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Elftes Kapitel.
Auf dem Schiff

Als ich mit schwerem Herzen und roten Augen nach der Herberge zurückkam, traf ich unter der Hofthür den Wirt, der mich lange forschend betrachtete.

Ich wollte an ihm vorbei zu den Hunden gehen, aber er hielt mich zurück.

»Nun,« fragte er, »und dein Herr?«

»Er ist verurteilt.«

»Zu wie viel?«

»Zu zwei Monaten Gefängnis.«

»Und zu welcher Geldstrafe?«

»Zu hundert Franken.«

»Zwei Monate, hundert Franken,« wiederholte er drei- oder viermal.

Nun wollte ich weitergehen, aber wieder hielt er mich auf.

»Und was willst du während dieser zwei Monate anfangen?«

»Das weiß ich nicht, Herr.«

»Ach so, du weißt es nicht! Vermutlich hast du Geld, um davon leben und die Tiere füttern zu können?«

»Nein, Herr.«

»Also rechnest du auch auf mich und denkst, ich werde euch ein Unterkommen geben?«

»O nein, Herr, ich rechne auf niemand.«

Nichts konnte wahrer sein – ich rechnete wirklich auf niemand.

»Nun, mein Junge,« fuhr der Wirt fort, »da hast du recht; dein Herr ist mir schon viel zu viel Geld schuldig, als daß ich dir noch während dieser zwei Monate Kredit geben könnte, ohne gewiß zu sein, daß ich nachher bezahlt werde. Du mußt fort von hier.«

»Fort! Aber wo soll ich denn hingehen?«

»Das ist nicht meine Sache; ich bin weder dein Vater, noch dein Herr. Warum sollte ich dich denn bei mir behalten?«

Einen Augenblick stand ich ganz verblüfft. Was entgegnen? Der Mann hatte recht. Warum sollte er mich bei sich behalten? Ich wäre ihm nur lästig und hinderlich gewesen.

»Voran, Junge, nimm deine Hunde und deine Affen und mach, daß du weiter kommst!« drängte der Wirt. »Wohlverstanden, den Ranzen deines Herrn läßt du mir hier. Wenn er aus dem Gefängnis entlassen wird, kommt er sicher, um ihn zu holen, und dann können wir unsre Rechnung ausgleichen.«

»Wenn Sie aber so überzeugt sind, daß Ihre Rechnung dann beglichen wird, so behalten Sie mich doch hier und rechnen Sie das, was ich verzehre, meinem Herrn auch an.«

»Meinst du, mein Junge? Dein Herr wird mir wohl einige Tage bezahlen können, aber mit zwei Monaten ist das eine andre Sache.«

»Ich werde so wenig essen, als Sie wollen.«

»Und die Tiere? Nein, nein, du mußt fort! In den umliegenden Dörfern kannst du arbeiten und deinen Unterhalt leicht verdienen.«

»Aber wie soll mich dann mein Herr wiederfinden, wenn er aus dem Gefängnis kommt? Er wird mich sicher hier abholen wollen.«

»Du brauchst ja nur an diesem Tag zurückzukommen; ziehe während dieser zwei Monate in der Umgegend, in den Badeorten umher. In Bagnères, in Cauterets, in Luz gibt's Geld genug zu verdienen.«

»Und wenn mein Herr mir schreibt?«

»Dann hebe ich dir seinen Brief auf.«

»Aber wenn ich ihm nicht antworte?«

»Nun hab' ich's aber wirklich satt! Ich habe dir gesagt, du sollst machen, daß du fortkommst, nun pack dich sofort! Ich gebe dir noch fünf Minuten Zeit, und finde ich dich dann noch hier, so wirst du schon sehen!«

Jeder weitere Widerstand war vergeblich, das sah ich ein; ich mußte mich packen, wie der Wirt sagte. Ich trat also in den Stall, band Herzblatt und die Hunde los, schnallte meinen Ranzen, schlang das Tragband meiner Harfe um die Schulter und verließ die Herberge.

Der Wirt stand unter der Thür, um mich zu überwachen. »Wenn ein Brief kommt, hebe ich ihn dir auf,« rief er mir noch zu.

Eilig verließ ich die Stadt, denn meine Hunde trugen keine Maulkörbe. Was sollte ich antworten, wenn ich einem Polizeidiener begegnete? Daß ich kein Geld hätte, ihnen Maulkörbe zu kaufen? Es wäre übrigens nur die Wahrheit gewesen, denn alles in allem hatte ich nur elf Sous in der Tasche, und das genügte nicht zu einer solchen Anschaffung. Wenn man mich dann aber auch verhaftete? Was würde aus Herzblatt und den Hunden werden, während mein Herr und ich im Gefängnis saßen? Ich, das heimatlose Kind, war mit einemmal Direktor einer Truppe, das Haupt einer Familie geworden, und war mir meiner Verantwortlichkeit wohl bewußt.

Während sie rasch neben mir her liefen, hoben die Hunde ihre Köpfe zu mir empor und sahen mich mit einer Miene an, die zu ihrer Erklärung keiner Worte bedurfte: sie hatten Hunger.

Herzblatt, der auf meinem Ränzel hockte, zupfte mich von Zeit zu Zeit am Ohr, damit ich mich nach ihm umsähe, und dann fuhr er sich in einer Weise über den Bauch, die nicht weniger ausdrucksvoll war, als die Blicke der Hunde.

Auch ich hätte von meinem Hunger erzählen können, denn ich hatte so wenig gefrühstückt wie sie, aber was hätte es genutzt?

Meine elf Sous reichten nicht zu Frühstück und Mittagbrot für uns alle, wir mußten uns mit einer einzigen Mahlzeit begnügen, und es war am besten, sie in der Mitte des Tages einzunehmen.

Die Herberge, in der wir gewohnt, und aus der man uns eben fortgejagt hatte, lag in der Vorstadt Saint Michel auf dem Weg nach Montpellier, und ich schlug naturgemäß diese Richtung ein, da ich nur den einen Wunsch hatte, mich möglichst schnell von Toulouse zu entfernen, und es mir einerlei war, wohin ich ging.

Ich denke, wir marschierten gut zwei Stunden weit, ohne daß ich wagte, Halt zu machen, und doch wurden die Blicke der Hunde immer flehender, und Herzblatt strich sich immer heftiger über den Bauch.

Endlich glaubte ich mich weit genug von Toulouse entfernt, um nichts mehr von der Polizei zu fürchten zu haben, und trat in den ersten Bäckerladen, den ich finden konnte, und verlangte anderthalb Pfund Brot.

»Nimm nur einen Laib von zwei Pfund,« sagte die Bäckerin, »mit deiner Menagerie ist das nicht zu viel; die armen Tiere müssen doch auch was zu fressen kriegen.«

Gewiß waren zwei Pfund Brot nicht zu viel für meine Menagerie, denn Herzblatt, der keine großen Stücke vertilgte, nicht mitgerechnet, kam auf jeden von uns doch nur ein halbes Pfund.

Damals kostete das Pfund Brot fünf Sous, und wenn ich zwei Pfund kaufte, so mußte ich zehn Sous bezahlen und behielt nur noch einen übrig.

Folglich durfte ich mich zu einer solchen Verschwendung nicht hinreißen lassen, ehe für den nächsten Tag gesorgt war. Wenn ich dagegen nur anderthalb Pfund Brot kaufte, so kostete es sieben Sous und drei Centimes, und es blieben mir noch drei Sous und zwei Centimes übrig, gerade so viel, daß wir nicht verhungern mußten und eine Gelegenheit abwarten konnten, etwas zu verdienen.

Schnell machte ich diese Berechnung und erwiderte der Bäckerin mit möglichst sicherem Ton, ich habe mit anderthalb Pfund Brot genug, und sie solle mir nicht mehr abschneiden.

»'s ist recht,« sagte sie und schnitt mir von einem schönen, sechspfündigen Laib, den wir mit Leichtigkeit ganz aufgegessen hätten, das Verlangte ab, legte es in die Wage, gab dieser einen leichten Stoß und sagte: »Es ist ein bißchen mehr, gerade für die zwei Centimes.«

Damit ließ sie meine acht Sous in ihre Lade fallen.

Ich habe Leute gesehen, die die Centimes, die sie herausbekamen, nicht nahmen und sagten, sie wüßten nicht, was sie damit anfangen sollten, aber ich hätte die zwei Centimes, die mir zukamen, weiß Gott, nicht zurückgewiesen, allein ich wagte nicht, sie zurückzufordern, drückte mein Brot fest an die Brust und ging, ohne etwas zu sagen.

Die Hunde sprangen fröhlich um mich herum, während Herzblatt lustig kreischte und mich an den Haaren zupfte.

Wir gingen nicht mehr viel weiter.

Am nächsten Baum machten wir Halt; ich lehnte meine Harfe an einen Baumstamm und streckte mich im Grase aus; die Hunde setzten sich mir gegenüber, Capi nahm zwischen Dolce und Zerbino Platz, während Herzblatt, der nicht müde war, stehen blieb, um alle ihm etwa zusagenden Bissen schnellstens stehlen zu können.

Das Zerschneiden meines Brotes war ein schwieriges Stück Arbeit; ich zerteilte es in fünf möglichst gleiche Stücke, die ich wieder in kleine Scheiben zerschnitt, damit kein Brot vergeudet würde. Nun bekam der Reihe nach jeder ein Stück, wie bei den Soldaten, die gemeinschaftlich aus einer Schüssel essen.

Herzblatt, der weniger Nahrung bedurfte als wir, kam dabei am besten weg und war schon satt, als wir noch ganz hungrig waren: drei Schnitten von seinem Anteil steckte ich in mein Ränzel, um sie später den Hunden zu geben; von den nun noch übrigen vier Scheiben bekam jeder von uns eine als Nachtisch.

Obgleich diese Mahlzeit eigentlich nichts mit einem Festmahl gemein hatte, das zu Tischreden verlockte, hielt ich doch den Augenblick für gekommen, einige Worte an meine Kameraden zu richten. Natürlich betrachtete ich mich als ihr Oberhaupt, aber ich dünkte mich doch nicht so viel mehr als sie, um mich nicht zu Mitteilungen über die ernste Lage, in der wir uns befanden, verpflichtet zu fühlen.

Capi hatte jedenfalls meine Absicht erraten, denn er hielt seine großen, klugen, liebevollen Augen fest auf die meinen gerichtet.

»Ja, mein Freund Capi,« sagte ich, »ja, meine lieben Kameraden, ich habe euch eine schlimme Nachricht mitzuteilen: unser Herr ist auf zwei Monate von uns fort.«

»Wuh, wuh!« klagte Capi.

»Ja, es ist sehr traurig, sowohl für ihn, als auch für uns, denn sonst hat er uns ernährt, und in seiner Abwesenheit befinden wir uns in einer schrecklichen Lage. Wir haben kein Geld.«

Bei diesem Wort, das er sehr gut kannte, richtete sich Capi auf seinen Hinterfüßen auf und begann im Kreis herumzugehen, wie wenn er in den Reihen eines »verehrlichen Publikums« einsammelte.

»Du meinst, wir sollen Vorstellungen geben,« fuhr ich fort, »das ist ein sehr guter Rat, aber werden wir auch Einnahmen haben? Davon hängt alles ab, denn wir haben, wie ich euch mitteilen muß, nur noch drei Sous im Vermögen. Wir müssen uns also den Schmachtriemen fester anziehen. So wie die Sachen liegen, hoffe ich fest, daß ihr den Ernst der Umstände begreifen und, statt mir Streiche zu spielen, eure Fähigkeiten in den Dienst der Gesellschaft stellen werdet. Ich fordere von euch Gehorsam, Mäßigkeit und guten Mut. Wir wollen zusammenstehen, und ihr könnt euch auf mich verlassen, wie ich mich auf euch verlasse.«

Ich wage nicht zu behaupten, daß meine Kameraden alle Schönheiten dieser aus dem Stegreif gehaltenen Rede zu würdigen wußten, aber sicherlich fühlten sie die leitenden Gedanken heraus. Aus der Abwesenheit unsers Herrn ersahen sie, daß sich etwas Ernstes begeben hatte, und sie erwarteten von mir eine Erklärung darüber. Wenn sie auch nicht alles verstanden, was ich sagte, so waren sie doch von meinem Verhalten ihnen gegenüber befriedigt und thaten mir ihre Zufriedenheit durch ihre Aufmerksamkeit kund.

Wenn ich von ihrer Aufmerksamkeit rede, so bezieht sich dies nur auf die Hunde, denn für Herzblatt war es ein Ding der Unmöglichkeit, seine Gedanken lange auf einen Gegenstand zu richten. Anfangs hatte er mir mit allen Zeichen des lebhaftesten Interesses zugehört, aber nachdem ich etwa zwanzig Worte gesprochen, war er auf den Baum gesprungen, in dessen Schatten wir saßen, und seelenvergnügt von Ast zu Ast gehüpft. Hätte mir Capi eine solche Beleidigung zugefügt, so würde ich mich tief verletzt gefühlt haben, aber von Herzblatt wunderte mich nichts, er war eben ein Leichtsinn, ein Hohlkopf, und schließlich war es auch ganz natürlich, daß der Affe sich ein wenig vergnügen wollte.

Ich muß gestehen, daß ich es am liebsten ebenso gemacht und mich auch auf dem Baume geschaukelt hätte, aber das Bewußtsein meiner Wichtigkeit und meiner Würde gestatteten mir derartige Zerstreuungen nicht.

Nach kurzer Rast gab ich das Zeichen zum Ausbruch, wir mußten uns unser Nachtlager oder mindestens unser morgiges Frühstück verdienen, wenn wir, wie höchst wahrscheinlich im Freien übernachteten.

Nachdem wir etwa eine Stunde weit gewandert waren, erblickten wir ein Dorf, das aus der Ferne wohl ziemlich ärmlich aussah und nur eine geringe Einnahme erwarten ließ, aber das durfte mich nicht entmutigen, denn ich war in Betreff der Einnahme nicht anspruchsvoll und sagte mir, daß ich in einem so kleinen Dorf auch weniger Gefahr laufe, einem Polizeidiener zu begegnen.

Ich putzte also meine Künstler heraus, und in schönster Ordnung hielten wir unsren Einzug in das Dorf. Unglücklicherweise fehlte uns aber die Pfeife, die stattliche Erscheinung und das sichere Auftreten des alten Vitalis, der überall die Blicke auf sich lenkte, während ich im Gegenteil sehr klein und schüchtern war.

Ich blickte nach rechts und nach links, um zu sehen, welchen Eindruck wir hervorbrachten: leider war dies ein äußerst mittelmäßiger: man hob den Kopf, ließ ihn wieder sinken und kein Mensch lief hinter uns drein.

Auf einem kleinen Platz mit einem von Platanen beschatteten Brunnen nahm ich meine Harfe und fing an, einen Walzer zu spielen. Die Musik war lustig, meine Finger waren leicht, allein mein Herz war schwer, und ich hatte die Empfindung, eine schwere Last auf meinen Schultern zu tragen.

Ich hieß Zerbino und Dolce tanzen; sie gehorchten mir sofort und fingen an, sich im Takt zu drehen.

Allein niemand kam, um uns zuzuschauen, und doch sah ich Frauen, die strickten und schwatzten, auf der Schwelle der Häuser sitzen.

Ich fuhr fort, zu spielen, Zerbino und Dolce zu tanzen; aber niemand kam – es war zum Verzweifeln.

Vielleicht hatten diese Leute keine Freude am Tanzen – das war immerhin möglich.

Ich befahl Zerbino und Dolce, sich zu legen, und stimmte meine Canzonetta an, und zwar sang ich mit mehr Eifer als je:

»Fenestra vascia e patrona crudele.
Quanta sopire m'aje fatto jettare.«

Eben hatte ich die zweite Strophe begonnen, als ich einen Mann in kurzem Rock, einen Filzhut auf dem Kopf, auf uns zukommen sah.

Endlich!

Ich sang noch feuriger.

»Holla,« rief er, »was treibst du denn hier, du Galgenstrick?«

Verblüfft durch diese Anrede, brach ich ab und sah ihn mit offenem Munde näher kommen.

»Nun, wirst du wohl antworten?« fragte er.

»Sie sehen, Herr, ich singe.«

»Hast du eine Erlaubnis, auf unsrem Marktplatz zu singen?«

»Nein, Herr.«

»Dann mach, daß du weiterkommst, wenn du nicht eingesteckt werden willst.«

»Aber, Herr ...«

»Nenne mich Herr Feldhüter und mache kehrt, du Betteljunge, du!«

Ein Feldhüter! Ich hatte bei meinem Herrn gesehen, was dabei herauskommen kann, wenn man sich gegen Polizeidiener und Feldhüter auflehnt!

Ich wartete also eine Wiederholung des Befehls nicht ab, drehte mich auf dem Absatz herum und ging schleunigst den Weg zurück, auf dem ich gekommen war.

Betteljunge! Das war eine Ungerechtigkeit! Ich hatte nicht gebettelt, ich hatte gesungen, und dies war meine Art, zu arbeiten!

Fünf Minuten später hatte ich diese ungastliche, aber wohl gehütete Gemeinde im Rücken.

Niedergeschlagen und traurig folgten mir meine Hunde, denn sie begriffen wohl, daß wir ein schlimmes Abenteuer überstanden hatten.

Von Zeit zu Zeit lief Capi mir vor, drehte sich nach mir um und sah mich mit seinen klugen Augen neugierig an. Jeder andre an seiner Stelle hätte mich gefragt, aber er war zu wohl erzogen, um seine Neugierde an den Tag zu legen, und ich sah, wie seine Nüstern bei der Anstrengung, sein Bellen zu unterdrücken, zitterten.

Als wir uns weit genug entfernt hatten, um das rohe Eingreifen des Feldhüters nicht mehr fürchten zu müssen, winkte ich mit der Hand, und sofort bildeten die drei Hunde einen Kreis um mich; unbeweglich, seine Augen fest auf die meinen gerichtet, stand Capi in der Mitte.

Der Augenblick war gekommen, ihnen die Erklärung zu geben, auf die sie warteten.

»Man schickte uns fort, weil wir nicht die Erlaubnis hatten, zu spielen,« sagte ich.

»Und nun?« fragte Capi durch eine Kopfbewegung.

»Und nun müssen wir irgendwo im Freien übernachten und haben kein Nachtessen.«

Bei dem Wort Nachtessen wurde ein allgemeines Knurren vernehmlich.

Ich zeigte meine drei Sous.

»Ihr wißt, daß das alles ist, was wir noch haben; geben wir diese drei Sous heute abend aus, so haben wir morgen kein Frühstück; da wir nun heute schon einmal gegessen haben, finde ich es klüger, an morgen zu denken.

Damit schob ich meine drei Sous wieder ein.

Capi und Dolce ließen ergeben den Kopf hängen, aber Zerbino, der nicht immer gutmütig und obendrein ziemlich gefräßig war, fuhr fort zu knurren.

Nachdem ich ihn strenge angesehen hatte, ohne ihn damit zum Schweigen zu bringen, wandte ich mich an Capi und sagte: »Erkläre Zerbino das, was er, wie es scheint, nicht verstehen will, das heißt, daß wir heute auf eine zweite Mahlzeit verzichten müssen, wenn wir morgen überhaupt eine einzige haben wollen.«

Sofort gab Capi Zerbino einen Klaps mit der Pfote, und nun schien sich eine Erörterung zwischen ihnen zu entspinnen.

Man darf an dem Wort »Erörterung« keinen Anstoß nehmen, weil ich es in Beziehung auf Tiere gebrauche, denn es steht ganz fest, daß jede Art Tiere ihre eigene Sprache hat. Wer je die Schwalben oder Ameisen genauer beobachtet hat, der weiß, daß diese Behauptung richtig ist, und daß die Schwalben bei Tagesanbruch keineswegs nur ein Liedchen singen, sondern ganz lebhaft miteinander zwitschern und plaudern, wie sich auch die Ameisen, wenn sie beim Begegnen ihre Fühler aneinander reiben, mitteilen, was sie gegenseitig interessiert. Was nun gar die Hunde betrifft, so können sie nicht nur sprechen, sondern auch lesen: man darf sie nur beobachten wie sie, die Nase in der Luft oder auch mit gesenktem Kopf Steine und Sträucher beschnuppern: dann machen sie wohl plötzlich vor einem Büschel Gras oder einer Mauer einen Augenblick Halt; unsereins sieht nichts Auffälliges an der Mauer, der Hund aber liest die merkwürdigsten Dinge von ihr ab, die in geheimnisvollen, uns unbekannten Zeichen hier geschrieben stehen.

Was Capi zu Zerbino sagte, weiß ich nicht, denn wenn auch die Hunde die Sprache der Menschen verstehen, so ist das doch umgekehrt nicht auch der Fall: ich sah nur, daß Zerbino keine Vernunft annehmen wollte, und daß er durchaus verlangte, die drei Sous sollten auf der Stelle für Brot ausgegeben werden; erst als Capi zornig wurde und ihm die Zähne wies, gab Zerbino, der gerade kein Held war, Ruhe.

Nachdem die Frage des Nachtessens auf diese Weise erledigt war, handelte es sich noch um die des Uebernachtens.

Das Wetter war schön, der Tag sehr warm gewesen und ein Nachtlager im Freien so übel nicht; man mußte nur sehen, so unterzukommen, daß man vor den Wölfen, deren es in dieser Gegend gab, und vor den Feldhütern, die für uns ungleich gefährlicher schienen, gesichert war.

Folglich mußte man auf der weißen Landstraße weiter wandern, bis man einen Unterschlupf fand, und dies thaten wir.

Der Weg zog sich endlos hin: Kilometer reihte sich an Kilometer, der letzte rosige Schimmer des Sonnenunterganges war verglommen, und noch immer hatten wir kein Nachtquartier gefunden.

Man mußte wohl oder übel einen Entschluß fassen.

Der Ort, an dem ich Halt machte, um hier die Nacht zuzubringen, war ein Wald, in dem sich hier und dort auf kahlen Flächen große Granitblöcke erhoben. Es war sehr traurig und sehr öde hier, aber wir hatten keine andre Wahl und ich hoffte, daß wir zwischen den Felsblöcken doch etwas Schutz vor der kühlen Nachtluft finden würden. Wenn ich sage wir, so meine ich damit Herzblatt und mich, denn für die Hunde war ich unbesorgt; es stand nicht zu fürchten, daß sie durch eine im Freien verbrachte Nacht ein Fieber davontragen würden. Aber für mich mußte ich Sorge tragen, denn ich war mir meiner Verantwortlichkeit wohl bewußt. Was sollte aus meiner Truppe werden, wenn ich krank wurde, und was sollte aus mir selbst werden, wenn ich Herzblatt pflegen mußte?

Wir verließen die Landstraße und schritten zwischen die Steine hinein, und bald entdeckte ich einen ungeheuren Granitblock, der so aufgerichtet war, daß sich eine Art Höhle unter ihm befand. In diese Höhlung hatten die Winde ein dichtes Bett von dürren Tannennadeln zusammengeblasen. Wir hätten es uns nicht besser wünschen können: eine Matratze, um uns darauf auszustrecken, und ein Dach, um uns zu schützen – es fehlte nichts als ein Stück Brot, aber daran durfte man nicht denken, und das Sprichwort sagt ja auch: Wer schläft, speist.

Ehe ich einschlief, erklärte ich Capi, daß ich mich auf seine Wachsamkeit verlasse, und das gute Tier stand vor unserer Zufluchtsstätte Schildwache, statt sich mit uns auf den Tannennadeln auszustrecken. Ich konnte ruhig sein, denn ich wußte, daß sich uns niemand zu nähern vermochte, ohne daß ich zeitig benachrichtigt würde.

Trotzdem schlief ich nicht gleich ein, als ich mich und Herzblatt in meine Jacke gewickelt, Dolce und Zerbino zu meinen Füßen zusammengekugelt, auf den Tannennadeln ausgestreckt hatte, denn meine Unruhe war noch größer als meine Müdigkeit.

Der erste Tag unsrer Wanderschaft war übel verlaufen, was würde wohl der Morgen bringen? Ich hatte Hunger und Durst und nur noch drei Sous im Vermögen. Ich mochte sie in meiner Tasche hin und her drehen, wie ich wollte, sie vermehrten sich nicht: eins, zwei, drei, über diese Zahl kam ich nie hinaus.

Wie wollte ich meine Truppe, mich selbst ernähren, wenn ich morgen und in den nächsten Tagen keine Vorstellungen geben konnte? Wo wollte ich Maulkörbe, wo einen Erlaubnisschein hernehmen? Mußten wir denn alle hinter einer Hecke Hungers sterben?

Während ich diese traurigen Gedanken hin und her wog, blickte ich zu den Sternen auf, die an dem nächtlichen Himmel blinkten. Kein Lüftchen rührte sich; ringsum war alles still, kein Rauschen im Laubwerk, kein Vogelruf, kein Wagenrollen von der Landstraße her; soweit mein Auge reichte, dehnten sich bläuliche Weiten vor mir aus – das Leere: wie allein, wie verlassen waren wir doch!

Meine Augen füllten sich mit Thränen, und plötzlich fing ich an zu weinen: arme Mutter Barberin! Armer Vitalis!

Ich hatte mich auf den Bauch gelegt und weinte unaufhaltsam in meine beiden Hände hinein, als ich plötzlich einen linden Hauch in meinen Haaren fühlte; rasch drehte ich mich um und eine lange, warme Zunge drückte sich in mein Gesicht. Es war Capi, der mich hatte weinen hören und nun kam, um mich zu trösten, wie in meiner ersten Nacht auf der Wanderschaft.

Ich schlang ihm meine beiden Arme um den Hals und küßte ihn auf seine feuchte Schnauze, dann ließ er ein leises, unterdrücktes Bellen vernehmen, und es schien mir, als weine er mit mir.

Als ich erwachte, war es heller Tag, und Capi saß vor mir und betrachtete mich; die Vögel zwitscherten im Laub; in weiter, weiter Ferne läutete eine Glocke den Angelus; die Sonne stand schon hoch am Himmel und sandte warme, ermutigende Strahlen herab, die auf Leib und Seele wohlthätig wirkten.

Unsre Morgentoilette war rasch beendet, wir machten uns auf den Weg und schlugen die Richtung nach den Glockentönen ein. Dort befand sich ein Dorf und in dem Dorf gab es ohne Zweifel einen Bäcker; wenn man ohne Mittagessen und ohne Abendbrot eingeschlafen ist, meldet sich gar bald der Hunger.

Mein Entschluß war gefaßt; ich wollte meine drei Sous ausgeben, und nachher mußte man eben weitersehen.

Im Dorfe angelangt, brauchte ich nicht lange nach der Bäckerei zu fragen, denn unsre Nasen leiteten uns sicher zu ihr; mein Geruchsinn war beinahe so ausgebildet, wie der meiner Hunde, und ich witterte den köstlichen Duft des heißen Brotes.

Wenn das Pfund Brot fünf Sous kostete, bekamen wir natürlich um drei Sous nicht sehr viel, so daß jeder nur ein kleines Stück erhielt und unser Frühstück rasch beendet war.

Nun mußte ich also Mittel und Wege suchen, im Lauf des Tages eine Einnahme zu erzielen. Zu diesem Zweck wanderte ich durch das Dorf, um mich nach dem günstigsten Platz für eine Vorstellung umzusehen und mir nebenbei auch die Leute zu betrachten, um zu erraten, ob sie uns freundlich oder feindlich gesinnt sein würden.

Ich hatte nicht die Absicht, sofort eine Vorstellung zu geben, denn es war noch nicht die richtige Zeit dafür, sondern ich wollte nur den Ort genau ansehen, den besten Platz für uns aussuchen, um dann dort um Mittag mein Heil zu versuchen.

Ganz versunken in diesen Gedanken, vernahm ich plötzlich ein Geschrei hinter mir; rasch drehte ich mich um und sah Zerbino, von einer alten Frau verfolgt, auf mich zukommen. Sofort erkannte ich, was geschehen war: Zerbino, der sich meine Zerstreutheit zunutze machte, war in ein Haus gelaufen, hatte dort ein Stück Fleisch gestohlen und im Maul davon getragen.

»Haltet den Dieb,« schrie die alte Frau, »haltet ihn, haltet sie alle!«

Als ich diese letzten Worte hörte, fing ich, in dem Bewußtsein, für das Vergehen meines Hundes verantwortlich zu sein, ebenfalls zu laufen an. Was sollte ich der alten Frau antworten, wenn sie Ersatz für das gestohlene Fleisch verlangte? Wie sollte ich sie bezahlen? Würde man uns nicht einsperren, wenn wir einmal gefaßt waren?

Als Capi und Dolce mich entfliehen sahen, blieben sie nicht zurück, sondern folgten mir auf den Fersen nach, während Herzblatt, der auf meiner Schulter saß, sich an meinen Hals anklammerte, um nicht herunterzufallen.

Es war kaum zu fürchten, daß man uns einholen würde, aber einige Personen versperrten uns den Weg und wollten uns so abfassen. Glücklicherweise mündete, ehe wir bis zu diesen Gegnern kamen, eine kleine Quergasse in die Hauptstraße, ich bog mit den Hunden in sie ein, wir rannten aus Leibeskräften weiter und waren bald auf freiem Feld. Gleichwohl machte ich erst Halt, als mir der Atem ganz versagte, das heißt, nachdem wir wenigstens zwei Kilometer zurückgelegt hatten. Nun endlich wagte ich zurückzublicken. Niemand verfolgte uns mehr, Capi und Dolce waren dicht hinter mir, während Zerbino, der wohl unterwegs sein Fleisch gegessen hatte, von weitem folgte.

Ich rief ihm, aber Zerbino, der wußte, daß er eine strenge Strafe verdient hatte, blieb erst stehen und suchte dann, statt zu mir zu kommen, das Weite.

Wohl hatte Zerbino, nur durch den Hunger getrieben, das Stück Fleisch gestohlen, aber ich konnte diesen Grund nicht als Entschuldigung gelten lassen. Es war ein Diebstahl, und der Schuldige mußte bestraft werden, denn sonst wäre es um die Disziplin meiner Truppe geschehen gewesen; im nächsten Dorf hätte Dolce das Beispiel ihres Kameraden nachgeahmt, und schließlich wäre selbst Capi der Versuchung erlegen.

Zerbino mußte also eine öffentliche Bestrafung erhalten, aber dazu war es unbedingt nötig, daß er vor nur erschien, und es war keine leichte Sache, ihn dazu zu bestimmen.

Ich wandte mich in meiner Not an Capi.

»Geh und hole mir Zerbino.«

Sofort machte er sich an die Ausführung dieses Auftrages, aber es schien mir, als ob er weniger Eifer an den Tag lege, als sonst, und in dem Blick, den er mir im Gehen zuwarf, glaubte ich zu lesen, daß er sich lieber zum Anwalt Zerbinos aufgeworfen, als meinen Häscher gespielt hätte.

Für den Augenblick hatte ich also nichts zu thun, als die Rückkehr Capis und seines Gefangenen abzuwarten, was lange währen konnte, da sich Zerbino wahrscheinlich nicht so schnell zurückführen lassen würde. Uebrigens lag für mich in der Notwendigkeit dieses Zuwartens durchaus nichts Unangenehmes, da ich kein bestimmtes Ziel vor mir hatte, von dem raschen Lauf sehr ermüdet und die Umgebung, in der ich mich befand, zu längerem Verweilen sehr verlockend war.

In meinem tollen Lauf war ich bis an das Ufer des Canal du Midi gelangt, der die Garonne mit dem Mittelmeer verbindet, und befand mich nun in einer grünen, frischen, wasserreichen Landschaft: Bäume, Gras, eine kleine murmelnde Quelle, die aus den Spalten eines mit Blumen und Pflanzen bedeckten Felsen quoll; es war reizend und ich war hier bis zur Rückkehr der Hunde prächtig aufgehoben.

Eine Stunde verfloß, ohne daß einer von beiden zurückgekehrt wäre, und ich fing schon an, mich zu beunruhigen, als Capi niedergeschlagen und allein zurückkam.

»Wo ist Zerbino?«

Capi kuschte sich ängstlich und nun sah ich, daß eines seiner Ohren mit Blut bedeckt war.

Ich brauchte keine weitere Erklärung, um zu wissen, was sich begeben hatte: Zerbino hatte Widerstand geleistet, und Capi, der vielleicht nur widerwillig einem seiner Meinung nach allzu strengen Befehl gehorchte, hatte sich besiegen lassen.

Sollte ich nun auch ihn schelten und strafen? Ich hatte wenig Lust, andre zu betrüben, war ich doch selbst bekümmert genug!

Da die Expedition Capis erfolglos verlaufen war, blieb mir nichts mehr übrig, als zu warten, bis Zerbino geruhen würde, von selbst zu kommen. Ich kannte ihn und hoffte, daß er, nachdem der erste Zorn sich gelegt, sich fügen und reuig wiederkehren würde.

Nachdem ich Herzblatt angebunden hatte, aus Angst, es könne ihn die Lust anwandeln, sich Zerbino zuzugesellen, streckte ich mich unter einem Baume aus, und Capi und Dolce lagerten sich zu meinen Füßen.

Die Zeit verging, Zerbino erschien nicht, und nach und nach übermannte mich die Müdigkeit und ich schlief ein.

Als ich wieder erwachte, stand die Sonne hoch über meinem Haupt, und Stunden waren vergangen. Allein ich bedurfte der Sonne nicht, um zu wissen, wie spät es war, mein Magen schrie laut genug, es sei lange her, daß ich mein Stück Brot gegessen hätte. Auch die Hunde und Herzblatt deuteten mir jeder in seiner Weise an, daß sie hungrig seien.

Und Zerbino erschien noch immer nicht.

Ich rief, ich pfiff ihm, aber alles war vergeblich, er ließ sich nicht sehen; nachdem er gut gefrühstückt hatte, lag er vermutlich unter irgend einem Gebüsch und gab sich behaglich seiner Verdauung hin. Meine Lage wurde immer bedenklicher: ging ich fort, so konnte er sich verirren und sich nicht mehr zu uns zurückfinden, blieb ich, so fand ich keine Gelegenheit, einige Sous zu verdienen und etwas zum Essen zu bekommen, und doch machte sich das Bedürfnis zu essen immer gebieterischer geltend. Die Augen der Hunde suchten die meinen mit verzweifeltem Ausdruck und Herzblatt rieb sich den Bauch mit zornigem Gekreisch.

Endlich schickte ich Capi noch einmal aus, aber nach Verlauf einer halben Stunde erschien er wieder allein und gab mir zu verstehen, daß er ihn nicht gefunden habe.

Was thun?

Obgleich Zerbino uns durch sein Vergehen in diese furchtbare Lage gebracht hatte, konnte ich doch nicht daran denken, ihn im Stich zu lassen. Was würde mein Herr sagen, wenn ich ihm seine drei Hunde nicht wieder zuführte? Und abgesehen davon, hatte ich auch den Schlingel Zerbino wirklich lieb.

Ich beschloß also, bis zum Abend zu warten, aber wir konnten unmöglich unthätig hier sitzen bleiben und auf das Knurren unsrer Mägen lauschen – ich mußte eine Beschäftigung und Zerstreuung für uns alle ersinnen.

Wenn es uns gelang, unsern Hunger einige Zeit zu vergessen, so litten wir während dessen jedenfalls weniger unter ihm.

Aber, was thun?

Als ich über diese Frage nachdachte, fiel mir ein, daß mir Vitalis erzählt hatte, daß man im Krieg, wenn ein Regiment von einem Marsch recht ermüdet sei, die Musik spielen lasse, und daß die Soldaten über den lustigen Klängen ihre Erschöpfung vergäßen.

Vielleicht vergaßen wir auch unsern Hunger über einer lustigen Melodie, und jedenfalls verging uns die Zeit schneller, während ich mit Spielen und die Hunde und Herzblatt mit Tanzen beschäftigt waren.

Ich nahm also meine Harfe, die an einen Baum gelehnt war, stellte meine Komödianten in Positur und fing, mit dem Rücken nach dem Kanal gewendet, an, eine Tanzmelodie und dann einen Walzer zu spielen.

Anfangs schienen meine Schauspieler keine große Lust zum Tanzen zu verspüren, und offenbar wäre ihnen ein Stück Brot lieber gewesen, aber nach und nach wurden sie lebendiger, die Musik brachte die gewünschte Wirkung hervor, wir vergaßen das Stück Brot, das wir nicht hatten, und dachten nur noch an Spiel und Tanz.

Plötzlich hörte ich eine helle Kinderstimme »bravo, bravo!« rufen. Die Stimme kam von hinten, rasch drehte ich mich um.

Auf dem Kanal lag ein Schiff, dessen Bug nach dem Ufer zugewendet war, auf dem ich mich befand, während die beiden Pferde, die es zogen, auf dem gegenüberliegenden Ufer Halt gemacht hatten.

Noch nie hatte ich ein so sonderbares Schiff gesehen; es war viel kleiner als die Pinassen, die meistens auf den Kanälen benutzt werden, und auf dem Deck, das nur wenig über den Wasserspiegel emporragte, war eine Art verglaster Galerie errichtet, vor der sich eine von Schlingpflanzen umrankte und beschattete Veranda befand. Unter dieser Veranda entdeckte ich zwei Personen: eine noch junge, vornehm aber melancholisch aussehende Dame, die neben einem ausgestreckt daliegenden Knaben in meinem Alter stand.

Ohne Zweifel hatte dieser Junge bravo gerufen.

Sobald ich mich von meiner Ueberraschung erholt hatte, nahm ich meinen Hut ab, um für den gespendeten Beifall zu danken.

»Spielst du zu deinem Vergnügen?« fragte mich die Dame, die mit ausländischer Betonung sprach.

»Um meine Schauspieler üben zu lassen und auch um mich zu zerstreuen.«

Der Knabe machte ein Zeichen, und die Dame beugte sich über ihn.

»Willst du noch etwas spielen?« fragte sie dann.

Ob ich spielen wollte! Spielen vor einem Publikum, das mir so gelegen kam! Ich ließ mich nicht lange bitten.

»Wünschen Sie einen Tanz, oder eine Komödie?« fragte ich.

»O, eine Komödie!« rief das Kind.

Allein die Dame erklärte, sie würde einen Tanz vorziehen.

»Der Tanz ist zu kurz,« rief der Junge wieder.

»Falls es das verehrte Publikum wünschen sollte, können wir nach dem Tanz verschiedene Kunststücke zeigen, wie man sie in einem Pariser Zirkus nicht schöner sehen kann.«

Es war dies eine Redewendung meines Herrn, und ich bemühte mich, sie mit ebensoviel Würde vorzubringen, als er. Bei näherer Ueberlegung war ich übrigens sehr froh, daß man das Schauspiel abgelehnt hatte, da ich in Verlegenheit gewesen wäre, eine Vorstellung zu geben, ohne Zerbino und ohne die Kostüme und sonstiges Zubehör.

Ich nahm also meine Harfe und fing an zu spielen; sofort schlang Capi seine beiden Vorderpfoten um Dolces Leib und nun fingen sie an, sich im Takt zu drehen. Darauf tanzte Herzblatt ein Solo, und dann gaben wir unser ganzes Repertoire Stück um Stück, ohne zu ermüden: meine Schauspieler wußten offenbar, daß der Lohn ihrer Mühen in einer Mahlzeit bestehen würde, und schonten sich so wenig, als ich mich.

Plötzlich, inmitten eines unsrer Kunststücke sah ich Zerbino aus einem Gebüsch hervortreten; und als seine Kameraden an ihm vorüber kamen, nahm er keck seinen Platz in ihrer Mitte ein und spielte seine Rolle, wie wenn nichts geschehen wäre.

Während ich spielte und meine Schauspieler beaufsichtigte, warf ich von Zeit zu Zeit einen Blick auf den Jungen, der sich merkwürdigerweise gar nicht rührte, obgleich ihn unsre Vorstellung sehr zu erfreuen schien. Er blieb langausgestreckt in völliger Unbeweglichkeit liegen, nur klatschte er uns mit den Händen Beifall.

War er gelähmt? Es schien mir, als sei er auf einem Brett festgebunden.

Leise hatte der Wind das Schiff an die Uferböschung getrieben, auf der ich mich befand, und nun konnte ich den Knaben so gut sehen, als wäre ich mit ihm auf dem Schiff gewesen; er hatte blondes Haar, und sein Gesicht war bleich, so bleich, daß man auf der Stirne die blauen Adern durch die durchsichtige Haut schimmern sah; sein Gesichtsausdruck war sanft und traurig und hatte etwas Kränkliches an sich.

»Was kostet ein Platz in eurem Theater?« fragte mich die Dame.

»Jeder zahlt im Verhältnis zu dem Vergnügen, das er gehabt hat.«

»Dann mußt du sehr viel bezahlen, Mama,« sagte der Knabe. Darauf fügte er noch einige Worte in einer mir fremden Sprache hinzu.

»Arthur möchte deine Schauspieler auch in der Nähe sehen,« sagte die Dame.

Ich machte Capi ein Zeichen, worauf er einen Anlauf nahm und auf das Schiff sprang.

»Und die andern?« rief Arthur.

Zerbino und Dolce folgten ihrem Kameraden.

»Und der Affe!«

Herzblatt hätte den Sprung leicht machen können, aber ich konnte mich nie auf ihn verlassen, war er erst einmal an Bord, so hätte er leicht Späße machen können, die der Dame nicht ganz zugesagt hätten.

»Ist er bösartig?« fragte sie.

»Nein, gnädige Frau, aber er ist nicht immer gehorsam, und ich fürchte, er könnte sich nicht anständig betragen!«

»Nun, so komm mit ihm aufs Schiff!«

Damit winkte sie einem Mann, der am Steuerruder stand, und der schob sofort eine Planke ans Ufer.

Es war eine Brücke, auf der ich, ohne den gefährlichen Sprung zu wagen, an Bord gelangen konnte, und ernsthaft, meine Harfe in der Hand und Herzblatt auf der Schulter, betrat ich das Schiff.

»Den Affen! Den Affen!« rief Arthur.

Ich trat an den Jungen heran, und während er Herzblatt liebkoste, konnte ich ihn mit Muße betrachten.

Es war erstaunlich, er war wirklich auf einem Brett festgebunden, wie es mir gleich anfangs geschienen hatte.

»Du hast doch einen Herrn, Kind, nicht wahr?« fragte die Dame.

»Ja, aber im Augenblick bin ich allein.«

»Auf wie lange?«

»Auf zwei Monate.«

»Zwei Monate! Mein armer Kleiner! So lange allein in deinem Alter.«

»Ich muß eben, gnädige Frau!«

»Dein Herr verlangt wohl, daß du ihm nach diesen zwei Monaten eine gewisse Summe ablieferst?«

»Nein, gnädige Frau, er verlangt nichts, und wenn ich nur mit meiner Truppe meinen Unterhalt finde, so genügt dies völlig.«

»Und hast du den bis jetzt gefunden?«

Ich zögerte mit der Antwort, denn noch nie hatte mir eine Frau einen solchen Respekt eingeflößt, wie diese, aber sie fragte mit so viel Güte, ihre Stimme klang so sanft, ihr Blick ruhte so liebevoll, so aufmunternd auf mir, daß ich mich entschloß, ihr die Wahrheit zu sagen. Warum sie übrigens auch verschweigen?

So erzählte ich ihr denn, wie Vitalis ins Gefängnis gekommen war, weil er mich verteidigt hatte, und wie ich, seit ich Toulouse verlassen, keinen Sous hatte verdienen können.

Während ich sprach, spielte Arthur mit den Hunden, hörte aber doch alles, was ich erzählte.

»Wie hungrig müßt ihr alle sein!« rief er aus.

Bei dem ihnen wohlbekannten Wort fingen die Hunde zu bellen an und Herzblatt rieb sich den Bauch wie toll.

»O, Mama!« sagte Arthur.

Die Dame verstand ihn und sagte in der fremden Sprache ein paar Worte zu einer Frau, die durch eine halboffene Thüre heraussah und dann schnell einen kleinen gedeckten Tisch brachte.

»Setze dich, mein Kind,« sagte die Dame zu mir.

Natürlich ließ ich mich nicht lange nötigen, sondern legte meine Harfe weg und setzte mich rasch an das Tischchen; alsbald stellten sich die Hunde in Reih und Glied um mich herum, während Herzblatt es sich auf meinem Knie bequem machte.

»Fressen deine Hunde Brot?« fragte Arthur.

Ob sie Brot fraßen! Ich reichte jedem ein Stück, das sofort verschlungen war.

»Und der Affe?« fragte Arthur weiter.

Allein für Herzblatt brauchte man nicht zu sorgen, der hatte sich selbst zu einem Stück Pastetenrand verholfen, an dem er unter dem Tisch beinahe erstickte.

Auch ich nahm ein Stück Pastete, das ich so gierig vertilgte, als Herzblatt das seine.

»Armes Kind!« sagte die Dame und füllte mein Glas.

Arthur sagte nichts, aber er sah uns mit weitaufgerissenen Augen zu und war offenbar sehr erstaunt über unsern Appetit, denn wir waren einer so heißhungrig als der andre, Zerbino nicht ausgenommen, der doch von dem gestohlenen Fleisch hätte satt sein können.

»Und wo hättet ihr heute abend gegessen, wenn wir nicht zusammengetroffen wären?« fragte Arthur.

»Wahrscheinlich gar nicht.«

»Und wo werdet ihr morgen essen?«

»Vielleicht haben wir morgen wieder das Glück einer solchen Begegnung, wie heute.«

Nun wendete sich Arthur an seine Mutter, und es entspann sich eine lange Unterhaltung zwischen beiden – wieder in der fremden Sprache, in der sie schon mehreremal geredet hatten. Er schien etwas von ihr zu verlangen, das sie nicht zu bewilligen geneigt war, oder gegen das sie wenigstens Einwendungen erhob.

Plötzlich drehte er wieder den Kopf nach mir um, denn sein Körper rührte sich nicht.

»Willst du bei uns bleiben?« fragte er.

Sprachlos starrte ich ihn an, denn diese Frage kam mir ganz unerwartet.

»Mein Sohn fragt dich, ob du bei uns bleiben willst.«

»Auf diesem Schiff?«

»Ja, auf diesem Schiff. Mein Sohn ist krank, und die Aerzte haben verordnet, daß er auf einem Brett angeschnallt wird, wie du es siehst. Damit er sich nicht langweilt, führe ich ihn auf diesem Schiff spazieren. Du bleibst bei uns und deine Hunde und dein Affe geben für Arthur, der ihr Publikum sein wird, schöne Vorstellungen, und du, mein Kind, spielst uns auf der Harfe, wenn du magst. So leistest du uns einen Dienst, und vielleicht sind wir auch dir zu etwas nütze, denn du brauchst dir nicht jeden Tag deine Zuschauer zu suchen, was für ein Kind in deinem Alter nicht sehr leicht ist.«

Auf dem Schiff! Ich war noch nie auf einem Schiff gewesen und hatte mir es doch so glühend gewünscht! Ich sollte auf dem Schiff, auf dem Wasser leben, welch ein Glück!

Das war mein erster Gedanke gewesen, aber einige Sekunden der Ueberlegung genügten, mir klar zu machen, welch ein Segen für mich in diesem Vorschlag lag, und wie edel die Frau war, die ihn mir machte.

Schweigend ergriff ich ihre Hand und küßte sie.

Sie schien diesen Ausdruck einer liebevollen Dankbarkeit zu verstehen, denn sie fuhr mir mehreremal beinahe zärtlich über die Stirn.

»Armer Kleiner,« sagte sie.

Als man mich bat, die Harfe zu spielen, beeilte ich mich, diesem Wunsche nachzukommen, denn mein Eifer war ja das beste Mittel, meinen guten Willen und meine Dankbarkeit zu beweisen.

Ich ergriff mein Instrument, stellte mich ganz vorne an den Bug des Schiffes und begann zu spielen.

Zu gleicher Zeit setzte die Dame eine kleine silberne Pfeife an den Mund und ließ einen gellenden Pfiff ertönen.

Sofort hörte ich auf zu spielen und überlegte mir, warum sie wohl gepfiffen haben mochte. Weil ich schlecht gespielt hatte, oder weil sie wünschte, ich sollte aufhören?

Arthur, der alles beobachtete, was um ihn vorging, erriet meine Zweifel.

»Mama hat gepfiffen, damit sich die Pferde wieder in Bewegung setzen,« erklärte er.

Wirklich fing auch das Schiff, das sich vom Ufer abgewendet hatte, von den Pferden gezogen, an, auf dem ruhigen Gewässer des Kanales dahinzugleiten; das Wasser rauschte um den Kiel und an beiden Ufern flogen die von den schrägen Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten Bäume an uns vorüber.

»Willst du jetzt spielen?« fragte Arthur.

Mit einer leichten Kopfbewegung rief er seine Mutter an seine Seite, ergriff ihre Hand und hielt sie in der seinen, während ich alle Stücke spielte, die mein Herr mich gelehrt hatte.


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