Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel.
Die Familie wird auseinandergesprengt

Es gab Tage, wo ich mir, wenn ich allein war, sagte, daß ich zu glücklich sei, daß es so nicht fortgehen könne und daß sicher ein Unglück über mich hereinbrechen werde, allein ich war weit davon entfernt, zu ahnen, von welcher Seite und in welcher Gestalt es kommen werde, aber die Vorahnung davon stimmte mich manchmal ganz traurig, und dann gab ich mir doppelt Mühe, meine Pflicht zu erfüllen, als ob ich die drohende Gefahr dadurch hätte beseitigen können.

Wie ich schon erwähnt habe, befaßte sich Vater Acquin hauptsächlich mit der Zucht von Levkojen, auf welchem Gebiet die Pariser Gärtner ganz besonders große Erfolge erzielt haben.

War nun die Zeit der Levkojen vorüber, so rüsteten wir uns, wie alle Gärtner, die für den Markt arbeiten, auf die hohen Feiertage: auf Sankt Peter, Mariä Himmelfahrt etc., an diesen Tagen wird ganz Paris von Blumen überflutet, und es handelt sich hauptsächlich darum, alle diese Blumen an dem bestimmten Tag und nicht früher oder später zur Blüte zu bringen. Natürlich setzt dies eine gewisse Geschicklichkeit voraus, denn kein Gärtner ist Herr über Sonne und Regen, über gutes oder schlechtes Wetter. In dieser Kunst war nun Vater Acquin Meister, und von all den Tausenden von Astern, Fuchsien und roten Plumerien, die er zog, kam keine auch nur einen Tag zu früh oder zu spät. Aber welche Sorgfalt, welche Arbeit wurde auch darauf verwendet!

In dem Sommer, von dem ich jetzt erzähle, ließ sich alles vortrefflich an, und am 5. August waren unsre Blumen dran, ihre Knospen zu sprengen; in den Gewächshäusern und unter den Mistbeetfenstern, deren Glasscheiben sorgfältig mit Kalkwasser geweißt waren, um das Licht zu dämpfen, fingen Fuchsien und Plumerien zu blühen an, und Vater Acquin rieb sich dann und wann vergnüglich die Hände.

»Das gibt ein gutes Jahr,« sagte er zu seinen Söhnen und berechnete mit stillem Lachen den Ertrag des Verkaufs der Blumen.

Um so weit zu kommen, hatten wir alle angestrengt gearbeitet und uns selbst des Sonntags keine Ruhe gegönnt; da nun aber alles im besten Stand war, wurde beschlossen, daß wir Sonntag den 5. August zu unsrer Belohnung einen Ausflug nach Arcueil zu einem mit dem Vater befreundeten Gärtner machen wollten; selbst Capi sollte mitgenommen werden. Bis nach drei Uhr wurde noch gearbeitet, und einige Minuten nach vier Uhr drehte Vater Acquin den Schlüssel in der großen Thüre um.

»Vorwärts, Kinder!« rief er vergnügt.

»Vorwärts, Capi!« wiederholte ich, nahm Lieschen bei der Hand und lief, von Capis fröhlichem Gebell begleitet, mit ihr voran.

Wir steckten alle in unsren sonntäglichen Bratenröcken, und die Leute guckten uns nach. Ich weiß nicht, wie ich selbst ausgesehen habe, aber Lieschen mit ihrem Strohhut, ihrem blauen Kleidchen, ihren grauleinenen Stiefelchen und ihrer anmutigen Lebhaftigkeit, war entschieden das hübscheste kleine Mädchen, das man finden konnte; ihre Augen, ihre leicht zitternden Nasenflügel, ihre Schultern, ihre Arme, ihre Hände – kurzum ihr ganzes Wesen atmete Freude.

Die Zeit verging – ich wußte nicht wie, und alles, dessen ich mich noch entsinne, ist, daß gegen Ende der Mahlzeit einer von uns bemerkte, daß sich im Westen schwarze Wolken zusammenzogen und ein Gewitter drohe, was wir leicht feststellen konnten, da wir im Freien unter einem großen Holunderstrauch speisten.

»Kinder, wir müssen machen, daß wir heimkommen!«

»Schon!« ertönte es von allen Seiten. Lieschen sagte nichts, winkte aber entschieden ab.

»Wenn ein Sturm kommt, kann er leicht die Mistbeetfenster umschlagen,« sagte Vater Acquin, »nur vorwärts!«

Dagegen ließ sich nichts mehr einwenden, denn wir wußten, daß in diesen Fenstern das Vermögen der Gärtner steckt und daß diese zu Grunde gerichtet sind, wenn der Wind die Fenster zertrümmert.

»Ich will rasch vorausgehen,« sagte Vater Acquin »und ihr kommt mit mir, Alexis und Benjamin, während Remi mit Etiennette und Lieschen langsamer nachkommt.«

Ohne ein Wort weiter zu verlieren, machten sie sich mit großen Schritten davon, während wir so schnell folgten, als es Lieschens kleine Füßchen erlaubten: von Lachen, Hüpfen und Springen war keine Rede mehr.

Der Himmel wurde immer schwärzer und schwärzer, große, wirbelnde Staubwolken wurden vom Wind vor dem eilends heraufziehenden Gewitter einhergejagt. Schon rollte der Donner in der Ferne, immer näher kam sein Grollen und entlud sich in Mark und Bein erschütternden Schlägen.

Etiennette und ich zogen jetzt Lieschen, das uns kaum zu folgen vermochte, an den Händen nach, kamen aber doch nicht so schnell vorwärts, als wir gerne gewollt hätten.

Ob wir, ob Vater Peter, Alexis und Benjamin noch vor dem Gewitter nach Hause kamen?

Für die drei letzteren war die Frage von höchster Wichtigkeit, denn bei ihnen handelte es sich darum, ob sie noch Zeit fanden, die Mistbeetfenster zu schließen, damit der Wind sie nicht von unten faßte, wegriß und zertrümmerte.

Immer häufiger folgten die Donnerschläge aufeinander, und die Wolken hatten sich so dicht zusammengeballt, daß es beinahe Nacht geworden war; jagte der Wind sie einmal auseinander, so blickte man durch die pechschwarzen Wolkenmassen in kupferfarbene Schlünde – offenbar mußten sich diese Wolken von einem Augenblick zum andern entladen.

Plötzlich vernahmen wir zwischen die Donnerschläge hindurch ein entsetzliches, unerklärliches Getöse, das sich uns zu nähern schien – es war etwa, als jage ein ganzes Reiterregiment mit verhängtem Zügel vor dem Gewitter daher.

Das war der Hagel; erst schlugen uns nur einige Schloßen ins Gesicht, dann aber folgte ein wahrer Wolkenbruch von Hagel, so daß wir unter ein großes Portal flüchten mußten: schon im nächsten Augenblick war die Straße von einer dicken, weißen Eisschichte bedeckt, wie mitten im Winter; die Schloßen waren so groß als Taubeneier und prasselten mit einem betäubenden Lärm hernieder, der noch gesteigert wurde durch das Klirren der zerschmetterten Fensterscheiben; die Schloßen, die von den Dächern auf die Straße herunterglitten, rissen alle möglichen Dinge mit sich herab, wie Ziegel, Kalkbrocken und hauptsächlich zerbrochene Schieferplatten, die sich wie kleine schwarze Hügel aus der schneeigen Weiße des Hagels abhoben.

»Ach Gott, die Mistbeetfenster!« jammerte Etiennette.

»Vielleicht ist der Vater noch rechtzeitig heimgekommen,« sagte ich, obgleich ich die nämliche Befürchtung hegte.

»Wenn sie auch noch vor dem Hagel heimgekommen wären, so hätten sie doch keine Zeit mehr gehabt, die Strohmatten auf die Fenster zu legen; alles wird zerstört sein!«

»Man sagt aber, der Hagel falle nur strichweise.«

»Wir sind schon zu nahe an unsrem Haus, als daß wir hoffen dürften, verschont geblieben zu sein; wenn der Hagel aus den Garten fällt, wie hier, so ist der arme Vater zu Grunde gerichtet; ach, du lieber Gott, wie hat er auf diesen Verkauf gerechnet und wie nötig braucht er das Geld!«

Wenn ich auch im allgemeinen wenig von Preisen wußte, so hatte ich doch schon oft gehört, daß die Mistbeetfenster zwischen fünfzehnhundert und achtzehnhundert Franken per Hundert kosten, und begriff sofort, welches Unheil es für uns war, wenn uns der Hagel, ganz abgesehen von den Gewächshäusern und Pflanzen, fünfhundert bis sechshundert Fenster zusammengeschlagen hatte.

Dies furchtbare Unwetter dauerte nur etwa fünf bis sechs Minuten und hörte ebenso rasch auf, als es angefangen hatte.

Auf der Straße glitten uns die harten, runden Hagelkörner wie Uferkies am Meeresstrand unter den Füßen weg, und ich nahm Lieschen, die mit ihren Leinwandstiefelchen nicht weiter konnte, auf den Rücken; ihr vorher so lustiges Gesichtchen hatte nun einen tiefbetrübten Ausdruck angenommen, während Etiennette den Hagel ansah, wie jemand, der in die Flammen eines brennenden Hauses starrt.

Bald langten wir zu Hause an und fanden das große Thor weit offen stehen; rasch eilten wir in den Garten; aber welch ein Anblick bot sich uns da! Alles war zerbrochen, zerschmettert, zerhackt: Glasscheiben, Blumen, Hagelkörner lagen in wirrem Durcheinander in wüster Zerstörung – das war alles, was von dem am Morgen noch so üppig blühenden, schönen Garten übrig geblieben war.

Wo nur der Vater weilte?

Nachdem wir ihn lange vergeblich gesucht hatten, fanden wir ihn auf einer Fußbank unter den Trümmern des großen Gewächshauses sitzen, von dem auch nicht eine einzige Scheibe ganz geblieben war. Alexis und Benjamin standen regungslos neben ihm.

»Ach meine armen Kinder,« rief er, als ihm das Knirschen der Glasscherben unter unsern Füßen unser Kommen verriet, »ach, meine armen Kinder!«

Damit schloß er Lieschen in seine Arme, fing an bitterlich zu weinen und sprach kein Wort mehr.

Was hätte er auch sagen sollen?

So groß das Unglück auch schon auf den ersten Blick erschien, so war es in Wirklichkeit doch noch viel größer.

Bald erfuhr ich von Etiennette und den Jungen, daß die Verzweiflung ihres Vaters nur allzu gerechtfertigt war. Vor zehn Jahren hatte er den Garten gekauft und dies Haus gebaut. Von dem Mann, dem er das Grundstück abgekauft hatte, war ihm auch das nötige Betriebskapital vorgestreckt worden, die ganze Summe sollte im Lauf von fünfzehn Jahren – in halbjährlichen Raten zahlbar – zurückerstattet werden. Die pünktliche Zahlung der verfallenen Zinsen und Zieler war um so dringlicher, als der Gläubiger nur auf eine Gelegenheit, das heißt auf einen Rückstand wartete, um sich wieder in Besitz des Anwesens zu setzen – wohlverstanden mit Nichtanrechnung der schon zurückbezahlten zehn Jahresraten: gerade darauf beruhte seine Spekulation, denn er dachte im Lauf von fünfzehn Jahren könne leicht der Tag kommen, wo Vater Peter nicht zu zahlen vermöge.

Dank dem Hagel war der Tag nun da.

Was würde nun geschehen?

Sehr lange blieben wir darüber nicht im Zweifel, denn den Tag nach dem Verfall des Zieles trat ein schwarzgekleideter, nicht sehr höflich aussehender Herr ins Haus und übergab uns ein gestempeltes Papier, nachdem er auf eine offen gelassene Zeile noch einige Worte geschrieben hatte.

Von diesem Tag an kam er oft, so oft, daß er uns schließlich alle bei Namen kannte und uns seine Stempelbogen mit freundschaftlichem Lächeln überreichte.

Der Vater blieb fast gar nicht mehr zu Hause und war immer in der Stadt, doch sagte uns der früher so mitteilsame Mann nicht, was er dort that. Vermutlich ging er zu Geschäftsleuten oder aufs Gericht.

So verging ein Teil des Winters. Da wir unsre Mistbeetfenster und Gewächshäuser nicht in stand setzen lassen konnten, so bauten wir nun Gemüse und Blumen, die keines derartigen Schutzes bedurften. Das gab wohl keinen großen Ertrag, brachte aber immerhin doch etwas ein und gab uns jedenfalls zu thun.

Eines Abends kam der Vater noch gebeugter nach Hause als gewöhnlich.

»Kinder,« sagte er, »jetzt ist alles aus.«

Ich merkte, daß er seinen Kindern eine wichtige Mitteilung zu machen hatte, und wollte in aller Stille das Zimmer verlassen, aber er hielt mich zurück und sagte: »Du gehörst ja auch zur Familie, und wenn du auch noch nicht sehr alt bist, so hat dich doch das Unglück schon so geprüft, daß du wohl verstehen wirst, was ich euch mitzuteilen habe. Kinder, meine Kinder, ich muß euch verlassen.«

Ein Ausruf, ein Schrei des Entsetzens war die einzige Antwort!

Lieschen stürzte sich in seine Arme und küßte ihn unter Thränen.

»Ihr könnt euch ja denken, daß man nicht freiwillig von so guten Kindern, als ihr seid, und von einem so lieben kleinen Mädchen, als Lieschen, fortgeht.« Damit drückte er sie an sein Herz.

»Ich bin aber verurteilt worden, zu zahlen und da ich kein Geld habe, wird hier alles verkauft werden, allein dies reicht nicht aus, und deshalb komme ich auf fünf Jahre ins Gefängnis. Weil ich mit meinem Geld nicht zahlen kann, muß ich es mit meinem Leib, mit meiner Freiheit thun.«

Bei diesen Worten fingen wir alle zu weinen an.

»Ja, es ist recht traurig,« sagte er, »aber das Gesetz bestimmt es so, und Gesetz ist Gesetz. Aber, was soll aus euch werden, wenn man mich auf fünf Jahre ins Gefängnis steckt, was schon in den nächsten Tagen geschehen wird? Das ist das Schlimmste von allem.«

Eine schreckliche Stille trat ein, und nach einer Weile fuhr der Vater fort: »Da ich euch nicht allein und verlassen wissen will, so lange ich im Gefängnis sitze, soll Remi einen Brief an meine Schwester Katharine Suriot in Dreuzy schreiben, ihr erklären, in welcher Lage wir uns befinden, und sie bitten, hierher zu kommen. Katharine verliert nicht leicht den Kopf, und mit ihr können wir alles am besten überlegen.«

Das war der erste Brief, den ich schrieb – ein schwerer, schmerzlicher Anfang.

Obgleich die Worte des Vaters eigentlich recht unbestimmt waren, so erfüllten sie uns doch mit unklaren Hoffnungen, und in unsrer Lage war das schon viel.

Indessen erschien Tante Katharine nicht so rasch, als wir erwarteten, und der Vater wurde auf dem Weg zu einem Freund in meiner Anwesenheit verhaftet, noch ehe sie gekommen war. Er bat den Beamten, der ihn verhaftete, seinen Kindern noch Lebewohl sagen zu dürfen.

Wir kehrten nach Hause zurück, und ich suchte die Jungen im Garten. Als wir miteinander ins Zimmer traten, hielt der Vater das bitterlich weinende Lieschen im Arm.

Einer der Gerichtsdiener sagte ihm leise etwas ins Ohr, worauf er erwiderte: »Sie haben recht, es muß sein.«

Damit stand er rasch auf und setzte Lieschen zur Erde, aber die Kleine umklammerte seine Hand und wollte ihn gar nicht loslassen.

Dann küßte er Etiennette, Alexis und Benjamin, während ich mich mit von Thränen verdunkelten Augen etwas abseits hielt.

»Und du, Remi, willst du mich nicht auch noch einmal umarmen,« rief er, »bist du denn nicht auch mein Kind?«

Wir waren ganz fassungslos und wollten den Vater begleiten, der zur Thür schritt, nachdem er noch Lieschens Hand in die von Etiennette gelegt hatte, allein er befahl uns, zurückzubleiben.

Etwa eine Stunde nach der Verhaftung Vater Peters kam Tante Katharine und fand uns noch immer stumm und traurig in der Küche. Es war Zeit, daß sie kam, denn auch Etiennette, die sonst so mutig und tapfer gewesen, war ganz gebrochen und gab sich fassungslos ihrem Schmerz hin.

Tante Katharine war ein Prachtweib, voll Thatkraft und Willensstärke; sie war zu verschiedenen Zeiten, im ganzen zehn Jahre, als Amme in Paris gewesen und kannte sich in allem aus.

Immerhin war es für eine Bäuerin ohne Bildung und ohne Vermögen eine schwere Verantwortung, für eine Schar Waisen zu sorgen, von denen die älteste noch keine sechzehn Jahre alt und die jüngste stumm war. Was sollte sie mit diesen Kindern anfangen, wie für sie sorgen, da sie doch selbst kaum zu leben hatte?

Einer ihrer früheren Dienstherren war Notar, und mit diesem beriet und bestimmte sie unser Geschick. Nachdem sie im Gefängnis gewesen und der Vater sich mit ihrem Plan einverstanden erklärt hatte, teilte sie uns nach etwa acht Tagen mit, welche Entschlüsse gefaßt worden waren, ohne daß sie vorher ein Wort von ihren Absichten hatte verlauten lassen.

Da wir zu jung waren, um selbständig weiterarbeiten zu können, sollten die Kinder bei ihren Onkeln und Tanten untergebracht werden.

Lieschen sollte zu Tante Katharine kommen, Alexis zu einem Onkel, einem Bergmann in Varses in den Cevennen, Benjamin zu einem andern Onkel, der Gärtner in Saint Quentin war, und Etiennette zu einer Tante, die sich nach Esnandes, in der Charente verheiratet hatte.

Ich hörte diesen Anordnungen zu und wartete, bis die Reihe an mich kam, als aber Tante Katharine zu sprechen aufhörte, ohne mich erwähnt zu haben, trat ich vor und sagte: »Ja, und ich?«

»Aber du gehörst doch nicht zur Familie!«

»Ich würde für Sie arbeiten.«

»Du gehörst nicht zur Familie!«

»Fragen Sie nur Benjamin und Alexis, ob ich nicht fleißig arbeite!«

»Und es dir gut schmecken läßt, gelt?«

»Jawohl, er gehört zur Familie!« riefen sie alle.

Lieschen trat vor ihre Tante hin und faltete die Hände mit einer Gebärde und einem Blick, die beredter waren, als die längste Rede.

»Jawohl, du armer Tropf,« sagte Tante Katharine, »du möchtest, daß er mit dir gehe, aber im Leben darf man eben nicht immer thun, was man will. Du bist meine Nichte, und wenn wir heimkommen und mein Mann sagt was dagegen, so kann ich ihm antworten: Sie gehört zu meiner Familie, und wer sollte sich ihrer erbarmen, wenn nicht wir? Und so geht es bei allen andern auch. Seine Verwandten nimmt man bei sich auf, aber keine Fremden. Das Brot ist für die eigenen schon knapp genug bemessen und reicht nicht für alle Welt.«

Dagegen ließ sich nichts sagen, die Tante hatte nur allzurecht – das sah ich wohl ein. Ich gehörte nicht »zur Familie« und hatte nichts zu beanspruchen – etwas fordern, hieß unter diesen Umständen betteln, wenn ich auch Alexis und Benjamin wie meine Brüder, Lieschen und Etiennette wie meine Schwestern liebte.

Tante Katherine pflegte die Ausführung ihrer Entschlüsse nie lange hinauszuschieben, und teilte uns deshalb gleichzeitig mit, daß unsre Trennung am nächsten Morgen stattfinden werde.

Damit schickte sie uns zu Bett.

Kaum hatten wir unser Schlafzimmer betreten, so umdrängten mich alle, und Lieschen hing sich weinend an meinen Hals. Trotz des Kummers, den die Geschwister über die ihnen bevorstehende Trennung voneinander empfanden, dachten sie doch nur an mich, beklagten sie nur mich allein, und nun erst fühlte ich recht, daß ich ihnen wirklich ein Bruder sei. In diesem Augenblick kam mir ein Einfall oder vielmehr eine Eingebung des Herzens, der ich zu folgen beschloß.

»Hört,« sagte ich, »ich sehe wohl, daß ihr mich zu eurer Familie rechnet, wenn auch eure Verwandten nichts von mir wissen wollen.«

»Jawohl,« sagten die drei Aelteren, »du wirst immer unser Bruder sein.« Lieschen, die ja nicht sprechen konnte, reichte mir die Hand und drückte ihr Einverständnis durch einen so innigen Blick aus, daß mir die Thränen in die Augen kamen.

»Gut,« fuhr ich fort, »ich bin euer Bruder und werde es euch durch die That beweisen.«

»Wo willst du denn hingehen?« fragte Benjamin.

»Bei Pernuit ist eine Stelle offen,« sagte Etiennette, »soll ich morgen früh zu ihm gehen und ihn bitten, sie dir zu geben?«

»Ich will keine Stelle annehmen, denn dann müßte ich in Paris bleiben und würde euch nicht wieder sehen. Nein, ich nehme meinen Schafpelz wieder um und meine Harfe vom Nagel und wandre von Saint-Quentin nach Varses, von Varses nach Esnandes und von Esnandes nach Dreuzy. So sehe ich euch einen nach dem andern, und ihr werdet durch mich immer miteinander in Verbindung bleiben. Noch habe ich meine Lieder und Tänze nicht vergessen – ich werde mich schon durchschlagen.«

Aus der allgemeinen Befriedigung, die mein Vorschlag erregte, konnte ich ersehen, wie sehr ich ihren eigenen Wünschen zuvorgekommen war, und fühlte mich dadurch, trotz allem Kummer, hoch beglückt. Noch lange wurde unser Plan besprochen und allerlei Zukunftspläne gemacht; obgleich uns Etiennette schließlich ins Bett trieb, wurde in dieser Nacht nicht viel geschlafen bei uns.

Am andern Morgen zog mich Lieschen in aller Frühe in den Garten hinaus, und ich merkte, daß sie mir etwas zu sagen hatte.

Sie nickte bejahend, als ich diese Frage an sie richtete.

»Du bist betrübt, daß wir uns trennen müssen, und möchtest mir dies sagen können? Ich lese es in deinen Augen und fühle es in meinem Herzen.«

Sie bedeutete mich, daß es sich nicht darum handle, und da wir uns in der Regel dadurch verständigten, daß ich sprach und fragte, und sie ein bejahendes oder verneinendes Zeichen machte, fuhr ich fort: »In vierzehn Tagen bin ich schon bei dir in Dreuzy.«

Darauf schüttelte sie den Kopf.

»Du willst nicht, daß ich nach Dreuzy komme?«

Auf diese Weise brachte ich schließlich heraus, daß sie mich wohl in Dreuzy zu sehen wünsche, aber vorher sollte ich ihre übrigen Geschwister besuchen und ihr dann von diesen Nachricht bringen. Als sie sich von mir verstanden sah, lächelte sie befriedigt durch ihre Thränen.

Um acht Uhr morgens sollten sie das Haus verlassen und die Tante hatte einen großen Fiaker bestellt, um sie nebst ihrem Gepäck erst zum Abschied vom Vater ins Gefängnis und von da ein jedes auf den Bahnhof zu bringen, von wo es abreisen mußte.

Um sieben Uhr nahm mich Etiennette mit in den Garten.

»Wir müssen uns voneinander trennen,« begann sie, »und ich möchte dir gerne ein Andenken geben; da, nimm, es ist ein kleines Nähetui mit Nadeln und Faden und der Schere, die mir mein Pate geschenkt hat. Auf der Wanderschaft wirst du's schon brauchen können, denn ich bin ja nicht mehr da, um dir ein Loch zuzustückeln oder einen Knopf anzunähen.«

Während Etiennette mit mir sprach, trieb sich Alexis in unsrer Nähe herum, und sobald sie wieder ins Haus gegangen war, kam er zu mir her und sagte: »Du, ich habe zwei Fünffrankenthaler, und wenn du einen davon annimmst, so freut mich's sehr.«

Alexis war unter uns fünfen der einzige, der Sinn fürs Geld hatte, und wir neckten ihn immer mit seinem Geiz. Sou um Sou scharrte er zusammen und war ganz glücklich, wenn er einmal ein neues Zwanzigsousstück bekam. Deshalb rührte mich sein Anerbieten sehr: ich wollte es ablehnen, aber er bestand darauf und drückte mir ein schönes neues Geldstück in die Hand, woraus ich auf die Größe seiner Freundschaft schließen konnte, die ihn dazu vermochte, sich von seinem kleinen Schatz zu trennen.

Auch Benjamin vergaß mich nicht und schenkte mir sein Taschenmesser, verlangte aber einen Sou dafür, weil ja sonst das Messer »die Freundschaft zerschnitten hätte«.

Die Zeit verging rasch; noch eine Viertelstunde, noch fünf Minuten, und wir waren voneinander getrennt. Sollte nur Lieschen nicht an mich denken?

Als eben der Wagen anfuhr, kam sie aus Tante Katharines Stube heraus und winkte mir, ihr in den Garten zu folgen.

»Lieschen! Lieschen!« rief die Tante.

Lieschen ließ sie rufen und setzte eiligst ihren Weg fort, der zu einem großen, in einer verlorenen Ecke stehenden Strauch bengalischer Rosen führte – dem einzigen Zierstrauch, der dem Nützlichkeitsprinzipe, das in der Handelsgärtnerei herrscht, nicht geopfert worden war.

Von diesem Rosenstrauch schnitt Lieschen einen Zweig ab, woran zwei kleine, dem Erblühen nahe Knospen saßen, von denen sie die eine mir gab, und die andre selbst behielt. Ach, wie armselig und ungenügend ist doch die Sprache der Lippen im Vergleich zu der der Augen! Wie kalt erscheinen Worte im Vergleich mit Blicken!

»Lieschen, Lieschen,« rief die Tante. Die Bündel der Kinder lagen schon im Wagen.

Nun nahm ich meine Harfe und rief Capi, der beim Anblick des Instrumentes und meiner alten Tracht förmliche Freudensprünge machte, weil er ahnte, was nun kommen würde, und das Wanderleben viel mehr nach seinem Geschmack war.

Der Augenblick des Abschieds war gekommen: Tante Katharine kürzte ihn indes thunlichst ab, indem sie Etiennette, Alexis und Benjamin einsteigen hieß und mich bat, ihr Lieschen auf den Schoß zu heben.

Als ich ganz betäubt stehen blieb, schob sie mich sanft zurück und warf den Wagenschlag zu.

»Vorwärts!« befahl sie und der Wagen fuhr fort.

Durch meine Thränen hindurch sah ich noch, daß Lieschen den Kopf herausstreckte und mir eine Kußhand zuwarf, dann bog die Droschke um eine Ecke und ließ nur noch eine Staubwolke hinter sich.

Auf meine Harfe gestützt, Capi zu meinen Füßen gelagert, stand ich lange und sah gedankenlos dem Staub zu, der sich langsam wieder setzte.

Ein Nachbar, der damit beauftragt war, das Haus zu schließen und die Schlüssel dem Besitzer einzuhändigen, schreckte mich aus meiner Betäubung auf und führte mich in die Wirklichkeit zurück.

»Bleibst du hier?« fragte er.

»Nein, ich gehe fort.«

»Wohin?«

»Immer der Nase nach.«

»Wenn du Lust hast, will ich dich behalten, aber natürlich ohne Lohn, weil du noch so schwach bist: später will ich indessen nicht sagen.«

Ich dankte ihm.

»Wie du willst! 's war gut gemeint; glückliche Reise!«

Damit ging er. Der Wagen war verschwunden, das Haus geschlossen. Ich hing meine Harfe um meine Schulter, diese Bewegung, die er mich früher so oft hatte machen sehen, erregte Capis Aufmerksamkeit; er stand auf und hielt seine glänzenden Augen auf mein Gesicht geheftet.

»Vorwärts, Capi!«

Er verstand mich und sprang bellend um mich herum, ich aber wandte meinen Blick ab von dem Haus, das mir zwei Jahre Heimat gewesen war und es, wie ich gehofft, für immer hatte bleiben sollen, und blickte vorwärts.

Die Sonne stand hoch am Horizont, der Himmel war rein und das Wetter warm, und nichts erinnerte an die eisige Nacht, in der ich erschöpft am Fuß dieser Mauer zusammengebrochen war. Diese zwei Jahre waren also nur eine vorübergehende Rast gewesen, und jetzt mußte ich wieder weiterziehen.

Diese Rast aber war wohlthätig für mich gewesen und hatte meine Kräfte entwickelt, und was noch viel besser war, als die Kraft, die ich in meinen Gliedern fühlte, das war die Liebe, die mein Herz erfüllte.

Nun stand ich nicht mehr allein in der Welt, nun hatte ich einen Zweck im Leben: mich denen, die ich liebte und von denen ich geliebt wurde, nützlich zu erweisen und ihnen Freude zu machen, soviel ich irgend konnte. Ein neues Dasein that sich auf vor mir: »Vorwärts!«


 << zurück weiter >>