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Fünfzehntes Kapitel

Außer der Schwadron, der der Verstorbene angehörte, wurde niemand zu dieser Beerdigung eigens eingeladen, und doch strömte eine Menge von Leuten von allen Seiten herbei. Leute jeden Standes warteten entlang des ganzen Weges, der vom Gasthaus bis zur Friedhofkirche führte. Und zwar waren es mehr Frauen als Männer. Und hatte ihnen auch niemand gesagt, worum sie klagen müßten, so wußten sie es doch von selber, wer hier zu betrauern war, und beweinten das untergegangene junge Leben, das sich selber »aus Edelmut« ein Ende gemacht hatte. Ja freilich, ich benutze genau das Wort, das damals alle aussprachen:

»Aus Edelmut ist er, das Täubchen, gestorben!«

»Um seiner Liebsten willen hat er sein Leben nicht geschont!«

Da konnte man manch ein dummes Weibchen aus der Vorstadt schauen, das dort stand und jammerte:

»Oh du mein lichter Falke … hast dein Leben geopfert aus Edelmut …«

Und wohin man sich auch wandte, alle stammelten etwas der Art, etwas unendlich Warmes und Vertrauliches. Und redeten den Toten immer mit Du an und so zärtlich als nur immer möglich, – ganz so, als umarmten sie ihn recht von Herzen.

»Du liebes Püppchen! … du junges, du edelmütiges!«

»Du mein gefühlvolles Engelchen! … wer hätte dich nicht lieben müssen!«

Und immer das gleiche … Adelige Damen, Kaufmannsfrauen, die Ehegattinnen der Geistlichen, Bürgerinnen, Stubenmädchen und Zigeunerinnen aus den Zigeunerchören, – und zwar diese letzteren ganz besonders als Professorinnen und Priesterinnen des tragischen Stiles in der Liebe, – alle stammelten sie mit bebenden Lippen warme Worte und alle beweinten ihn wie den besten Freund, wie den eigenen Geliebten, den man zum letzten Male in den Armen hält und ans Herz schmiegt.

Und doch waren das nicht irgendwelche besondere Frauen, keine einzige von ihnen kannte Sascha und vielleicht hatte keine einzige ihn auch nur einmal gesehen und leicht möglich, daß nicht eine aus der ganzen Schar ihn je im Leben liebgewonnen hätte, wenn sie ihn mit all dem, was in ihm war, mit all seinen guten und bösen Eigenschaften kennengelernt hätte. Jetzt aber, da er »aus Edelmut und dem geliebten Herzen zuliebe«, gestorben war, jetzt gab es kein Besinnen, gab es keine Überlegung mehr, die stark genug gewesen wäre, die Gefühle zu ernüchtern, jetzt gab es nur noch Jammern und Weinen … Es war, als risse sich die Seele vom Körper los …

Ich kann mich noch gut erinnern, wie alle einst von Innokentij gerührt wurden: er kam und sagte an Stelle seiner Grabrede nur dieses: »Er liegt im Sarge – lasset uns weinen,« das war alles, – und doch strömten unaufhaltsam aus allen Augen die Tränen. Es war so etwas wie eine allgemeine Erschütterung der Herzen. Die Frauen blickten lange in Saschas Gesicht, während er vorübergetragen wurde (es war dortzulande üblich, die Verstorbenen in offenen Särgen zum Friedhof zu tragen) und alle fanden, daß sein im Grunde genommen sehr alltägliches Gesichtchen ganz besonders erhaben und wunderschön sei … »Ach ja,« meinten sie, »es ist ordentlich darauf zu lesen: die Treue bis zum Grabe!«

Und was machts, wenn auch vielleicht nicht eben das darauf zu lesen war? Sie lasen ja doch nur, was ihre Augen sahen, – und das genügte ihnen.

Mehr wert als jede niedre Wahrheit
Ist ein erhabener Betrug.

Wie bebten die Lippen nervös, wie naß blickten die Gesichter vor Tränen; wie gerührt waren alle, und alle redeten sie ihn an:

»Schlafe, schlaf ein, gequältes Herzchen!«

In der Kirche herrschte eine andere Stimmung, eine womöglich noch gespanntere. Nicht wagte der Schwung des Redners auch nur auf einen Augenblick die heilige Harmonie zu unterbrechen, die sich, dank dem musikalischen Genius des Johannes aus Damaskus immer mehr und mehr um die Herzen breitete. Wie verzehrte seine poetische Klage, wie heilte sie die Wunde.

Ich geh auf Wegen unbekannt
Wohl zwischen Hoffnung hin und Bangen;
Der Blick erlosch, die Brust – verbrannt,
Und Mund und Ohren schlafbefangen;

Ich liege regungslos und stumm,
Ich kann nicht hören eure Klagen,
Und all der Weihrauch blau ringsum,
Sein Duft wird nicht zu mir getragen.

Doch schlaf ich auch auf ewig hier,
Die Liebe mein, sie bleibt bestehen,
Und ich beschwöre euch bei ihr,
Zum Himmel auf für mich zu flehen:

Oh, Herr! Wenn die Posaune schallt,
Am letzten Tag und Weltenende, –
Laß Deinen Diener ein alsbald
In Deine seligen Gelände.

Und ich kann Ihnen, meine besten Herrschaften, wahrhaftig nicht mehr berichten, als daß man in der Tat … Gott mit solchen Bitten bestürmte! … Und zudem mit Tränen, und mit welch einem Schluchzen! … Wie groß nach der Lehre der Kirche des rosigen Saschas Sünde war, – das wußten jene, die ihn beweinten, freilich nicht, aber so unermüdlich flehten sie, »ihn in die Seligen Gefilde« aufzunehmen, daß ich wirklich nicht weiß, wie man diesen Jammer der Seelen mit den genauen Bestimmungen der Gotteslehre in Übereinklang zu bringen vermöchte … Ich meinerseits würde bestimmt hieraus nicht klug werden.

Neuerdings wirft man uns häufig vor, daß wir so schlechte Redner seien. Aber ist das auch richtig? Es ist ja wahr, wir sind keine besonderen Redner, doch scheint es mir nicht einmal notwendig, überall dort zu reden, wo es nun einmal hergebracht ist. Es gibt Fälle, da es viel besser ist, zu weinen und in denen die Klagen »Laß ein« und »Vergib« viel schicklicher sind, als geschwollene Reden, die manch einer so schwingt, daß es ihn zum Schluß auf irgend etwas hinaus führt, das entweder den Verstand oder das Gefühl beleidigt. Erinnern Sie sich nur bitte an den Schillerschen Groß-Inquisitor. Darum liebe ich die Beerdigungen nach dem östlichen Ritus. Man kommt und geht … als wäre es auf den Ruf des Propheten Jesaias hin: »So kommet und lasset uns rechten?« … Aber warum rechten? Wer siegen wird, ist ja längst schon klar. Du aber, der Du alles vermagst, der Du dem Auge das Licht gabst und wieder nahmst und »die Schönheit« als etwas »Unwichtiges« vergehen ließest, – Du »vergiß« und »verzeih« und »trag nicht nach« all das, was er vor Dir verschuldet hat …

Die Welt ist Asche, Schutt und Rauch,
Ein Wirbel Sandes schnell vergeht sie,
Der Leib vergeht und die Gestalt,
Wie schnell ist alle Macht am Ende, –
O Herr, laß Deinen Knecht alsbald
In Deine seligen Gelände.

Immer wieder das gleiche, immer wieder dieses: »Vergib!«

Und man gedenkt des Gleichnisses vom reichen Mann, der »keinen fürchtete und vor niemand sich scheute«, und der dennoch, als man voller Eifer in ihn drang, zum Schluß sagte: »Ich wills tun,« – und man beruhigt sich. Denn Er, Der selber das Ohr erschaffen, um zu hören, wie wäre es denkbar, daß Er nicht täte, worum ihn die Stimmen so vieler gerührter Seelen bitten?

Und mag »das Grab auch dunkel für den Glauben« sein, schöner und rührender damit umgehen, als es die östlichen Christen tun, ist völlig undenkbar. Ja, wahrlich, Johannes von Damaskus war ein Poet von Geschmack!

Saschas Beerdigung brachte noch einen Vorfall und zwar einen mit der Witwe eines einstmaligen Würdenträgers. Es war eine Dame von hoher Herkunft, sie war klug und sehr gebildet und wurde dennoch »die Schlange« genannt. Es war ein dummer Spitzname, denn man nannte diese Dame nicht etwa ihrer Bosheit wegen Schlange, war ja doch kein Mensch da, dem sie irgend etwas angetan hätte, sondern einzig und allein ihres hochmütigen Benehmens wegen, über das viel geschwätzt wurde. Es hieß, sie liebe nichts, was aus ihrer Heimat stamme, nichts Russisches – die Sprache nicht und nicht den Glauben und die Sitten, sie verachtete alles, und zwar verachtete sie es nicht aus Leichtsinn und nicht mit der Launenhaftigkeit einer Mode, die man noch verzeihen könnte, – nein, sondern sie verachtete wohlfundiert, tief und aufrichtig und mit vollem Bewußtsein. Sie tadelte nichts und lehnte auch nichts ab, sie war der Ansicht, daß alles, was russisch war, nicht einmal der Aufmerksamkeit wert sei … Sie wunderte sich sogar darüber, daß die Geographen es für nötig hielten, Rußland auf den Landkarten überhaupt noch zu bezeichnen … Es gab damals solche Damen. Doch als ihr zu Ohren drang, daß alle einen Offizier beweinten, der sich aus Edelmut erschossen, befahl auch sie, die große Doppeltüre, die auf ihren Balkon führte, zu öffnen, weil Sascha dort vorübergetragen werden sollte, und trat mit der Lorgnette in der Hand heraus. Ich kann mich noch gut an sie erinnern: groß war sie und trug einen granatroten Pelz mit Zobel gefüttert und stand auf ihrem Balkon und schaute durch die Lorgnette.

Unser jugendlicher Sascha mit seinem unbedeckten Gesicht wurde von den Menschenwellen unten wie ein abgerissener Zweig vorübergetragen.

»Die Schlange« unterdrückte einen Seufzer und meinte zu der neben ihr stehenden Engländerin:

»Wahnsinnig ist die Jugend an jedem Ort, – zuweilen aber gleicht dieser Wahnsinn dem Heldentum, und das Heldentum, das ist es, was der Masse gefällt.«

Die Engländerin entgegnete:

» O, yes!« und fügte gleichzeitig hinzu, daß die von ihr wahrgenommene einmütige und allgemeine Bewegung sie interessiere. Aus Achtung vor dem Wunsche der Engländerin entschloß sich »die Schlange«, mit ihr zur Kirche zu gehen, wo der auf dem Sargdeckel dröhnende Hammer des Totengräbers hinter alles den letzten Punkt setzt.


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