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Zwanzigstes Kapitel.
Ich werde Gärtner

Am nächsten Tag sollte mein Herr beerdigt werden, und Vater Peter hatte mir versprochen, mich zu seinem Begräbnis zu begleiten; allein in der Nacht wurde ich von einem Schüttelfrost, dem Vorläufer eines heftigen Fiebers, befallen und konnte am Morgen nicht aufstehen.

Wie Herzblatt im Schnee, hatte ich mir in der in der Kälte verbrachten Nacht, die meinen Herrn das Leben kostete, eine Lungenentzündung zugezogen.

Obwohl die Armen in der Regel nicht geneigt sind, schnell zum Arzt zu laufen, so war ich doch so schwer erkrankt, daß man um meinetwillen von dieser ebenso sehr aus Gewohnheit als aus Instinkt hervorgegangenen Regel abwich. Der herbeigerufene Arzt erkannte meine Krankheit sofort und sagte, man solle mich ins Spital schaffen.

Das wäre auch wirklich das einfachste und leichteste gewesen, aber Vater Peter wollte nichts davon hören.

»Da er vor unsrer Thür, und nicht vor der des Spitals zusammengebrochen ist, so wollen wir ihn auch behalten« – dabei blieb der wackere Fatalist trotz aller Gegengründe des Arztes und behielt mich in seinem Haus.

Zu all ihren übrigen Beschäftigungen hin hatte Etiennette auch noch das Amt einer Krankenwärterin auf sich genommen und pflegte mich mit soviel Sorgfalt und Geduld, daß es eine gelernte Schwester nicht hätte besser machen können. War sie genötigt, ihren häuslichen Geschäften nachzugehen, so nahm Lieschen ihre Stelle ein, und gar oft sah ich in meinen Fieberträumen das stumme Mädchen am Fußende meines Bettes stehen und mich mit großen, angstvollen Augen betrachten. In meinen Phantasieen hielt ich die Kleine dann für meinen Schutzengel und vertraute ihr all meine Hoffnungen und Wünsche an.

Seither gewöhnte ich mich unwillkürlich daran, sie wie ein Ideal, wie eine von Strahlenglanz umflossene Erscheinung zu betrachten, die zu meiner größten Ueberraschung unser alltägliches Leben mit uns teilte, statt, wie ich erwartete, auf großen weißen Schwingen nach oben zu schweben.

Meine Krankheit dauerte lange und bereitete mir viele Schmerzen, denn die Genesung wurde von mehreren Rückfällen aufgehalten, wodurch aber die Geduld und Aufopferungsfähigkeit Etiennettes keineswegs erschöpft wurden, und mehrere Nächte hielten Alexis und Benjamin abwechslungsweise Wache bei mir.

Endlich stellte sich die Genesung ein, und nun trat Lieschen an die Stelle Etiennettes und führte mich an den nun wieder grün werdenden Ufern der Bièvre spazieren. Gegen Mittag, wenn die Sonne am höchsten stand, machten wir uns Hand in Hand, von Capi begleitet, langsam auf den Weg. In jenem Jahr war der Frühling lieblich und lind, und noch heute steht er in der schönsten Erinnerung bei mir.

Die Bièvre schlängelt sich zwischen Maison-Blanche und La Glacière, ehe sie durch die Fabriken des Faubourg Saint Marcel verunreinigt wird, unter einem Dickicht von überhängenden Weiden und Pappeln dahin, und an ihren Ufern breiten sich grüne Wiesen aus, die sachte zu kleinen, von Häusern und Gärten bekrönten Hügeln anschwellen; das Gras steht frisch und dicht, die Gänseblümchen durchwirken den smaragdgrünen Teppich mit ihren silbernen Sternchen, und in den neues Laub treibenden Weiden und in den Pappeln, deren schwellende Blattknospen mit einem klebrigen Harz überzogen sind, flattern Amseln, Grasmücken und Finken von Ast zu Ast, und ihr lustiges Zwitschern sagt uns, daß wir uns hier noch auf dem Land und nicht in der Stadt befinden.

Während unsrer Spaziergänge in diesem kleinen Thal, – das heute noch so lebendig vor mir steht, daß ich es malen könnte, sprach Lieschen natürlich nichts, aber das Merkwürdige an der Sache war, daß wir der Sprache gar nicht bedurften und uns vorzüglich mit Blicken zu verständigen wußten, was zur Folge hatte, daß auch ich schließlich das Sprechen aufsteckte.

Endlich gewann ich wieder neue Kräfte, so daß ich mich bei den Gartenarbeiten beteiligen durfte. Mit Ungeduld hatte ich diesen Augenblick herbeigesehnt, denn es verlangte mich, für die andern zu thun, was sie für mich thaten, und ihnen, soweit es meine Kraft vermochte, durch Arbeit wieder zu vergelten, was sie mir gegeben hatten. Bis dahin hatte ich noch nie gearbeitet, denn so mühselig unsre langen Märsche oft waren, so waren sie doch keine ständige, guten Willen und Fleiß erfordernde Arbeit, aber ich glaube, daß ich gut, wenigstens unverdrossen arbeitete, wie es mich das Beispiel meiner Umgebung lehrte.

Es war in der Jahreszeit, wo die ersten Levkojen auf die Pariser Blumenmärkte gebracht wurden, und der Vater Acquin beschäftigte sich in diesem Augenblick hauptsächlich mit der Kultur dieser Pflanze. Unser Garten war voller Levkojen, die hier in allen Farben und allen Sorten zu finden waren, und des Abends, ehe die Mistbeetfenster geschlossen wurden, erfüllten sie die Luft mit ihrem lieblichen Duft.

Die Arbeit, mit der ich betraut wurde, bestand, meinen Kräften entsprechend, darin, morgens, sobald der Frost vorüber war, die Mistbeetfenster wegzunehmen und des Abends zur rechten Zeit wieder aufzulegen, während ich die Pflanzen den Tag über mit leichten Matten vor dem Sonnenbrand zu schützen hatte. Wohl war dies alles nicht sehr schwer, aber es nahm ziemlich viel Zeit in Anspruch, da ich mehrere Hundert Mistbeetfenster zweimal des Tages hin und her zu schaffen und die Kasten mit den Pflanzen zu überwachen und je nachdem der Sonne preiszugeben oder zu beschatten hatte.

Während dieser Zeit war Lieschen an dem Göpelwerk beschäftigt, vermittelst dessen das zum Gießen nötige Wasser in die Höhe geschafft wurde, und wenn der alte Gaul es müde wurde, immer im Kreis herumzugehen und die Augen von der Ledermaske bedeckt zu haben, so munterte die Kleine das Tier mit Peitschenknallen etwas auf. Einer der Brüder goß die Eimer, die durch das Triebwerk gefüllt heraufgewunden wurden, aus, während der andere dem Vater half; es füllte jeder seinen Platz aus, und niemand vertrödelte seine Zeit.

Wohl hatte ich die Bauern in meinem Dorf ihr Feld bestellen sehen, allein von der Ausdauer und dem Fleiß der Pariser Gärtner hatte ich keinen Begriff gehabt, ebensowenig wie davon, was man der Erde durch rastlosen Fleiß abgewinnen kann – bei Vater Acquin befand ich mich aber in guter Schule.

Ich wurde indessen nicht ausschließlich bei den Mistbeetfenstern beschäftigt; als meine Kräfte sich wieder hoben, verschaffte man mir auch die Genugthuung, säen und keimen sehen zu dürfen, und das gewährte mir dann wieder das süße Bewußtsein, etwas leisten zu können, und dies entschädigte auch für die größte Mühe und Anstrengung.

Trotz der mancherlei Beschwerden, die dieses neue, von meinem früheren Wanderleben so gänzlich verschiedene Dasein mit sich brachte, gewöhnte ich mich doch recht schnell an die geregelte Arbeit. Sah ich ja doch alle andern ebenso hart zugreifen, wie ich es mußte; die Gießkannen des Vaters waren noch viel schwerer, als die meinen, und sein Hemd war noch viel mehr von Schweiß getränkt, als das meine und das der andern Jungen.

Nichts gewährt bei Mühen und Anstrengungen einen größeren Trost als die Gleichheit, und für mich kam noch dazu, daß ich hier etwas fand, auf das ich schon für immer verzichtet hatte – das Familienleben. Ich stand nicht mehr allein, ich war nicht mehr das verlassene Kind, ich hatte mein eigenes Bett, meinen eigenen Platz an dem Tisch, um den wir uns alle versammelten. Tauschten Alexis, Benjamin und ich auch im Laufe des Tages etliche Püffe und Ohrfeigen aus, so waren diese kleinen Zwistigkeiten doch alsbald wieder vergessen, und am Abend fanden wir uns als Freunde und Brüder wieder zusammen.

Uebrigens bestand unser Leben keineswegs aus eitel Arbeit und Mühsal, wir hatten auch unsre Erholungsstunden und unsre Vergnügungen, und wenn diese auch ziemlich karg bemessen waren, so schienen sie uns dadurch nur um so genußreicher.

Sonntag nachmittags fanden wir uns in einer an das Haus anstoßenden kleinen Weinlaube zusammen; ich nahm meine Harfe vom Nagel und spielte den beiden Brüdern und Schwestern zum Tanz auf. Keiner von ihnen hatte tanzen gelernt, aber Alexis und Benjamin waren einmal bei einem Hochzeitsfest gewesen und hatten von da mehr oder weniger richtige Begriffe von einem Kontertanz mitgebracht, und diese Erinnerungen dienten ihnen jetzt zur Anleitung.

Hatten sie genug getanzt, so mußte ich mein ganzes Repertoir durchsingen, und mein neapolitanisches Lied verfehlte nie, seinen unwiderstehlichen Eindruck auf Lieschen hervorzubringen.

Fenesta, vascia e patrona crudele.

Nie sang ich die letzte Strophe, ohne Thränen in ihren Augen zu sehen.

Dann spielte ich wohl, um sie wieder aufzuheitern, ein lustiges Stück mit Capi. Auch für diesen war der Sonntag ein Festtag, an dem seine alten Erinnerungen wieder aufgefrischt wurden, und gerne hätte er wieder von vorne angefangen, wenn seine Rolle zu Ende gespielt war.

So vergingen zwei Jahre, während welcher Zeit ich allmählich auch Paris kennen lernte, da mich Vater Peter oft mit auf den Markt oder zu den Blumenhändlern nahm, zu denen wir unsre Pflanzen brachten; fand ich auch die Gold- und Marmorstadt nicht, von der ich einstens geträumt hatte, so erkannte ich dagegen auch, daß Paris nicht das Schmutznest ist, für das ich es bei meinem Einmarsch etwas zu voreilig erklärt hatte.

Ich sah Statuen, Denkmäler und Bauwerke, spazierte die Quais und Boulevards entlang, erging mich im Luxemburg- und im Tuileriengarten, sowie in den Champs-Elysées.

Die ständige Bewegung der Volksmengen in den Straßen erfüllte mich mit Bewunderung, und nun erst bekam ich einen Begriff von dem Leben einer Großstadt.

Glücklicherweise beschränkte sich meine Ausbildung nicht auf das, was ich durch meine Augen und meine zufälligen Wanderungen durch Paris lernte. Ehe sich Vater Acquin selbständig machte, hatte er in den Pflanzschulen des Jardin des Plantes gearbeitet und war dort mit Männern der Wissenschaft in Berührung gekommen, wodurch seine Lernbegierde angeregt worden war. Mehrere Jahre lang hatte er alle seine Ersparnisse zum Ankauf von Büchern verwendet, die er dann in seinen Mußestunden gelesen hatte. Später als Ehemann und Familienvater waren dann der Erholungsstunden immer weniger geworden, aber er hatte seine Bücher, wenn er auch nicht mehr dazu kam, sie zu lesen, deshalb doch weder verkauft noch verloren, sondern in einem Schrank aufbewahrt. Da der erste Winter, den ich in der Familie Acquin verlebte, sehr lange war, und die Gartenarbeiten mehrere Monate nahezu ruhten, wurden die alten Bücher zur Unterhaltung während der langen Wintermonate wieder hervorgeholt und unter uns verteilt. Abgesehen von einigen Reisebeschreibungen, waren es botanische Werke; Benjamin und Alexis hatten die Freude ihres Vaters am Lesen nicht überkommen und pflegten einzuschlafen, nachdem sie einige Seiten umgeblättert hatten, während ich bis zum Schlafengehen weiterlas. Der erste Unterricht des alten Vitalis war nicht verloren gegangen, und allabendlich gedachte ich seiner mit Liebe und Dankbarkeit.

Meine Lernbegierde gemahnte Vater Peter an die Zeit, wo er sich gar oft zwei Sous an seinem Frühstück abgespart hatte, um sich Bücher dafür zu kaufen, und deshalb ergänzte er die vorhandenen Bücher mit einigen neuen, die er mir ab und zu aus Paris mitbrachte. Wenn auch die Auswahl gänzlich vom Zufall abhing und häufig durch den Titel beeinflußt wurde, so waren es doch immer Bücher, und wenn auf diese Weise auch ein bißchen Durcheinander in meinem Kopf entstand, so glich sich das doch später wieder aus, und was Gutes und Lehrreiches darin stand, blieb haften bis auf den heutigen Tag.

Lieschen konnte nicht lesen, aber als sie sah, daß ich jeden freien Augenblick benutzte, um meine Nase in die Bücher zu stecken, begehrte sie zu erfahren, was mich so zu fesseln vermochte, und verlangte, daß ich ihr vorlese. Dies bildete ein neues Band zwischen uns, und da sie nicht durch seichte, oberflächliche Unterhaltung abgelenkt und ihr lebhafter Geist immer thätig war, so boten ihr diese Vorlesungen Zerstreuung und geistige Nahrung.

Gar manche Stunde verbrachten wir so zusammen: sie saß vor mir und verwandte kein Auge von mir, während ich ihr vorlas. Manchmal hielt ich inne, weil ich ein Wort oder ganze Stellen nicht verstand, und dann besannen wir uns darüber; fanden wir den Sinn nicht heraus, so winkte sie mir, fortzufahren und machte eine Gebärde, die sagen sollte: »später«. Auch zeichnen lehrte ich sie, das heißt, was ich so zeichnen nannte; es war dies ein langwieriges Stück Arbeit, denn ich war ohne Zweifel ein recht armseliger Lehrer; schließlich kamen wir aber doch zum Ziel, denn wir verstanden uns sehr gut, und das gegenseitige Verständnis zwischen Lehrer und Schüler fördert oft mehr als das Talent. Welche Freude war es dann aber, als sie etwas zu stände brachte, aus dem man erraten konnte, was sie hatte machen wollen.

Der Vater Acquin gab mir einen Kuß und sagte lachend: »Ich hätte wahrhaftig einen dümmeren Streich machen können, als dich bei mir zu behalten: Lieschen wird das später wieder wett machen.«

»Später,« das sollte heißen, wenn sie wieder sprechen können würde, denn man hatte diese Hoffnung keineswegs aufgegeben; ließ sich auch für den Augenblick nichts thun, so machten doch die Aerzte Hoffnung, daß sie infolge irgend einer Krisis die Sprache so plötzlich wieder gewinnen könne, als sie sie verloren hatte.

»Später« bedeutete auch das traurige Zeichen, das sie mir machte, wenn ich ihr Lieder vorsang. Sie hatte nämlich gewollt, daß ich sie die Harfe spielen lehrte, und ihre geschickten Fingerchen hatten gar rasch gelernt, die meinen nachzuahmen, aber natürlich konnte sie nicht singen lernen, und das trieb ihr gar oft die Thränen in die Augen; »später« sagte dann ihr ergebenes trauriges Lächeln.

Von Vater Acquin wie ein Sohn und von den Kindern wie ihr Bruder behandelt, wäre ich jedenfalls für immer in dem Gärtnerhäuschen geblieben, wenn nicht plötzlich eine Katastrophe eingetreten wäre, die meinem Leben wiederum eine andre Richtung gab; denn es war mir nicht beschieden, lange in Ruhe und Glück zu verbleiben, und so sollte ich auch jetzt, als ich es am wenigsten erwartete, wieder in mein früheres abenteuerliches Leben zurückgeschleudert werden.


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