Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Eine schwarze Stadt

Es ist ein weiter Weg von Montargis nach Varses, das mitten in den Cevennen liegt, da wo das Gebirge nach dem Mittelmeer hin abfällt. In gerader Linie mag die Entfernung etwa fünf- bis sechshundert Kilometer betragen, für uns wurden es aber deren mehr als tausend, weil wir genötigt waren, um einträgliche Vorstellungen zu geben, Umwege über Städte und größere Dörfer zu machen.

Zu diesen tausend Kilometern brauchten wir wieder ein Vierteljahr, hatten dafür aber auch die Freude, unterwegs Ersparnisse im Betrag von hundertundachtundzwanzig Franken machen zu können. Es fehlten mir also nur noch zweiundzwanzig Franken, und die ließen sich auf dem Weg von Varses nach Chavanon leicht zusammenbringen.

Mattia freute sich beinahe so sehr darüber, als ich, und war nicht wenig stolz darauf, daß er redlich mitgeholfen hatte, eine solche Summe zu verdienen. Ohne ihn und hauptsächlich ohne sein Klapphorn hätten Capi und ich niemals hundertundachtundzwanzig Franken zusammenbringen können.

Varses war noch vor etwa hundert Jahren ein armes, kleines Gebirgsdorf und nur aus den Kriegen der »Kamisarden« (der aufständischen Protestanten in den Cevennen) bekannt, die unter dem 1740 gestorbenen Anführer Jean Cavalier dort häufig Zuflucht suchten. Im Jahr 1750 stieß ein alter Edelmann, der eine Leidenschaft für Schurfversuche hatte, auf Steinkohlenlager – daß Erzadern vorhanden waren, wußte man – und seither ist Varses eines der ergiebigsten Kohlengebiete und sucht im Verein mit Alais, Saint Gervais und Bessèges den mittelländischen Markt der englischen Steinkohle streitig zu machen. Heute ist Varses eine Stadt von zwölftausend Einwohnern und hat eine bedeutende industrielle Zukunft vor sich.

Der Reichtum von Varses steckt aber in dem, was es unter der Erde birgt, und tritt darum nicht zu Tage. Auf der Oberfläche gewährt es einen traurigen, trostlosen Anblick; alles ist ödes, unfruchtbares Heideland, nur ab und zu finden sich ein paar Kastanien-, Maulbeer- oder Olivenbäume; der Boden ist mit grauen und weißen Steinen übersät, und nur an vereinzelten Stellen, wo die Erde etwas tiefer geht, so daß sie Feuchtigkeit in sich aufnehmen kann, sprießt eine frische Vegetation empor, die wohlthuend von dem trostlosen kahlen Gebirge absticht.

Die Folgen dieser gänzlichen Kahlheit des Gebirges sind furchtbare Überschwemmungen, denn wenn es regnet, stürzt das Wasser über die nackten steinigen Abhänge hernieder wie über eine gepflasterte Straße, und die für gewöhnlich ausgetrockneten Rinnsale wälzen ungeheure Ströme hernieder, die sofort die Flüsse in den Thälern anschwellen und weit über ihre Ufer treiben, so daß man in wenig Augenblicken das Wasser um drei, vier, fünf und mehr Meter steigen sehen kann.

An den beiden Ufern eines dieser Flüsse, der Divonne, der in der inneren Stadt zwei kleine Bergbäche zufließen, ist Varses erbaut. Es ist weder eine schöne, noch eine regelmäßige und auch keineswegs eine reinliche Stadt, denn die mit Erz und Kohlen beladenen Waggons, die sich von morgens bis abends auf Schienen durch die Straßen bewegen, streuen fortwährend roten und schwarzen Staub aus, und dieser verwandelt sich an Regentagen in einen dickflüssigen Morast, während er sich dagegen bei Sonnenschein und Wind in Gestalt blendender Staubwirbel über den Dächern dahinwälzt.

Die Häuser sind schwarz von oben bis unten, schwarz von dem Staub und dem Schmutz, der von der Straße bis zu ihren Dächern hinaufsteigt, schwarz von dem Qualm der Herde und Oefen, der von ihren Dächern bis auf die Straße hinabsteigt, alles ist schwarz: die Sonne, der Himmel, ja selbst die Wasser der Divonne; schwarz sind die Pferde, die Wagen und die Blätter der Bäume, aber schwärzer als alles, was sie umgibt, sind die Menschen, die man auf den Straßen sieht; es ist, als habe sich eines schönen Tages eine dicke Wolke von Ruß auf die Stadt hinabgesenkt, oder als habe eine Ueberschwemmung von Pech sie bis über die Firste ihrer Dächer hinaus überflutet. Die Straßen sind weder für Menschen, noch für Wagen, sondern nur für Eisenbahnen und Bergwerkskarren angelegt worden: auf der Erde allüberall Schienen und Drehscheiben, über den Köpfen fliegende Brücken, Treibriemen und Transmissionen, die sich mit betäubendem Lärm bewegen: die großen Gebäude, an denen man vorüberkommt, erzittern in ihren Grundfesten, und wenn man zu Thüren oder Fenstern hineinblickt, sieht man Unmengen flüssigen Eisens; Abrichthämmer sprühen einen Funkenregen um sich her und überall und immer heben und senken sich die Kolben der Dampfmaschinen im Takt. Von Denkmälern, Gärten oder Statuen auf den öffentlichen Plätzen keine Spur; alle Gebäude sehen einander gleich und zeigen die Form eines großen Würfels; Kirchen, Gerichtsgebäude und Schulen – sind sämtlich je nach Bedürfnis mit mehr oder weniger Fenstern durchbrochene Quadrate.

Als wir in die Umgebung von Varses gelangten, war es zwei oder drei Uhr, und die Sonne stand strahlend an einem reinen, wolkenlosen Himmel, aber je näher wir der Stadt kamen, desto mehr verdunkelte sich der Tag, eine dichte Rauchwolke wälzte sich langsam und schwerfällig zwischen Himmel und Erde dahin. Schon länger als eine Stunde hatten wir ein gewaltiges Getöse, wie Meeresbrausen mit dumpfen, schweren Schlägen vernommen – das Brausen wurde durch die Ventilatoren, die dumpfen Schläge durch die Dampfhämmer und Trockenbohrer hervorgebracht.

Ich wußte, daß der Onkel von Alexis Bergmann war und in der Zeche La Truyère arbeitete, aber nicht, ob er in Varses selbst oder irgendwo in der Umgegend wohnte. Deshalb fragte ich in Varses nach dieser Zeche und wurde auf das linke Ufer der Divonne in ein kleines Thal gewiesen, durch das der Gebirgsbach fließt, dessen Name die Zeche führt.

Ist schon der Anblick der Stadt recht wenig verlockend, so macht das Thal vollends einen ganz grausigen Eindruck, ein Kranz kahler, baum- und grasloser Hügel, mit langen Streifen grauer Steine bedeckt, die nur hie und da von einem Strich roter Erde durchschnitten werden, umschließen das Kesselthälchen; am Eingang stehen die zur Ausbeutung der Grube nötigen Gebäude, wie Schuppen, Ställe, Magazine, Kanzleien, und daneben ragen die Schlote der Dampfmaschinen in die Höhe und rings umher liegen große Haufen von Kohlen und Steinen.

Bald hatten wir die Wohnung des Onkel Gaspard erkundet, die in einer gekrümmten, steil nach dem Flusse hin abfallenden Straße gelegen war.

Als ich nach ihm fragte, erwiderte mir eine Frau, die, an die Hausthür gelehnt, mit einer Nachbarin schwatzte, er komme erst um sechs Uhr heim, wenn Schicht gemacht werde.

»Was willst du denn von ihm?« fragte sie mich.

»Ich will Alexis besuchen.«

Nun betrachtete sie mich von Kopf zu Fuß und schaute Capi an.

»Du bist wohl Neun?« sagte sie dann. »Alexis hat uns von dir erzählt und erwartet dich. Wer ist denn der da?«

Damit deutete sie auf Mattia.

»Das ist mein Kamerad.«

Offenbar war dies Alexis' Tante, und ich erwartete sicher, sie werde uns auffordern, einzutreten und uns auszuruhen, denn unsre staubbedeckten Füße und sonngebräunten Gesichter sprachen sicherlich beredt genug von den großen Anstrengungen, die wir überstanden hatten, aber das fiel ihr gar nicht ein. Sie wiederholte nur noch einmal, wenn ich um sechs Uhr wieder vorsprechen wolle, so werde ich auch Alexis, der in der Zeche arbeite, zu Hause treffen.

Ich hatte nicht den Mut, um das zu bitten, was man uns nicht freiwillig bot, deshalb dankte ich für die Auskunft und ging dann mit Mattia in die Stadt auf die Suche nach einem Bäckerladen, denn wir hatten seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen und auch da nur ein Stück Brot vom Tag zuvor. Ueber den mir zu teil gewordenen Empfang war ich tief beschämt, denn ich fühlte, daß Mattia sich fragen werde, was er zu bedeuten habe, und ob wir darum so viele Meilen Weges zurückgelegt hätten, außerdem fürchtete ich auch, Mattia werde sich eine falsche Vorstellung von meinen Freunden machen und mir nicht mehr so teilnehmend zuhören, wenn ich ihm von Lieschen erzählte, und doch wünschte ich so sehnlich, daß er schon im voraus Teilnahme und Freundschaft für sie empfinde.

Da mir die uns gewordene Aufnahme wenig Lust machte, ins Haus zurückzukehren, begaben wir uns kurz vor sechs Uhr an den Ausgang der Grube, um Alexis zu erwarten.

Die Zeche La Truyère wird mittels dreier Schachte ausgebeutet, die Sankt Julian-, Sankt Alphonsinen- und Sankt Pankratiusschacht heißen, denn es ist in den Kohlenbergwerken gebräuchlich, die Förder-, Wetter- und Pumpschachte nach einem Heiligen zu benennen. Auch wird dazu stets der Heilige gewählt, der an dem Tag, wo mit der Abteufung begonnen wird, im Kalender steht, so gibt er nicht nur dem betreffenden Schacht seinen Namen, sondern dient auch als Anhaltspunkt für die Zeitrechnung. Die Aus- und Einfahrt der Bergleute wird indessen nicht durch diese Schächte bewerkstelligt, sondern durch einen unterirdischen Gang, der neben dem Lampenraum ausmündet und bis auf die erste Strecke führt, von wo aus er mit allen Teilen der Zeche in Verbindung steht. Durch die Herstellung dieses Ganges wollte man den Unglücksfällen Vorbeugen, die sich beim Aus- und Einfahren durch die Schächte nur allzu oft ereignen, und gleichzeitig die Grubenarbeiter gegen die oft verhängnisvollen Folgen des unvermittelten Ueberganges von der gleichmäßig warmen Luft, zweihundert Meter unter der Erde, in die ungleiche Temperatur darüber schützen, was gar nicht möglich ist, wenn die Leute mittels der Maschine gefördert werden.

Da man mir gesagt hatte, daß die Grubenarbeiter durch diesen Gang herauskommen würden, stellte ich mich mit Mattia vor seiner Mündung auf und sah wenige Minuten nach sechs Uhr in der dunklen Tiefe des Stollens einige kleine, helle Punkte schwanken, die rasch größer wurden. Es waren Bergleute, die, ihre Lampe in der Hand, ans Tageslicht heraufgestiegen kamen.

Langsam und schwerfällig bewegten sie sich vorwärts, als schmerzten sie die Kniee, was ich mir später, als ich selbst all die Leitern und Stufen auf die letzte Strecke hinuntergestiegen war, wohl zu erklären vermochte. Ihre Gesichter waren so schwarz, wie das eines Kaminfegers, ihre Kleider und Hüte mit Kohlenstaub und großen, feuchten Schmutzflecken bedeckt. Ein jeder trat im Vorbeigehen in den Lampenraum ein und hängte sein Grubenlicht an einen Nagel.

Obgleich ich aufmerksam einen jeden betrachtete, sah ich doch Alexis nicht herauskommen, und hätte ihn ruhig vorbeigehen lassen, wenn er mir nicht an den Hals gesprungen wäre, denn, der von Kopf bis zu Fuß mit schwarzem Staub bedeckte Bursche glich in nichts mehr dem reinlichen Gärtnerjungen von ehedem.

»Das ist Remi,« sagte er zu einem etwa vierzigjährigen Mann, der neben ihm ging und das nämliche, gute, offene Gesicht, wie Vater Acquin hatte – ich konnte mir denken, daß es Onkel Gaspard war.

»Wir haben dich schon lange erwartet,« sagte er freundlich zu mir.

»Der Weg von Paris nach Varses ist weit.«

»Und deine Beine sind kurz,« sagte er und lachte dazu.

Capi war glücklich, Alexis wieder zu sehen, und brachte seine Freude dadurch zum Ausdruck, daß er aus Leibeskräften mit den Zähnen an seinem Jackenärmel zerrte.

Unterdessen erklärte ich dem Onkel Gaspard, daß Mattia, mein Reisegefährte und Geschäftsteilhaber, ein guter Junge sei, den ich schon früher gekannt und jetzt wieder getroffen habe, und daß er das Klapphorn spiele, wie nicht bald jemand.

»Da ist ja auch Meister Capi,« sagte der Onkel Gaspard; »morgen ist's Sonntag, und wenn ihr euch gehörig ausgeruht habt, so müßt ihr uns eine Vorstellung geben; Alexis sagt, Capi sei viel gelehrter als mancher Schulmeister oder Schauspieler.«

So verlegen ich mich der Tante Gaspard gegenüber gefühlt hatte, so behaglich war mir bei dem Onkel zu Mute, der offenbar der würdige Bruder »des Vaters« war.

»Nun schüttet einander das Herz aus, Buben, ihr werdet euch viel zu erzählen haben; ich will mich unterdessen mit dem jungen Herrn da unterhalten, der so gut Klapphorn spielen kann.«

Für eine ganze Woche hätte unser Gesprächstoff ausgereicht! Alexis wollte genauen Bericht über meine Reise, und ich war begierig, zu erfahren, wie er sich an sein neues Leben gewöhne, und so fragten wir uns gegenseitig so viel, daß wir das Antworten darüber völlig vergaßen.

Wir gingen sehr langsam, und die Bergleute, die in langen, die ganze Straßenbreite einnehmenden Reihen, nach Hause zogen und so schwarz aussahen, als der Kohlenstaub, der den Boden bedeckte, überholten uns alle.

In der Nähe seiner Wohnung angelangt, sagte Onkel Gaspard: »Jungens, ihr eßt natürlich bei uns zu Nacht!«

Nie hat mir eine Einladung größere Freude gemacht, denn unterwegs hatte ich immer gefürchtet, ich werde mich an der Hausthür schon wieder von Alexis trennen müssen, da der Empfang der Tante keine großen Hoffnungen in mir erweckt hatte.

»Hier ist Remi mit seinem Freund,« sagte der Onkel, als er eintrat.

»Ich habe sie schon vorhin gesehen.«

»Um so besser, dann kennt ihr euch also schon! Sie essen mit uns zu Nacht.«

Gewiß freute ich mich sehr, den Abend mit Alexis verbringen zu dürfen, aber, wenn ich ehrlich sein soll, so freute ich mich auch nicht wenig auf das Nachtessen, denn seit Beginn unsrer Wanderschaft hatten wir bald hier bald dort etwas verzehrt, aber selten bei einer richtigen Mahlzeit auf einem Stuhl gesessen und einen Teller Suppe vor uns gehabt. Unsre Einnahmen hätten uns das allerdings schon gestattet, aber wir mußten ja für »die Kuh des Prinzen« sparen, und Mattia war ein so guter Kerl, daß er sich über den Gedanken, die Kuh kaufen zu können, fast ebenso freute, als ich.

Für heute abend war uns indes die Freude eines solchen Festmahles ebenfalls nicht beschieden: ich saß wohl auf einem Stuhl an einem Tisch, aber man stellte keinen Teller mit Suppe vor mich hin. Die meisten Gewerkschaften haben Warenlager errichtet, wo ihre Arbeiter alles, was sie brauchen, zum Einkaufspreis erhalten. Die Vorteile dieser Einrichtung sind in die Augen springend: der Arbeiter bekommt gute Waren zu billigen Preisen, die ihm alle vierzehn Tage von seiner Löhnung abgezogen werden, wodurch er vor dem Borgen bei Krämern und kleinen Kaufleuten, das ihn zu Grunde richten würde, geschützt ist. Nur hat, wie alles Gute, auch diese Einrichtung ihre Schattenseite; in Varses pflegen nämlich die Frauen der Bergleute nichts zu arbeiten, während ihre Männer unter Tag schaffen: sie besorgen ihr kleines Hauswesen, dann aber laufen sie zusammen, trinken Kaffee oder Schokolade, die man aus dem Warenhaus entnommen hat, sie klatschen und schwatzen und vertändeln die Zeit, und wenn der Mann des Abends Schicht macht und zum Nachtessen heimkommt, haben sie keine Zeit gehabt, ihm diese Mahlzeit zurechtzumachen, und laufen dann eilends nach der Warenniederlage und holen kalten Aufschnitt. Wohlverstanden, dies ist nicht immer der Fall, aber sehr häufig. Dieser Umstand trug auch die Schuld daran, daß wir keine Suppe bekamen: die Tante Gaspard hatte geschwatzt, was bei ihr übrigens zur Gewohnheit geworden war. Der Onkel war ein nachsichtiger, friedliebender Mann, der, ohne zu murren, seine Wurst aß, und wenn er überhaupt einmal eine Bemerkung machte, dies in der allergelindesten Weise that: »Daß ich kein Säufer werde,« sagte er, und hielt ihr sein Glas hin, »verdankst du nur meiner großen Willenskraft; sieh zu, daß wir wenigstens morgen eine Suppe kriegen.«

»Wo soll ich denn die Zeit hernehmen?«

»Hat denn der Tag ›über Tage‹ weniger Stunden als drunten?«

»Wer soll euch denn dann herausflicken? Ihr richtet ja alles zu Grund.«

Er betrachtete seine kohlenbeschmutzten, hie und da zerrissenen Kleider und meinte: »Wir sind aber auch wahrhaft fürstlich angethan.«

Unsre Mahlzeit währte nicht lange, und als sie zu Ende war, sagte der Onkel zu mir: »Du kannst bei Alexis schlafen, und wenn Mattia in der Waschküche übernachten will, so machen wir ihm aus Stroh und Heu ein gutes Lager zurecht.«

Den Abend und einen guten Teil der Nacht verwendeten Alexis und ich zu etwas Besserem als zum Schlafen.

Onkel Gaspard war Häuer, das heißt, er löste mit einer Keilhaue in der Grube Kohlen ab, Alexis war sein Förderer oder Wagenstößer, das heißt, er rollte die Kohlen auf einem Wagen, der Hund genannt wird und auf Schienen läuft, von dem sogenannten »Ort« bis zu einem Schacht. Als »Ort« bezeichnen die Bergleute den Punkt, wo abgekohlt wird. An dem Schachte angelangt, wird der »Hund« an ein Tau gehängt und von der Maschine nach oben gefördert.

Obgleich Alexis erst so kurze Zeit Grubenarbeiter war, liebte er seine Grube doch schon sehr und war gewaltig stolz auf sie: seiner Ansicht nach war sie die schönste und merkwürdigste im ganzen Land. Dies alles erzählte er mir mit der ganzen Wichtigthuerei eines Reisenden, der aus einem unbekannten Land zurückkommt und für seine Erzählungen aufmerksame Zuhörer findet.

Zuerst ging man etwa zehn Minuten lang durch einen in den Felsen gegrabenen Gang; dann kam man an eine schmale, steile Treppe, an deren Fuß sich eine Holzleiter – Fahrt genannt – befand; dann kam noch einmal eine Treppe und dann wieder eine »Fahrt«, und nun befand man sich auf der ersten Sohle, fünfzig Meter unter der Erde. Abwechselungsweise auf Stufen und »Fahrten« gelangt man auf die zweite Sohle, die neunzig, und auf die dritte, die zweihundert Meter unter Tage lag. Auf einer Strecke der dritten Sohle arbeitete Alexis, und nur um vor »Ort« zu kommen, mußte er dreimal soweit gehen, als wenn er den Turm von Notre Dame erstiegen hätte.

Ist aber das Hinauf- und Hinuntersteigen auf einen solchen Turm leicht und bequem, weil die Treppe hell und regelmäßig gebaut ist, so liegt die Sache ganz anders in einem Bergwerk, wo die Stufen je nach der Beschaffenheit des Gesteins bald hoch, bald niedrig, bald breit, bald schmal sind. Dabei hat man keine andre Beleuchtung als die Grubenlampe, die man in der Hand hält, und der ganze Weg ist mit glitschigem Staub, Lösche genannt, bedeckt, der durch das ständig tropfenweise durchsickernde Wasser immer feucht erhalten wird.

Zweihundert Meter hinuntersteigen, ist keine Kleinigkeit, aber damit war's noch nicht gethan, denn man mußte auch noch durch verschiedene Stollen an die Treppenköpfe und »vor Ort« gelangen, was manchmal sehr ermüdend war, weil man teilweise ganz im Wasser gehen mußte, das durch das poröse Gestein sickert, sich in der Mitte des Weges zu einem Rinnsal sammelt und so bis in den Schachtsumpf oder in die Sumpfstrecke hinabfließt, von wo es durch Pumpwerke nach oben geschafft wird.

Führen die Stollen durch feste Felsbildungen, so sind es einfache Gänge, führen sie aber durch zerklüftetes Gestein, so müssen die Arbeitsräume durch Zimmerung der Decke oder Firste, und der beiden Seiten – der Stöße oder Ulmen – geschützt werden, wozu man nur mit der Axt behauene Tannenstämme verwendet, weil die durch die Säge entstehenden Kerben rasche Fäulnis herbeiführen. Auf diesen Holzstämmen wachsen Pilze und leichte, wollichte Flocken, deren schneeige Weiße sich scharf von dem schwarzen Grund abhebt: auf den Pilzen, aus den unbekannten Pflanzen, auf dem weißen Moos sieht man Mücken, Kreuzspinnen und Schmetterlinge, die aber nicht die mindeste Aehnlichkeit haben mit den in der Luft lebenden Lebewesen ähnlicher Gattung. Auch Ratten gibt es, die überall herumlaufen, und Fledermäuse, die sich, den Kopf nach unten, mit den Füßen an der Verzimmerung festklammern.

Die Stollen durchqueren sich hier und dort und wie in Paris, gibt es Kreuzungen und freie Plätze, Stollen, so schön und so breit als die Boulevards, und wieder andre so eng und schmal, als die Gassen im Quartier Saint Marcel. Nur ist diese unterirdische Stadt viel weniger gut beleuchtet als Paris in der Nacht, denn hier gibt es keine Gaslaternen, sondern nur die Grubenlampen, die die Bergleute tragen, und nur das von allen Seiten ertönende Getöse sorgt dafür, daß man nicht wähnt, in einer Totenstadt zu sein.

Am allermerkwürdigsten aber fand Alexis die Stellen, wo das Kohlenflöz eine sogenannte Verwerfung durch die einschließenden Schichten erlitten hat und der Häuer halb nackt auf der Seite oder auf den Knieen liegend arbeiten muß und von wo man die Kohle zur Förderung auf die eigentliche Strecke hinunterfallen läßt.

So sah es an den Arbeitstagen in der Grube aus, aber es kamen auch Unglücksfälle vor, und schon vierzehn Tage nach seiner Ankunft in Varses wäre Alexis einem solchen beinahe zum Opfer gefallen – es war dies ein »schlagendes Wetter« gewesen. Das »schlagende Wetter« entsteht durch das Gas, das sich aus den Steinkohlen von selbst entwickelt und bei der Annäherung einer Flamme explodiert; die entsetzliche, verheerende Wirkung einer solchen Explosion, die alles in der Grube zerstört, ist nur den Wirkungen eines gewaltigen Sprenggeschosses vergleichbar; manchmal erhitzt sich die Luft dabei dermaßen, daß die Steinkohlen in Coaks verwandelt werden. Zur Sicherung dagegen dient Ventilation, die nach Art der Feueressen oder vermittels Maschinen hergestellt wird und die Davysche Sicherheitslampe; außerdem ist den Grubenarbeitern das Rauchen aufs strengste verboten.

Alles, was mir Alexis erzählte, erregte meine Neugierde aufs äußerste, denn, schon ehe ich nach Varses gekommen war, hatte ich die größte Lust gehabt, in das Kohlenbergwerk einzufahren. Als ich meinen Wunsch aber am andern Morgen Onkel Gaspard mitteilte, erwiderte mir dieser, dies sei unmöglich, denn es werde nur den Grubenarbeitern gestattet, einzufahren.

»Wenn du Bergmann werden willst,« setzte er mit Lachen hinzu, »so läßt sich die Sache leicht machen. Schließlich ist der Beruf nicht schlechter, als ein andrer auch, und jedenfalls ist es für dich besser, du bleibst bei Alexis hier, als du ziehst als Bänkelsänger in der Welt herum. Einverstanden, Junge? Mattia könnten wir schon auch irgendwie unterbringen, wenn auch gerade nicht als ›Klapphornbläser‹.«

Da ich indessen nicht nach Varses gekommen war, um dort zu bleiben, und mir eine andre Aufgabe gestellt hatte, als auf der zweiten oder dritten Sohle von La Trupère den lieben langen Tag den »Hund« zu schieben, glaubte ich schon auf die Befriedigung meiner Neugierde verzichten zu müssen, allein der Zufall hatte es anders beschlossen, und es war mir beschieden, alle die Aengsten und Gefahren kennen zu lernen, denen die Grubenarbeiter ausgesetzt sind.


 << zurück weiter >>