beengten Blicken eine unendliche Fläche ausbreitete, wie wenn man plötzlich einen Vorhang weggezogen hätte.

Ein breiter Fluß wand sich in sanften Krümmungen um den Hügel, auf dem wir angelangt waren, und jenseits dieses Flusses erhoben sich die Dächer und Kirchtürme einer großen Stadt und verschwammen in weiter Ferne mit dem Horizont. Wie viel Häuser, wie viel Kamine! Einige, höher und dünner als die übrigen, ragten wie Säulen empor und stießen ganze Wirbel schwarzen Qualmes aus, der, vom Wind bald hier, bald dorthin gejagt, wie dunkles Gewölk über der Stadt schwebte.

Auf dem Fluß, eine endlose Reihe von Quais entlang, drängten sich eine Menge Schiffe durcheinander, deren Masten und Takelage und vielfarbige Flaggen gleich den Bäumen eines Waldes in wirrem Durcheinander in die Höhe ragten. Man vernahm dumpfes Schnauben, Eisenklirren und Hammerschläge und dazwischen hinein das durch die vielen auf den Quais hin und her fahrenden Wagen hervorgebrachte Getöse.

»Das ist Bordeaux,« sagte Vitalis zu mir.

Für ein Kind, wie mich, das bisher nichts gesehen hatte, als die armseligen Dörfer der Creuse und einige kleine Städte, war dies ein feenhafter Anblick.

Unbeweglich blieb ich stehen und blickte staunend um mich. Gar bald blieben meine Augen auf einem Punkte haften: auf dem Fluß und den Fahrzeugen, die ihn bedeckten.

Mit beigesetzten Segeln leicht zur Seite geneigt, glitten Schiffe den Strom hinab, während andre ihn heraufkamen: manche lagen ganz unbeweglich, während andre sich um sich selbst drehten, ohne daß man hätte entdecken können, was sie in Bewegung setzte; wieder andre bewegten sich ohne Mast und ohne Segel nach allen Richtungen hin und her, während sie durch hohe Schornsteine schwarze Rauchwolken ausstießen und auf dem gelblichen Wasser weiße Schaumfurchen hinter sich ließen.

»Es ist jetzt um die Zeit der Flut,« sagte Vitalis als Antwort auf mein stummes Staunen, »da sind Schiffe, die nach weiten Reisen von der hohen See herkommen: das sind die, deren Anstrich so schmutzig ist und die wie verrostet aussehen; wieder andre verlassen eben den Hafen; die Schiffe, die du mitten im Fluß sich um sich selbst drehen siehst, schwingen um ihre Anker, so daß sie ihren Bug der Flut zukehren, und die, die von Rauchwolken eingehüllt hin und her eilen, sind Bugsierschiffe.«

Wie viel neue Wörter und Gedanken für mich!

Als wir auf der Brücke anlangten, die La Bastide und Bordeaux miteinander verbindet, hatte Vitalis nicht Zeit gehabt, den hundertsten Teil der Fragen zu beantworten, mit denen ich ihn bestürmte.

Bis dahin hatten wir uns nie lange in der nämlichen Stadt aufgehalten, denn wir mußten immer wieder ein neues Publikum suchen. Mit den Schauspielern, aus denen die Truppe des »berühmten Signor Vitalis« bestand, konnte unser Repertoire natürlich nicht viel Abwechslung bieten, und wenn wir den »Bedienten des Herrn Herzblatt«, den »Tod des Generals«, den »Sieg des Gerechten« und den »abgeführten Kranken« und drei oder vier andre Stücke gegeben hatten, mußten wir weiter ziehen und wo anders wieder von vorne anfangen.

Bordeaux ist aber eine große Stadt, in der das Publikum rasch wechselt, und wenn wir von einem Stadtteil in den andern gingen, konnten wir an einem Tag wohl vier Vorstellungen geben, ohne daß man uns, wie es einmal in Cahors geschehen war, zurief: »Das ist ja immer die nämliche Geschichte!«

Von Bordeaux aus sollten wir nach Pau gehen, und unsre Reisekarte wies uns den Weg durch jene große Einöde, die sich von den Thoren von Bordeaux bis zu den Pyrenäen hinzieht und die man »die Landen« nennt. Obgleich ich nicht mehr ganz das dumme kleine Mäuschen war, von dem uns die Fabel erzählt, und das in allem, was es sieht, Grund zu Staunen, Bewunderung oder Schrecken findet, so geriet ich doch zu Anfang dieser Reise in einen Irrtum, mit dem mein Herr mich noch lange foppte.

Wir hatten Bordeaux schon sieben oder acht Tage verlassen und befanden uns inmitten einer unendlichen Ebene, die sich mit leichten, wellenförmigen Erhebungen des Bodens unabsehbar weit hinzieht. Keine urbar gemachten Aecker, kein Wald, nichts als der graue Erdboden, der, in der Nähe gesehen, mit samtartigem Moos, mit dürrem Heidekraut und verkümmertem Ginster bedeckt war.

»Wir sind jetzt in den ›Landen‹, sagte Vitalis, »und müssen in dieser Einöde zwanzig bis fünfundzwanzig Meilen zurücklegen. Steck all deinen Mut in deine Beine.«

Aber nicht nur die Beine, auch Kopf und Herz brauchten Mut, denn das Wandern auf diesem anscheinend endlosen Weg erfüllte mich mit einem der Verzweiflung verwandten Gefühl.

Wir gingen weiter, immer weiter, aber wenn wir um uns sahen, hätten wir glauben können, wir seien immer auf dem nämlichen Fleck hin und her gelaufen, denn der Anblick, der sich uns bot, war stets derselbe: immer nur Heidekraut, Ginster und Moos, und dazu Farnkräuter, deren zarte, bewegliche Blätter im Winde schwankten, sich beugten und wieder aufrichteten und wellenförmig wogten, wie die Fluten der See.

Nach langen, langen Zwischenräumen führte unser Weg wohl auch durch kleine Wäldchen, die aber nicht wie anderswo die Landschaft erheiterten. Sie bestanden nämlich aus Fichten, deren Aeste bis an den Gipfel abgeschnitten waren; den Stamm entlang waren viele tiefe Einschnitte gemacht worden, und aus diesen roten Wunden quoll ihr Harz in weißen krystallisierten Thränen. Wenn der Wind stoßweise durch ihre Zweige fuhr, brachte er eine so klägliche Musik hervor, daß man glaubte, die Stimmen dieser armen, verstümmelten Bäume über ihre Wunden jammern zu hören.

Vitalis hatte mir gesagt, wir würden abends in ein Dorf kommen, wo wir übernachten könnten, aber der Abend brach herein und weit und breit ließ sich nichts entdecken, was uns die Nähe eines Dorfes verkündigt hätte.

Wohl war ich von dem weiten Weg ermüdet, aber ein Gefühl allgemeiner Mattigkeit drückte mich noch schwerer danieder. Sollten wir denn dies ersehnte Dorf und das Ende dieses unendlichen Weges nie erreichen?

Ich mochte um mich blicken, so viel ich wollte, ich sah nichts als die Heide und immer wieder die Heide, die mehr und mehr in der immer dichter werdenden Dunkelheit verschwamm.

In der Hoffnung, bald ans Ziel zu gelangen, hatten wir unsre Schritte beschleunigt, und selbst mein Herr, der doch an anstrengende Märsche gewöhnt war, fühlte sich entmutigt. Er wollte Halt machen und am Wegrand einen Augenblick rasten.

Statt mich neben ihn zu setzen, erklomm ich eine kleine, von Ginster bedeckte Anhöhe, die sich in kurzer Entfernung vom Weg erhob, um zu sehen, ob ich nicht von dort aus irgend ein Licht in der Ebene entdecken könne.

Ich rief Capi, er solle mit mir gehen, aber auch der war müde und that, als ob er nichts höre, was seine gewöhnliche Taktik war, wenn er vorzog, mir nicht zu gehorchen.

»Hast du Angst?« fragte Vitalis.

Dies veranlaßte mich, nicht auf Capis Begleitung zu dringen, und ich machte mich allein auf meine Entdeckungsreise, denn ich wollte mich den Neckereien meines Herrn um so weniger aussetzen, als ich nicht die mindeste Furcht empfand.

Indessen war die Nacht völlig hereingebrochen, eine Nacht ohne Mondenschein, aber mit viel tausend blinkenden Sternen, die den Himmel erhellten und ihr Licht in die leichten, hin und her wogenden, durchsichtigen Nebelschleier warfen.

Während des Gehens blickte ich bald rechts, bald links und bemerkte, daß in diesem neblichten Dämmerlicht alle Dinge eine fremde Gestalt annahmen, nur mit Mühe konnte man das Gebüsch, die Ginstersträucher und die kleinen, verkümmerten Bäume erkennen, die hier und dort mit ihren verkrüppelten Stämmen und verdrehten Zweigen emporragten: von weitem glichen diese Sträucher, die Ginsterbüsche und Bäume lebenden gespenstischen Wesen. Es war, als habe sich die Heide in der Dunkelheit verwandelt und werde von geheimnisvollen Erscheinungen bevölkert.

Der Gedanke kam mir, ich weiß selbst nicht wie, daß sich ein andrer an meiner Stelle vielleicht vor diesen Erscheinungen gefürchtet hätte, aber ich fand keine Angst in mir.

Bald hatte ich den Gipfel des Hügels erreicht, aber ich mochte meine Augen aufreißen, wie ich wollte, ich sah nicht den geringsten Lichtschein. Meine Blicke verloren sich in der Dunkelheit; nichts als unbestimmte, sonderbare Schatten, Ginster, der seine Zweige wie lange, biegsame Arme nach mir auszustrecken schien, und tanzende Gebüsche und Gesträucher.

Da ich nichts sah, was auf die Nähe eines Hauses schließen ließ, lauschte ich, ob ich nicht irgendwelches Geräusch, etwa das Blöken einer Kuh oder das Bellen eines Hundes, vernehme.

Nachdem ich eine Weile atemlos gehorcht hatte, überlief mich ein Schauder; die Stille der Heide hatte mich verstört; ich fürchtete mich. Wovor? Ich wußte es nicht; ohne Zweifel vor der Einsamkeit und der Nacht. Jedenfalls fühlte ich mich von einer Gefahr bedroht.

In diesem Augenblick sah ich mich ängstlich um und bemerkte in der Ferne einen großen Schatten, der sich eilig über dem Ginster vorwärts bewegte, und vernahm gleichzeitig das Rascheln gestreifter Zweige.

Ich versuchte, mir klar zu machen, daß die Furcht mich verblende und dieser Schatten nichts sei, als ein kleiner Baum, den ich vorher nicht bemerkt hatte.

Aber kein Lüftchen rührte sich, und Zweige, sie mögen so leicht sein, wie sie wollen, bewegen sich nicht von selbst – wenn es der Wind nicht ist, muß es sonst jemand sein, der sie in Bewegung setzt.

Sonst jemand?

Doch nein, dieser große, schwarze Körper, der sich jetzt auf mich zu bewegte, konnte kein Mensch sein, eher ein mir unbekanntes Tier, ein riesiger Nachtvogel oder auch eine ungeheure, vierfüßige Spinne, deren dünne Glieder sich über dem Gesträuch und den Farnkräutern von dem fahlen Himmel abhoben.

Das stand jedenfalls fest, daß dies Tier sich auf unermeßlich hohen Beinen in eiligen Sätzen auf mich zu bewegte.

Dieser Gedanke setzte meine Beine, die mir versagt hatten, wieder in Bewegung, und Hals über Kopf eilte ich den Hügel hinab, um mich wieder zu Vitalis zu begeben.

Aber merkwürdigerweise kam ich nicht so schnell hinunter, als ich heraufgekommen war, ich fiel in die Ginster- und Farnsträucher, ich stieß mich, ich blieb hängen, kurzum, bei jedem Schritt wurde ich aufgehalten.

Während ich mich von einem Strauch losmachte, warf ich einen scheuen Blick zurück: das Tier war nähergekommen, es holte mich ein!

Glücklicherweise war die Heide hier nicht mehr vom Gestrüpp bedeckt, und ich konnte rascher vorwärtslaufen.

Allein so flink ich war, das Tier war noch schneller als ich; ich hatte nicht mehr nötig, mich umzusehen, ich fühlte es im Rücken.

Der Atem versagte mir durch den eilenden Lauf, ich machte eine letzte Anstrengung und brach zu den Füßen meines Herrn zusammen, während die drei Hunde, die plötzlich aufgefahren waren, aus vollem Halse bellten.

Ich konnte nur noch ganz mechanisch die zwei Worte stammeln: »Das Tier! das Tier!«

Durch das Hundegekläff hindurch vernahm ich plötzlich ein schallendes Gelächter; gleichzeitig legte mir mein Herr seine Hand auf die Schulter und drehte mich um.

»Sieh dich doch ein wenig um, wenn du's wagst,« sagte er lachend.

Sein Gelächter noch mehr als seine Worte hatten mich wieder zur Vernunft gebracht; ich wagte die Augen zu öffnen und folgte der Richtung seiner Hand.

Die Erscheinung, die mich so außer Fassung gebracht hatte, stand jetzt unbeweglich auf der Straße. Ich faßte Mut und sah sie an.

War es ein Tier?

War es ein Mensch?

Vom Menschen hatte es den Körper, den Kopf, die Arme.

Vom Tier die haarige Haut, von der es ganz bedeckt war, und die zwei langen mageren Pfoten, auf denen es stehen blieb.

Obgleich es ganz dunkel war, konnte ich diese Einzelheiten unterscheiden, denn dieser große Schatten hob sich in schwarzen Umrissen von dem Himmel ab, den zahllose Sterne mit ihrem bleichen Licht erhellten.

Wahrscheinlich hätte ich diese Frage noch lange unentschlossen hin und her überlegt, wenn mein Herr die Erscheinung nicht angesprochen hätte.

»Könnt Ihr mir sagen, wie weit wir vom nächsten Dorf entfernt sind?«

Es mußte also ein Mensch sein, da er mit ihm sprach!

Aber statt aller Antwort vernahm ich nur ein trockenes Lachen, das klang wie der Schrei eines Vogels.

Es war also doch ein Tier?

Indessen fuhr mein Herr in seinen Fragen fort, was mir sehr unvernünftig vorkam, denn wenn uns auch die Tiere manchmal verstehen, so können sie uns doch niemals antworten.

Wie groß war aber mein Erstaunen, als dann dieses Tier sagte, es gebe keine Häuser, nur eine Schäferei in der Nähe, und nach dieser wolle er uns führen.

Wenn er doch sprechen konnte, warum hatte er dann die Füße eines Tieres?

Wenn ich den Mut gehabt hätte, wäre ich nähergetreten, um zu sehen, wie diese Füße beschaffen waren, aber, obgleich er nicht böse zu sein schien, fürchtete ich mich doch und nahm schweigend meinen Quersack auf und folgte meinem Herrn.

»Siehst du jetzt, was dir diese furchtbare Angst eingejagt hat?« fragte dieser im Weitergehen.

»Ja,« entgegnete ich, »aber ich verstehe es nicht. Gibt es denn Riesen hierzulande?«

»Ja, wenn die Leute auf Stelzen steigen.«

Nun erklärte er mir, daß die Bewohner des Landes sich der Stelzen bedienen, um auf den sandigen oder sumpfigen Strecken ihres Landes nicht bis über die Hüften einzusinken.

»Und so werden sie für furchtsame Kinder zu Riesen mit Siebenmeilenstiefeln.«


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