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Drittes Kapitel.
Die Truppe des Signor Vitalis

Vermutlich hatte ich die ganze Nacht unter dem Eindruck des Kummers und der Angst geschlafen, denn als ich des Morgens erwachte, war es mein erstes, daß ich mein Bett betastete und mich umsah, um mich zu überzeugen, daß man mich nicht fortgetragen hatte.

Der ganze Vormittag verging, ohne daß Barberin etwas zu mir gesagt hätte, und ich hoffte schon, daß mein Pflegevater den Gedanken, mich ins Findelhaus zu bringen, aufgegeben habe. Jedenfalls hatte Mutter Barberin mit ihm gesprochen und ihn bestimmt, mich zu behalten.

Aber als es zwölf Uhr schlug, hieß mich Barberin meine Mütze nehmen und mit ihm gehen.

Erschrocken richtete ich meine Blicke auf Mutter Barberin, um sie um Hilfe anzuflehen; sie gab mir verstohlen ein Zeichen, das mich gehorchen hieß, und versicherte mich gleichzeitig durch eine Handbewegung, daß nichts zu fürchten sei.

Dann machte ich mich ohne Widerrede hinter Barberin drein auf den Weg.

Die Entfernung von unsrem Haus nach dem Dorf ist weit: man hat gut eine Stunde zu gehen. Diese Stunde verfloß, ohne daß er ein einziges Wort mit mir sprach. Langsam, hinkend, ohne den Kopf bewegen zu können, schritt er voran und von Zeit zu Zeit drehte er sich ganz um, um zu sehen, ob ich ihm gewiß folge.

Wohin führte er mich?

Trotz des beruhigenden Zeichens, das mir Mutter Barberin gegeben hatte, ängstigte mich diese Frage, und um mich einer Gefahr zu entziehen, die ich ahnte, ohne sie zu kennen, dachte ich daran, zu entfliehen.

In dieser Absicht suchte ich zurückzubleiben; war ich dann weit genug entfernt, so wollte ich mich in einen Graben werfen, und er konnte mir nicht nachkommen.

Anfangs hieß er mich nur ihm auf den Fersen folgen, aber bald mußte er wohl meine Absicht erraten, denn er ergriff mich am Handgelenk, und nun blieb mir nichts mehr übrig, als mit ihm zu gehen.

So kamen wir ins Dorf, und alle Leute sahen uns nach, denn ich machte ein Gesicht wie ein bissiger Hund, den man an der Leine führt.

Als wir am Kaffeehaus vorübergingen, rief ein Mann, der unter der Thüre stand, Barberin an und forderte ihn auf, einzutreten.

Dieser nahm mich am Ohr, ließ mich vor ihm eintreten und machte dann die Thüre hinter uns zu.

Mir wurde es leichter zu Mut, denn das Kaffeehaus schien mir kein sehr gefährlicher Ort zu sein, und dann war es eben auch »das Café«, dessen Schwelle ich schon lange einmal zu überschreiten gewünscht hatte.

Das Café, das Café des Wirtshauses von Notre-Dame! Was mochte das wohl sein?

Ich hatte gesehen, daß Leute mit erhitzten Gesichtern und wackeligen Beinen herausgekommen waren, und im Vorübergehen drinnen oft Singen und Lärmen gehört, daß die Fenster klirrten.

Was that man da drinnen? Was ging hinter den roten Gardinen vor?

Nun sollte ich es erfahren!

Während sich Barberin mit dem Wirt, der ihn aufgefordert hatte, hereinzukommen, an einem Tisch Platz nahm, setzte ich mich neben das Kamin und sah mich um.

In der Ecke mir gegenüber saß ein großer, alter Mann mit weißem Bart in einem ganz sonderbaren Kostüm, wie ich noch nie eines gesehen hatte.

Auf seinen Haaren, die in langen Strähnen über die Schultern hinabfielen, saß ein mit grünen Federn geschmückter, hoher, grauer Filzhut. Ein Schafsfell, die wollige Seite nach innen gedreht, war um die Lenden gegürtet. Dies Fell hatte keine Aermel, und die mit ehemals blauem Samt bedeckten Arme kamen aus zwei Löchern an den Schultern heraus. Große wollene Gamaschen reichten bis an die Kniee herauf und wurden durch mehrfach um die Beine gewundene rote Bänder festgehalten.

Das Kinn in die Hand gestützt, die Beine weit ausgestreckt, so saß er unbeweglich auf seinem Stuhl.

Noch nie hatte ich einen lebendigen Menschen in einer so ruhigen Haltung gesehen; er erinnerte an einen der aus Holz geschnitzten Heiligen in unsrer Kirche.

Unter seinem Stuhl saßen drei Hunde aneinander gedrängt und wärmten sich, ohne sich zu rühren. Ein weißer und ein schwarzer Pudel, sowie eine graue Hündin mit schlauem, aber sanftem Gesicht. Der weiße Pudel hatte einen alten, mit einem schmalen Lederriemen unter dem Kinn befestigten Zweispitz auf dem Kopf.

Während ich den Greis verblüfft und verwundert betrachtete, sprachen Barberin und der Besitzer des Kaffeehauses leise miteinander, und ich hörte, daß von mir die Rede war.

Barberin erzählte, er sei ins Dorf gekommen, um mich zum Schulzen zu führen, damit dieser vom Findelhaus die Bezahlung eines Kostgeldes für mich verlange, dann wolle er mich behalten.

Also das war's, was Mutter Barberin von ihrem Manne hatte erlangen können, und ich begriff sofort, daß ich nichts mehr zu fürchten haben würde, falls Barberin seinen Vorteil dabei fand, mich zu behalten.

Ohne sich den Anschein zu geben, als hörte er zu, hatte der alte Mann auch vernommen, was sie sprachen; plötzlich streckte er seine rechte Hand nach mir aus und wandte sich an Barberin: »Dies Kind ist Ihnen im Weg?« fragte er mit fremdländischer Aussprache.

»Jawohl.«

»Und Sie glauben, daß Sie die Bezahlung eines Kostgeldes erlangen können?«

»Potztausend, da er keine Eltern hat und mir zur Last fällt, wird doch wohl irgend jemand für ihn bezahlen müssen; es scheint mir, das wäre nur in der Ordnung.«

»Das bestreite ich nicht, aber glauben Sie, daß alles geschieht, was in der Ordnung ist?«

»Ganz gewiß nicht.«

»Nun und ich bin überzeugt, daß Sie nun und nimmer ein Kostgeld herausschlagen werden!«

»Dann wandert er ins Findelhaus; es gibt kein Gesetz, das uns zwingen kann, ihn in meinem Haus zu behalten, wenn ich ihn nicht mehr will.«

»Sie haben einstens eingewilligt, ihn zu nehmen, und sich damit verpflichtet, ihn zu behalten.«

»Nun, und ich behalte ihn eben nicht! Und wenn ich ihn auf die Straße werfen muß – ich will ihn schon loswerden!«

»Vielleicht gäbe es ein Mittel, ihn sofort los zu werden und dabei noch etwas zu verdienen,« sagte der Greis nach einem Augenblick des Nachdenkens.

»Wenn Sie mir die Mittel an die Hand geben, zahle ich sofort eine Flasche Wein und das herzlich gern.«

»Bestellen Sie den Wein, und Ihre Sache ist erledigt.«

»Gewiß?«

»Ganz gewiß!«

Der alte Mann stand von seinem Stuhl auf und setzte sich Barberin gegenüber. Da geschah etwas Sonderbares: in dem Augenblick, in dem er aufstand, wurde das Schaffell durch eine mir unerklärliche Bewegung in die Höhe gehoben, etwa wie wenn er einen Hund unter dem linken Arm getragen hätte. In qualvoller Aufregung war ich jeder seiner Bewegungen gefolgt.

»Nicht wahr, Sie wollen, daß dieser Junge nicht länger Ihr Brot esse, oder wenn er das thut, daß man es Ihnen wenigstens bezahle?«

»Ganz richtig, weil ...«

»O, der Grund geht mich nichts an und ich brauche ihn nicht zu erfahren. Es genügt mir, zu wissen, ob Sie das Kind loswerden wollen. Ist dies der Fall, so geben Sie mir's, ich will für es sorgen.«

»Es Ihnen geben!«

»Nun, Sie wollten's doch los sein!«

»Ihnen einen solchen Jungen einfach geben, einen so schönen Jungen! Sehen Sie ihn doch nur einmal an!«

»Ich habe ihn angesehen.«

»Remi, komm her!«

Zitternd näherte ich mich dem Tisch.

»Komm, hab keine Angst, Kleiner,« sagte der Greis.

»Sehen Sie ihn an,« fuhr Barberin fort.

»Ich sage nicht, er sei ein häßliches Kind, wenn er dies wäre, so wollte ich ihn gar nicht, denn die Ungeheuer sind nicht meine Sache.«

»Ach, wenn er eine Mißgeburt mit zwei Köpfen oder wenigstens ein Zwerg wäre ...«

»So würden Sie nicht davon reden, ihn ins Findelhaus zu schicken, denn Sie wissen, daß ein Monstrum seinen Wert hat, und daß man Gewinn aus ihm ziehen kann, sei es nun, daß man es vermietet oder selbst ausbeutet. Der Knabe hier ist aber weder ein Zwerg noch eine Mißgeburt, und weil er gebaut ist wie alle andern Leute auch, ist er zu nichts zu gebrauchen.«

»Er ist zur Arbeit zu gebrauchen!«

»Er ist sehr schwach.«

»Er und schwach! So etwas! Er ist stark wie ein Mann und kräftig und gesund. Sehen Sie nur seine Beine an! Haben Sie je geradere Beine gesehen?«

Dabei schob Barberin mein Beinkleid in die Höhe.

»Zu mager,« sagte der Greis.

»Und seine Arme?«

»Die Arme sind wie die Beine: sie thun's schon, aber gegen Uebermüdung und Elend hat er keine Widerstandskraft.«

»Keine Widerstandskraft! Aber so befühlen Sie ihn doch nur! Fühlen Sie selbst!«

Der alte Mann fuhr tastend mit seiner fleischlosen Hand über meine Beine, schüttelte dabei unbefriedigt den Kopf und verzog geringschätzig den Mund. Schon einmal hatte ich einem derartigen Auftritt beigewohnt, als der Viehhändler gekommen war, um unsre Kuh zu kaufen. Auch er hatte sie befühlt und betastet; auch er hatte unbefriedigt den Kopf geschüttelt und geringschätzig den Mund verzogen: es sei keine gute Kuh und er könne sie nicht wieder verkaufen, und doch hatte er sie gekauft und dann fortgeführt.

Am Ende würde der alte Mann mich auch kaufen und fortführen. Ach, Mutter Barberin, Mutter Barberin!

Unglücklicherweise war sie nicht da, um mich zu verteidigen.

Wenn ich es gewagt hätte, würde ich gerne erzählt haben, daß am Abend zuvor Barberin mir gerade vorgeworfen hatte, ich sei zu zart und habe keine brauchbaren Arme und Beine; aber ich sah ein, daß diese Unterbrechung gar nichts nützen und mir nur einen gehörigen Puff zuziehen würde, und so schwieg ich.

»In Wahrheit ist er ein Kind wie viele andre auch,« sagte der Greis, »aber er ist ein Stadtkind, und deshalb steht es fest, daß er in der Feldarbeit nie etwas leisten wird. Stellen Sie ihn nur einmal an den Pflug und lassen Sie ihn die Ochsen treiben, dann werden Sie schon sehen, wie lange er's aushält.«

»Zehn Jahre.«

»Nicht einen Monat.«

»Aber, so sehen Sie ihn doch nur an!«

Ich stand am Ende des Tisches zwischen Barberin und dem Greis und wurde von dem einen hierhin, von dem andern wieder dorthin geschoben.

»Nun,« sagte der Greis, »ich nehme ihn, so wie er ist. Aber wohl verstanden, ich kaufe ihn Ihnen nicht ab, ich miete ihn nur und gebe Ihnen jährlich zwanzig Franken für ihn.«

»Zwanzig Franken!«

»Das ist ein guter Preis und ich zahle im voraus; Sie streichen vier gute Hundertsousstücke ein und haben das Kind los.«

»Aber wenn ich ihn behalte, zahlt mir das Findelhaus mehr als zehn Franken monatlich.«

»Sagen Sie sieben oder acht – ich kenne die Preise –, aber dann müssen Sie ihn doch auch ernähren!«

»Er wird arbeiten.«

»Wenn Sie ihn für tüchtig zur Arbeit hielten, wollten Sie ihn gar nicht fortschicken. Man nimmt die Kinder aus den Findelhäusern nicht um des Kostgeldes, sondern um der Arbeit willen; man verwendet sie als Dienstboten, denen man keinen Lohn zahlt. Kurzum, wenn der hier im stande wäre, Ihnen Dienste zu leisten, würden Sie ihn behalten.«

»Jedenfalls hätte ich die zehn Franken.«

»Und wenn das Findelhaus ihn nicht bei Ihnen läßt, sondern ihn einem andern gibt, so haben Sie gar nichts, während Sie bei mir nichts zu riskieren und nur die Hand auszustrecken brauchen.«

Er kramte in seiner Tasche und zog einen Lederbeutel hervor, woraus er vier Silberstücke nahm, die er klimpernd auf den Tisch warf.

»Bedenken Sie doch, daß der Junge eines schönen Tages wieder Eltern haben kann!«

»Was thut das?«

»Das wirft Nutzen ab für den, der ihn aufgezogen hat; wenn ich nicht darauf gerechnet hätte, würde ich mich nie mit ihm geplagt haben.«

Diese Worte Barberins machten mir ihn noch verächtlicher. Welch böser Mensch!

»Und weil Sie auf seine Eltern rechnen, setzen Sie ihn vor die Thür. An wen werden sich übrigens diese Eltern wenden, wenn sie überhaupt jemals zum Vorschein kommen sollten? An Sie, nicht wahr, und nicht an mich, den sie gar nicht kennen?«

»Und wenn Sie die Eltern auffinden?«

»Dann teilen wir uns in den Nutzen. Ihnen aber zahle ich dreißig Franken Miete.«

»Sagen Sie vierzig!«

»Nein, für die Dienste, die er mir leisten wird, kann ich das nicht geben.«

»Und was für Dienste soll er Ihnen leisten? Er hat ja gute Arme und Beine – ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe – aber immerhin wäre ich neugierig zu hören, zu was Sie ihn für tauglich halten.«

Der Greis blickte Barberin mit schlauer Miene an und leerte sein Glas in kleinen Zügen.

»Mir Gesellschaft zu leisten,« sagte er, »ich werde alt und nach einem anstrengenden Tag oder bei schlechtem Wetter komme ich leicht auf trübe Gedanken, die er mir zerstreuen soll.«

»Dazu sind seine Beine jedenfalls stark genug.«

»Aber nicht zu stark, denn er muß tanzen und springen und dann marschieren und dann wieder springen; kurzum, er wird in die Truppe des Signor Vitalis eintreten.«

»Und wo ist diese Truppe?«

»Wie Sie sich wohl denken werden, bin ich der Signor Vitalis, und die Truppe werde ich Ihnen vorführen, da Sie deren Bekanntschaft zu machen wünschen.«

Damit öffnete er sein Schaffell und nahm ein sonderbares Tier, das er unter dem linken Arm, an seiner Brust getragen hatte, in die Hand.

Es war dies Tier gewesen, das mehreremal das Schaffell bewegt hatte, allein es war kein kleiner Hund, wie ich geglaubt hatte.

Ich wußte nicht, was dies für ein sonderbares Geschöpf war, das ich zum erstenmal in meinem Leben sah und ganz verblüfft betrachtete.

Es war mit einer roten, goldbetreßten Blouse bekleidet, aber Arme und Beine waren nackt – es waren nämlich wirkliche Arme und Beine und keineswegs Pfoten – nur waren diese Arme und Beine mit einer schwarzen, statt mit einer weißen oder fleischfarbenen Haut bedeckt.

Auch der dicke, beinahe faustgroße Kopf war schwarz, das Gesicht kurz und breit, die Nase aufgestülpt mit erweiterten Nüstern und die Lippen gelb; was mir aber noch mehr Eindruck machte als alles andre, das waren die nahe zusammenstehenden, außerordentlich beweglichen, funkelnden Augen.

»Ach, welch häßlicher Affe!« rief Barberin.

Dies Wort löste mir das Rätsel, denn wenn ich auch noch nie einen Affen gesehen hatte, so hatte ich doch davon sprechen hören. Ich sah also kein schwarzes Kind, sondern einen Affen vor mir.

»Das ist der erste Künstler meiner Truppe,« sagte Vitalis, »das ist Herr Herzblatt! Herzblatt, mein Freund, begrüßen Sie die Gesellschaft!«

Herzblatt führte seine geballte Faust an die Lippen und warf uns allen eine Kußhand zu.

»Nun zu einem andern,« fuhr Vitalis fort und streckte seine Hand nach dem weißen Pudel aus. »Der Signor Capi wird die Ehre haben, seine Freunde der hier anwesenden ehrenwerten Gesellschaft vorzustellen.«

Bei diesem Befehl erhob sich der weiße Pudel, der bis dahin nicht die geringste Bewegung gemacht hatte, rasch, richtete sich auf den Hinterfüßen auf, kreuzte seine Vorderfüße über der Brust und verbeugte sich dann so tief vor seinem Herrn, daß sein Zweispitz den Boden berührte.

Nachdem diese Pflicht der Höflichkeit erfüllt war, wandte er sich seinen Kameraden zu und winkte ihnen mit der einen Pfote, näher zu kommen, während er die andre noch immer an die Brust drückte.

Die beiden andern Hunde hielten ihre Augen fest auf ihren Kameraden gerichtet, reichten einander eine Vorderpfote, wie man sich in Gesellschaft bei der Hand faßt, machten feierlich sechs Schritte vorwärts und drei zurück und verbeugten sich vor der Gesellschaft.

»Der, den ich Capi nenne – eine Abkürzung des italienischen › Capitano‹,« fuhr Vitalis fort, ist der Anführer der Hunde, der als der klügste den andern meine Befehle übermittelt. Dieser junge Stutzer mit dem glänzend schwarzen Fell ist der Signor Zerbino, was der Galante bedeutet – eine Bezeichnung, die er in jeder Beziehung verdient. Diese junge, bescheiden aussehende Person ist die Signora Dolce, eine reizende Engländerin, die ihren ›sanften‹ Namen nicht gestohlen hat. Mit diesen aus verschiedenen Gründen merkwürdigen Personen ziehe ich durch die Welt und verdiene mir meinen Lebensunterhalt, so gut es eben geht. Capi!«

Der weiße Pudel kreuzte die Vorderpfoten über der Brust.

»Kommen Sie hierher, Freund Capi, und haben Sie die Güte – es sind wohlerzogene Persönlichkeiten, mit denen ich immer höflich spreche – haben Sie die Güte, dem kleinen Buben, der Sie mit so großen Augen ansieht, zu sagen, wieviel Uhr es ist.«

Capi ließ die Pfoten sinken, näherte sich seinem Herrn, schob das Schaffell auseinander, stöberte in der Westentasche herum, zog eine große silberne Uhr hervor, betrachtete das Zifferblatt und bellte zweimal laut; nach diesem zweimaligen, mit heller, lauter Stimme ausgestoßenen Bellen ließ er ein dreimaliges, schwächeres Bellen vernehmen.

Es war in der That dreiviertel nach zwei.

»Gut,« sagte Vitalis, »ich danke Ihnen, Signor Capi, und jetzt bitte ich Sie, Signora Dolce aufzufordern, sie möge uns das Vergnügen machen, sie ein wenig Seil springen zu sehen.«

Sofort suchte Capi aus der Rocktasche seines Herrn ein Seil hervor, darauf winkte er Zerbino, und dieser stellte sich ihm gegenüber auf. Nun warf ihm Capi ein Ende des Seiles zu und alle beide fingen an, es feierlich zu schwingen.

Sobald die Schwingungen des Seiles gleichmäßig wurden, sprang Dolce in den Kreis und fing an, leicht zu hüpfen, wobei sie ihre schönen Augen fest auf die ihres Herrn gerichtet hielt.

»Sie sehen,« sagte dieser, »wie klug meine Zöglinge sind, aber der Verstand kommt nur durch den Vergleich zu seiner vollen Geltung. Deshalb miete ich diesen Jungen für meine Truppe, er soll den Dummkopf spielen, damit der Geist meiner Zöglinge um so mehr anerkannt wird.«

»O, um den Dummkopf zu spielen,« unterbrach ihn Barberin.

»Dazu muß man Verstand haben,« fuhr Vitalis fort, »und ich glaube, daß es dem Kleinen nach ein paar Unterrichtsstunden daran nicht fehlen wird. Das wird sich übrigens finden, und zum Anfang werden wir ja gleich eine Probe machen können. Wenn er klug ist, wird er begreifen, daß er mit Signor Vitalis die Aussicht hat, Frankreich und ein Dutzend andere Länder zu durchstreifen und ein freies Leben zu führen, statt hinter den Ochsen drein, Tag um Tag, von morgens bis abends, das nämliche Feld abzutreten. Ist er dagegen nicht verständig, so wird er anfangen zu weinen und zu schreien, und da Signor Vitalis unartige Kinder nicht leiden kann, so wird ihn dieser nicht mitnehmen. Dann wird der böse Junge ins Findelhaus wandern, wo es viel zu arbeiten, aber wenig zu essen gibt.«

Wohl war ich klug genug, um diese Worte zu verstehen, aber zwischen Verständnis und Ausführung ist noch eine große Kluft.

Gewiß waren die Zöglinge des Signor Vitalis sehr komisch und stets unterhaltend, und es mußte auch sehr lustig sein, immer spazieren zu gehen; aber um ihnen zu folgen und mit ihnen spazieren zu gehen, mußte ich Mutter Barberin verlassen.

Auf der andern Seite war es allerdings auch wahr, daß ich doch nicht bei Mutter Barberin bleiben durfte, sondern ins Findelhaus geschickt würde.

Da ich verwirrt, mit Thränen in den Augen dastand, klopfte mich Signor Vitalis mit der Fingerspitze sanft auf die Wange.

»Da das Kind nicht weint,« sagte er, »so behält sicher die Vernunft Recht in dem kleinen Kopf, und morgen ...«

»Ach, Herr,« rief ich, »lassen Sie mich bei Mama Barberin, ich bitte Sie darum!«

Aber ehe ich weiter reden konnte, wurde ich durch ein schreckliches Bellen Capis unterbrochen.

Gleichzeitig stürzte der Hund auf den Tisch zu, auf dem Herzblatt allein sitzen geblieben war.

Dieser hatte sich den Augenblick zu nutze gemacht, in dem alle mit mir beschäftigt waren, in aller Stille das mit Wein gefüllte Glas seines Herrn an sich genommen, und war nun im Begriff, es zu leeren. Aber Capi, der gute Aufsicht führte, hatte diese Spitzbüberei entdeckt und wollte nun, als treuer Diener seines Herrn, ihre Ausführung verhindern.

»Herr Herzblatt,« sagte Vitalis mit strenger Stimme, »Sie sind ein Leckermaul und ein Spitzbube, stellen Sie sich dort mit dem Gesicht nach der Wand in die Ecke, und Sie, Zerbino, stehen Wache bei ihm; sobald er sich rührt, geben Sie ihm einen tüchtigen Klaps. Sie dagegen, Herr Capi, sind ein guter Hund, reichen Sie mir die Pfote, ich will sie Ihnen schütteln!«

Während der Affe ein kurzes, unterdrücktes Weinen hören ließ und gehorchte, reichte der Hund, glücklich und stolz, seinem Herrn die Pfote.

»Jetzt,« fuhr Vitalis fort, »wollen wir aber auf unser Gespräch zurückkommen. Ich gebe Ihnen also dreißig Franken.«

»Nein, vierzig.«

Ein Streit entspann sich, aber bald unterbrach ihn Vitalis mit den Worten: »Es wird dem Jungen hier langweilig sein, er soll in den Hof gehen und spielen.«

Dabei machte er Barberin ein Zeichen.

»Ja,« sagte dieser, »das ist recht, geh in den Hof, aber muckse dich nicht von der Stelle, ehe ich dich rufe, sonst werde ich böse!«

Es blieb mir nichts übrig, als zu gehorchen.

Ich ging in den Hof, aber es war mir nicht nach Spielen zu Sinn. Ich setzte mich auf einen Stein und überlegte.

In diesem Augenblick wurde mein Geschick entschieden. Wie würde es sich gestalten? Ich klapperte mit den Zähnen vor Kälte und Angst.

Die Verhandlung zwischen Vitalis und Barberin dauerte lange, denn es verging mehr als eine Stunde, ehe der letztere in den Hof trat. Endlich erschien er: er war allein. Wollte er mich holen, um mich Vitalis zu überliefern?

»Vorwärts! Nach Hause!« sagte er zu mir.

Nach Hause! Also würde ich Mutter Barberin nicht zu verlassen brauchen?

Ich hätte ihn gern gefragt, aber ich wagte es nicht, denn er schien sehr schlechter Laune zu sein.

Schweigend wurde der Weg zurückgelegt, und erst etwa zehn Minuten vor unserem Ziel blieb Barberin, der vorausging, stehen, packte mich derb am Ohr und sagte: »Laß dir gesagt sein, daß du mir jedes Wort, das du von dem, was du heute gehört hast, erzählst, teuer bezahlen wirst! Also, nimm dich in acht!«


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