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Fünfunddreißigstes Kapitel.
Ehre Vater und Mutter!

Als mein Vater sich entfernte, hatte er uns wohl das Licht zurückgelassen, aber die Thür unsres Wagens von außen verschlossen, so daß uns gar nichts andres übrig blieb, als zu Bett zu gehen, was wir auch so schnell als möglich thaten, ohne wie sonst allabendlich noch miteinander zu plaudern und ohne die Eindrücke dieses so ereignisreichen Tages auszutauschen.

»Gute Nacht, Remi!« sagte Mattia.

»Gute Nacht, Mattia!« erwiderte ich.

Mattia bezeugte ebensowenig Lust zum Sprechen, als ich, worüber ich sehr froh war.

Daraus, daß wir keine Lust zum Sprechen hatten, folgt aber keineswegs, daß wir Lust zum Schlafen fühlten; nachdem wir das Licht gelöscht hatten, vermochte ich kein Auge zuzumachen und fing an, mich auf meinem schmalen Lager hin und her zu werfen und über das, was geschehen war, nachzudenken.

Mattia, der die Bettstelle über mir inne hatte, wälzte sich ebenfalls hin und her, was bewies, daß auch er nicht schlafen konnte.

»Du schläfst nicht?« fragte ich leise.

»Nein, noch nicht.«

»Liegst du schlecht?«

»Nein, danke, ich liege sehr gut, nur scheint sich alles mit mir zu drehen, als ob ich noch auf dem Meer wäre, und es ist mir, als hebe und senke sich der ganze Wagen.«

Ob es nur die Seekrankheit war, die Mattia den Schlaf raubte? Waren es nicht vielmehr seine Gedanken, die ihn wach erhielten und die auf ein Haar denen glichen, die mich heimsuchten? Lieb genug hatte er mich dazu, und gemütlich und geistig waren wir zu sehr verbunden, als daß er jetzt nicht gefühlt hätte, was mich bewegte.

Der Schlaf wollte immer nicht kommen, und je länger ich wach dalag, desto größer wurde die unbestimmte Angst, die mich bedrückte und alle übrigen Empfindungen, die auf mich einstürmten, beherrschte. Aber Angst, wovor? Das wußte ich selbst nicht – ich hatte eben Angst, jedenfalls aber nicht davor, daß ich hier in diesem Wagen inmitten eines elenden Stadtteils lag. Wie oft hatte ich nicht während meines abenteuerlichen Vagabundenlebens meine Nächte an bedeutend weniger geschützten Orten, als diesem verbracht! Ich war mir bewußt, vor jeder Gefahr geschützt zu sein, und dennoch hatte ich Angst; je mehr ich mich dieses Schreckens erwehren wollte, desto weniger gelang es mir, mich zu beruhigen.

So verrann Stunde um Stunde, doch wußte ich nicht, wie weit die Nacht vorgerückt war, denn es gab in der Umgegend keine Kirchenglocken, die schlugen. Mit einemmal vernahm ich ein ziemlich starkes Geräusch an der Thür des Wagenschuppens, die auf eine andre Straße als Red Lion Court führte, und nach einem in mehrmaligen, regelmäßigen Pausen sich wiederholenden Klopfen fiel ein Lichtschein in unsern Wagen.

Erstaunt sah ich mich um, während Capi, der neben mir lag, aufwachte und zu knurren anfing: nun sah ich, daß der Lichtschein durch ein in die Seitenwand des Wagens eingelassenes Fensterchen fiel, das sich gerade vor unsern Betten befand und das ich, als wir uns zur Ruhe legten, gar nicht bemerkt hatte, weil es von innen mit einem Vorhang verhängt war. Die eine Hälfte des Fensterchens befand sich vor Mattias, die andre vor meinem Bett. Da ich nicht wollte, daß Capi das ganze Haus aufweckte, legte ich ihm eine Hand auf die Schnauze und sah dann hinaus.

Mein Vater war in den Schuppen eingetreten, hatte rasch und geräuschlos die nach der Straße führende Thür geöffnet und ebenso wieder geschlossen, nachdem er zwei mit Ballen beladene Männer eingelassen hatte.

Nun legte er einen Finger auf den Mund und wies mit der andern Hand, in der er eine Blendlaterne trug, auf unsern Wagen, was bedeutete, sie sollten keinen Lärm machen, um uns nicht aufzuwecken. Von dieser Aufmerksamkeit gerührt, war ich schon im Begriff, ihm zuzurufen, er brauche sich um meinetwillen keinen Zwang anzuthun, als mir noch rechtzeitig einfiel, daß ich damit Mattia wecken würde, der ohne Zweifel friedlich schlummerte.

Mein Vater half den beiden Männern ihre Ballen von den Schultern nehmen und verschwand dann einen Augenblick, um sofort mit meiner Mutter wieder zu erscheinen. Unterdessen hatten die Männer ihre Ballen geöffnet, wovon der eine ganze Stücke verschiedener Stoffe, der andre Strumpfwaren aller Art wie Unterbeinkleider, Strümpfe, Handschuhe und dergleichen enthielt.

Nun war mir das Rätsel gelöst, das mir zu Anfang ganz unerklärlich geschienen hatte! Natürlich waren diese Männer Kaufleute, denen meine Eltern ihre Waren abkauften!

Mein Vater nahm jeden einzelnen Gegenstand in die Hand, untersuchte ihn beim Schein der Laterne und gab ihn dann meiner Mutter, die mit einer kleinen Schere die Etikette wegschnitt und in die Tasche steckte. Dies Verfahren kam mir so sonderbar vor, wie die zum Abschluß dieses Verkaufs gewählte Stunde.

Während er die Waren untersuchte, wechselte mein Vater leise einige Worte mit den beiden Männern; hätte ich Englisch gekonnt, so hätte ich vielleicht verstehen können, was gesprochen wurde, aber was man nicht versteht, hört man auch schlecht, und so fing ich eigentlich nur das mehrmals wiederholte Wort » policemen« auf.

Nachdem der Inhalt der beiden Ballen genau untersucht worden war, traten meine Eltern mit den Männern ins Haus, natürlich um abzurechnen, und es wurde wieder dunkel um uns her.

Ich wollte mir einreden, es gäbe nichts Natürlicheres in der Welt als das, was ich eben mit angesehen hatte, allein trotz des besten Willens gelang mir das nicht. Warum waren diese Leute nicht durch Red Lion Court hereingekommen? Warum hatte man leise von der Polizei gesprochen, als fürchte man, draußen gehört zu werden? Warum hatte meine Mutter die Etiketten von den gekauften Waren weggeschnitten?

Diese Fragen waren nicht dazu angethan, mich einzuschläfern, und vergeblich suchte ich sie, da ich doch keine Antwort fand, mir aus dem Sinn zu schlagen. Nach einer gewissen Zeit drang wieder ein Lichtschein in unsern Wagen, und wiederum blickte ich durch die Vorhangspalte hinaus; aber diesmal that ich es unwillkürlich, sogar gegen meinen eigenen Willen, während es das erste Mal ganz harmlos und natürlich geschehen war, lediglich um zu erfahren, was draußen vorging. Diesmal sagte ich mir, ich dürfe nicht hinaussehen, denn es sei ohne Zweifel besser, nichts zu wissen, und dennoch sah ich hinaus und wollte wissen, was los war.

Mein Vater und meine Mutter waren allein; während meine Mutter die Waren rasch in zwei Bündel zusammenpackte, kehrte mein Vater in einer Ecke des Schuppens den trockenen Sand beiseite, und bald kam eine Fallthür zum Vorschein, die er in die Höhe hob. Als meine Mutter die beiden Ballen zugebunden hatte, trug er sie durch diese Fallthür in einen Keller hinab, dessen Tiefe ich nicht beurteilen konnte, und meine Mutter leuchtete ihm mit der Laterne dazu.

Dann kam er wieder heraus, schloß die Fallthür und kehrte mit seinem Besen den Sand wieder darüber. Als er damit fertig war, sah man keine Spur von der Fallthür mehr, denn meine Eltern streuten, ehe sie hinausgingen, noch miteinander Strohhalme darauf, wie sie in dem ganzen Wagenschuppen herumlagen.

Als sie eben leise die ins Haus führende Thür einklinkten, schien es mir, als bewege sich Mattia über mir und lege den Kopf aufs Kissen.

Hatte er mitangesehen, was hier vorgegangen war?

Ich wagte nicht, ihn zu fragen, denn nun war es keine unbestimmte Furcht mehr, die mich zu ersticken drohte; ich wußte jetzt, wovor ich Angst hatte, und war von Kopf bis zu Fuß in kalten Schweiß gebadet.

So lag ich die ganze Nacht; ein in der Nachbarschaft krähender Hahn hatte schon das Nahen des Morgens verkündet, als ich endlich in einen angstvollen, fieberhaften Schlummer sank.

Das Klirren des Schlosses schreckte mich wieder auf, und ich hörte, daß die Thür unsres Wagens geöffnet wurde; da ich glaubte, es sei mein Vater, der uns wecken wolle, hielt ich die Augen geschlossen, um ihn nicht sehen zu müssen.

»Es war dein Bruder, der uns in Freiheit gesetzt hat,« sagte Mattia, »er ist schon wieder fortgegangen.«

Nun standen wir auf; Mattia erkundigte sich, ob ich gut geschlafen habe, aber ich richtete gar keine Frage an ihn und wich seinen Blicken aus, als er mich einmal forschend ansah. Endlich mußten wir doch in die Küche treten, aber weder mein Vater, noch meine Mutter waren da; nur mein Großvater saß in seinem Lehnstuhl am Feuer, als ob er sich seit gestern abend nicht von der Stelle gerührt hätte, und die ältere meiner Schwestern, Annie, wischte den Tisch ab, während mein Bruder Allen das Gelaß auskehrte. Ich ging auf sie zu und bot ihnen die Hand, aber sie fuhren in ihren Beschäftigungen fort, ohne meinen Gruß zu erwidern, und auch mein Großvater ließ mich, wie am Abend zuvor, nicht an sich herankommen, sondern spuckte nach mir.

»Frage doch, um wieviel Uhr ich meine Eltern heute sehen würde,« bat ich Mattia, und dieser kam meinem Wunsch sofort nach.

Als mein Großvater englisch sprechen hörte, wurde er etwas milder; sein Gesicht verlor ein wenig von seiner erschreckenden Starrheit, und er ließ sich sogar zu einer Antwort herbei.

»Was hat er gesagt?« fragte ich Mattia.

»Dein Vater sei für den ganzen Tag ausgegangen, deine Mutter schlafe, und wir könnten spazieren gehen.«

»Und sonst hat er nichts gesagt?« fragte ich, denn ich fand diese Uebersetzung recht kurz.

Mattia schien verlegen und sagte ausweichend: »Ich weiß nicht, ob ich das übrige recht verstanden habe.«

»Sage, was du verstanden hast!«

»Ich glaube, er sagte, wenn wir in der Stadt eine günstige Gelegenheit fänden, sollten wir sie nicht hinauslassen: und dann setzte er hinzu – das weiß ich ganz gewiß –: ›man muß immer auf Kosten der Dummköpfe leben!‹«

Ohne Zweifel erriet mein Großvater, was mir Mattia erklärte, denn bei dessen letzten Worten machte er mit seiner nicht gelähmten Hand eine Bewegung, als lasse er etwas in seiner Tasche verschwinden, und blinzelte dazu mit dem Auge.

»Wir wollen gehen,« sagte ich zu Mattia.

Zwei oder drei Stunden lang schlenderten wir in der Nachbarschaft herum, aus Angst, uns zu verirren, wenn wir uns weiter fortwagten. Bei Tag machte Bethnal-Green noch einen viel abschreckenderen Eindruck auf mich, als bei Nacht, denn von allen Seiten grinste uns das Elend in seiner traurigsten Gestalt entgegen.

Mattia und ich sahen alles, sagten aber kein Wort darüber und gingen endlich wieder nach Hause.

Meine Mutter hatte ihr Schlafzimmer verlassen; schon von der Thür aus sah ich, daß sie den Kopf auf den Tisch gelegt hatte, und eilte auf sie zu, um sie, die ich für krank hielt, wenigstens zu küssen, da ich ja nicht mit ihr sprechen konnte.

Als ich sie in meine Arme schloß, richtete sie ihren Kopf wackelnd auf und stierte mich an, ohne mich zu sehen, und nun strömte mir mit ihrem heißen Atem ein durchdringender Geruch von Wacholderbranntwein entgegen. Ich fuhr zurück und sie ließ ihren Kopf wieder auf ihre beiden auf dem Tisch ausgebreiteten Arme hinabsinken.

»Wacholder,« sagte mein Großvater, warf mir einen höhnischen Blick zu und ließ noch einige für mich unverständliche Worte fallen.

Eine Weile blieb ich ganz regungslos und erstarrt stehen, dann sah ich Mattia an, dessen Augen voll Thränen standen.

Ich winkte ihm, und wir gingen wieder hinaus. Lange, lange wandelten wir Hand in Hand ziellos weiter, ohne ein Wort zu reden.

»Wohin gehen wir denn eigentlich?« fragte Mattia endlich besorgt.

»Ich weiß nicht – irgendwohin, wo wir miteinander sprechen können; ich habe dir etwas zu sagen, aber unter dieser Menschenmenge kann ich's nicht.«

Während meiner Wanderjahre hatte ich mir unter dem Einfluß von Vitalis tatsächlich angewöhnt, nie etwas Wichtiges zu sagen, während wir uns in den Straßen eines Dorfes oder einer Stadt befanden, und heute hatte ich mit Mattia ernste Dinge zu besprechen.

Endlich kamen wir in eine breitere Straße und ich glaubte, an ihrem Ende Bäume zu sehen – vielleicht kamen wir dort aufs Land. Dies war zwar nicht der Fall, aber immerhin war es ein riesiger Park mit großen Wiesen und Gruppen junger Bäume. Hier konnten wir miteinander reden; mein Entschluß war längst gefaßt und ich wußte, was ich zu sagen hatte: »Du weißt, wie lieb ich dich habe, Mattia,« begann ich, sobald wir uns an einem abgelegenen, geschützten Plätzchen niedergelassen hatten, »und du weißt auch, daß ich dich nur aus Freundschaft gebeten habe, mich zu meinen Eltern zu begleiten. Du zweifelst also nicht an meiner Freundschaft, was immer ich auch von dir verlangen mag?«

»Wie dumm du bist,« erwiderte er mit erzwungenem Lächeln.

»Du möchtest lachen, damit ich mich nicht betrübe, aber es thut nichts, wenn ich traurig bin. Bei wem sollte ich denn weinen, wenn nicht bei dir?«

Damit warf ich mich in Mattias Arme und brach in Thränen aus; nie hatte ich mich so unglücklich und elend gefühlt, als ich noch mutterseelenallein in der weiten Welt draußen stand.

Nachdem ich eine Weile geschluchzt hatte, suchte ich mich zu beruhigen, denn nicht um zu klagen, nicht um meinet-, sondern um seinetwillen hatte ich Mattia in den Park geführt.

»Mattia,« sagte ich, »du mußt fort, du mußt nach Frankreich zurückkehren.«

»Dich verlassen! Niemals!«

»Ich habe zum voraus gewußt, daß du mir dies antworten würdest, und ich bin glücklich, sehr glücklich darüber, daß du nicht von mir fortgehen willst, aber dennoch mußt du mich verlassen und nach Frankreich, nach Italien oder sonstwohin gehen – nur in England darfst du nicht bleiben!«

»Und du, wo willst du denn hingehen?«

»Ich? Nun, ich muß natürlich hier in London bei meiner Familie bleiben! Ist es denn nicht meine Pflicht, bei meinen Eltern zu leben? Nimm, was wir noch an Geld übrig behalten haben, und reise ab.«

»Sag' das nicht, Remi, denn wenn einer von uns beiden von hier fort muß, so bist du's.«

»Warum?«

»Weil ...«

Er vollendete seinen Satz nicht und wich meinen fragenden Blicken aus.

»Mattia, antworte mir offen und rückhaltlos, ohne Schonung für mich und ohne Angst, mich zu verletzen! Gelt, du hast heut' nacht nicht geschlafen, du hast's gesehen?«

Mit niedergeschlagenen Augen und erstickter Stimme sagte er: »Ich habe nicht geschlafen.«

»Was hast du gesehen?«

Alles.«

»Und wie hast du dir's erklärt?«

»Die die Waren verkauften, haben sie nicht gekauft. Dein Vater schalt sie, daß sie an die Wagenschuppen und nicht an die Hausthür klopften, und sie erwiderten darauf, die Polizei beobachte sie.«

»Du siehst also, daß du durchaus fort mußt.«

»Wenn ich fort muß, mußt du auch fort; das ist für den einen so zweckmäßig als für den andern.«

»Als ich dich bat, mich zu begleiten, glaubte ich nach dem, was mir Mutter Barberin gesagt hatte, meine Familie könne uns beide unterrichten lassen und werde uns nicht trennen: aber nun liegt die Sache anders; mein Traum war eben nur ein Traum, und nun müssen wir uns trennen.«

»Niemals!«

»Hör' mich an, versteh' mich recht und mache mich nicht noch unglücklicher! Wenn wir in Paris Garofoli begegnet wären, und er hätte dich wieder mitgenommen, so würdest du nicht gewollt haben, daß ich bei dir bleibe, sondern hättest zu mir gesagt, was ich jetzt zu dir sage.«

Er erwiderte nichts.

»Ist's nicht so? Sag', ob das nicht wahr ist!«

Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, sagte er: »Nun höre du auch mich an. Als du mir in Chavanon erzähltest, deine Familie lasse dich suchen, war ich tief betrübt; statt mich mit dir zu freuen, daß du deine Eltern wieder finden solltest, war ich im Gegenteil böse darüber. Statt an dein Glück zu denken, dachte ich nur an mich. Ich sagte mir, du würdest nun reiche, wohlerzogene, unterrichtete Geschwister bekommen und diese so lieb oder lieber haben als mich, und deshalb wurde ich eifersüchtig. Das ist die Wahrheit, und die mußt du wissen, damit du mir, wenn du kannst, diese schlechten Gefühle verzeihst.«

»O Mattia!«

»Sag' mir, daß du mir verzeihst!«

»Von ganzem Herzen; ich habe deinen Kummer wohl gesehen und bin dir nie böse darüber gewesen.«

»Weil du viel zu gut, weil du dummgutmütig bist! Du weißt aber noch nicht alles! Paß auf! Ich nahm mir vor, mit dir nach England zu gehen, um zu sehen, wie dir's gehe; wenn du aber glücklich, sehr glücklich gewesen wärest und keine Zeit mehr gehabt hättest, an mich zu denken, so hätte ich mich ohne Aufenthalt nach Lucca auf den Weg gemacht, um Christina endlich wieder einmal ans Herz zu drücken. Aber statt reich und glücklich zu sein, wie wir es geglaubt hatten, bist du nicht reich und ... das heißt, es ist eben anders gekommen, als wir gedacht haben. Deshalb kann ich nicht abreisen, sondern muß statt meiner kleinen Schwester meinen Kameraden, meinen Freund und Bruder, meinen Remi ans Herz drücken.«

Mit diesen Worten nahm er meine Hand und küßte und streichelte sie – wieder füllten sich meine Augen mit Thränen, aber diese waren nicht mehr so bitter und brennend als die, die ich eben vergossen hatte.

So groß aber auch meine Rührung war, so gab ich doch meinen Vorsatz nicht auf.

»Du mußt doch fort, du mußt nach Frankreich zurück und Lieschen, Vater Acquin, Mutter Barberin und alle meine Freunde aufsuchen und ihnen sagen, warum ich nicht für sie thun kann, was ich mir so schön ausgedacht hatte. Du mußt ihnen erklären, daß meine Eltern nicht reich sind, wie wir geglaubt hatten, und damit werden sie mich schon entschuldigen. Nicht wahr, du verstehst mich: sie sind nicht reich – das erklärt alles, und nicht reich sein, ist keine Schande.«

»Nicht weil sie nicht reich sind, willst du, daß ich fortgehe, und ich werde auch nicht gehen.«

»Mattia, ich bitte dich, mache mein Leid nicht noch herber – du siehst ja, daß es schon groß genug ist!«

»O, ich will dich nicht nötigen, etwas auszusprechen, dessen du dich schämst. Ich bin nicht schlau und nicht gescheit, aber was in meinen harten Kopf nicht hinein will, das fühle ich doch hier im Herzen. Nicht weil deine Eltern arm sind, willst du, daß ich gehe – auch nicht, weil du fürchtest, sie könnten mich nicht ernähren, denn ich würde ihnen nicht zur Last fallen, sondern für sie arbeiten; ich soll gehen, weil ... weil ... nach dem, was du heute nacht mit ansehen mußtest ... hast du Angst für mich.«

»Mattia, sag' das nicht!«

»Du hast Angst, ich könne auch noch so weit kommen, Etiketten von Waren abzuschneiden, die ... die nicht gekauft worden sind.«

»Sei still, lieber Mattia, o sei still!«

Damit verbarg ich mein schamrotes Gesicht in meinen Händen.

»Nun, und so gut du für mich Angst hast,« fuhr Mattia fort, »ebensogut kann ich für dich Angst haben, und deshalb sag' ich: ›Wir wollen miteinander fort, wir wollen nach Frankreich zu Mutter Barberin, zu Lieschen und den andern zurückkehren!‹«

»Unmöglich! Dir sind meine Eltern nichts, du hast keine Pflichten gegen sie, aber ich muß bei ihnen bleiben, denn sie sind meine Eltern.«

»Deine Eltern! Dieser lahme, alte Kerl dein Großvater! Diese betrunkene Frau deine Mutter!«

Rasch sprang ich auf und rief in befehlendem, nicht mehr in bittendem Ton: »Schweig, Mattia! Sprich nicht so – ich verbiete dir's! Du sprichst von meinem Großvater und meiner Mutter, die ich ehren und lieben muß!«

»Gewiß, das müßtest du, wenn sie wirklich dein Großvater und deine Eltern wären; aber mußt du sie auch lieben und ehren, wenn sie das nicht sind?«

»Du hast also die Erzählung meines Vaters nicht gehört?«

»Was beweist diese Erzählung? Sie haben ein Kind in deinem Alter verloren, sie haben Nachforschungen anstellen lassen und ein Kind in dem Alter des verlorenen wiedergefunden – das ist alles!«

»Du vergißt, daß das ihnen gestohlene Kind in der Avenue Breteuil ausgesetzt worden ist am nämlichen Tag, an dem ich dort gefunden worden bin.«

»Warum können nicht auch zwei Kinder am nämlichen Tag in der Avenue Breteuil ausgesetzt worden sein? Warum sollte sich der Polizeikommissar nicht getäuscht haben, als er Driscoll nach Chavanon schickte? Das ist wohl möglich!«

»Das ist einfach abgeschmackt.«

»Mag sein, aber nur, weil ich dumm bin und es ungeschickt erkläre; jemand anders würde es besser erklären, und dann wäre es ganz vernünftig. Nur ich bin abgeschmackt – daran liegt's.«

»Ach nein, daran liegt's nicht.«

»Uebrigens muß es dir doch auch selbst auffallen, daß du weder deinem Vater, noch deiner Mutter gleichst und keine blonden Haare hast wie deine sämtlichen Geschwister; warum solltest du allein anders geworden sein? Außerdem ist noch ein andrer Umstand sehr auffallend: wie konnten Leute, die nicht reich sind, so viel Geld ausgeben, um ein verlorenes Kind wieder aufzufinden? Aus all diesen Gründen behaupte ich, daß du kein Driscoll bist; ich weiß, daß ich dumm bin, man hat mir's immer gesagt, aber da ist nur mein Kopf dran schuld. Du bist ganz entschieden kein Driscoll und sollst nicht bei den Driscolls bleiben; thust du's trotzdem, so bleibe ich mit dir, aber dann mußt du an Mutter Barberin schreiben, daß sie uns genau mitteilt, wie dein Kindszeug beschaffen war. Wenn du dann ihre Antwort hast, fragst du den, den du deinen Vater nennst, und dann sehen wir vielleicht ein wenig heller. Bis dahin rühr' ich mich nicht von der Stelle und bleibe trotz alledem und alledem bei dir. Müssen wir arbeiten, so arbeiten wir miteinander.«

»Aber wenn man eines Tags auf Mattias Kopf hineinprügelte?«

»Das wäre auch nicht das ärgste,« entgegnete er mit trübem Lächeln, »thun denn Schläge weh, die man für seinen Freund bekommt?«


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