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Siebentes Kapitel

Die Zeit verging; Pawlin erzog Ljuba ganz so, wie er es meiner Tante in der ersten Unterredung versprochen hatte. Während ich in meinem Gymnasialpensionat steckte, erhielt Ljuba häuslichen Unterricht bei jener Dame, und Pawlin zahlte das Schulkostgeld für sein Pflegekind mit der ihm eigenen Pünktlichkeit. Es ist klar, daß Ljuba hier keine großen Kenntnisse erwerben konnte, immerhin jedoch lernte sie viel mehr, als Pawlin seinerzeit für nützlich oder notwendig erachtet hatte. Ich war vollauf mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt und hatte Ljuba eigentlich bereits vergessen, da sah ich sie eines Tages, kurz nachdem ich auf die Universität gekommen war, plötzlich auf der Straße, erkannte sie sogleich und freute mich über das Wiedersehen. Ich war damals gegen achtzehn Jahre alt, Ljuba dagegen stand im vierzehnten. Und dennoch war sie schon erblüht und versprach, ein sehr schönes Mädchen zu werden, ihre schlanke und überaus graziöse Gestalt begann sich bereits zu runden, dichte, hübsch gelockte goldblonde Haare bedeckten ihren Kopf und wie reizend kontrastierten dagegen die schwarzen Augenbrauen und die langen dunklen Wimpern, unter denen zwei große dunkelblaue Augen hervorschauten. Ihre Schönheit machte mir einen solchen Eindruck, daß ich nicht verbergen konnte, wie sehr sie mich berührte, und so genierten wir uns beide voreinander und schieden, ohne uns recht ausgesprochen zu haben. Nach einem Jahr sah ich sie wieder und zwar in der Kirche zur Zeit der Frühmesse, Ljuba, die mir in der Zwischenzeit noch schöner erblüht zu sein schien, stand einige Schritte vor Pawlin, der sie, wie es mir vorkam, mit der tiefsten Zärtlichkeit betrachtete. Die acht Jahre hatten Pawlin wenig verändert, zudem hatte die Veränderung keineswegs zerstörend gewirkt: er begann grau zu werden und war ein wenig voller geworden, aber er sah für seine fünfzig Jahre noch ganz ausgezeichnet aus. Das Gewand, in dem er ausging, war immer noch das gleiche; Ljuba war, wenn auch bescheiden, so doch sehr ordentlich angezogen und hielt sich wie ein Fräulein, – man konnte Pawlin in seiner abgetragenen braunen Pekesche fast für ihren Lakai halten. Ich sagte Ihnen bereits, daß er hinter Ljuba stand, er hielt ihren Mantel und ihr gestricktes warmes Halstuch, das sie abgelegt hatte, da es in der Kirche ziemlich heiß war. Es war allen heiß, aber Ljuba schien es besonders heiß zu haben, ihre Gesichtsfarbe war dunkelrot wie Mohn und ihr Blick schien mir unruhig und verwirrt zu sein. Am merkwürdigsten dabei war, daß diese ganz offensichtliche Gespanntheit ihres Zustandes zunahm, je mehr sich der Gottesdienst seinem Ende näherte. Mir kam sogar vor, als hätte mein plötzliches Erscheinen zu dieser Gespanntheit beigetragen, denn Ljuba, die mich gesehen und erkannt hatte, hielt ununterbrochen ihre großen Augen, die unter den dichten und langen Wimpern hervorschauten, beobachtend auf mich gerichtet. Bald darauf erhielt ich auch den Beweis dafür, daß ich mich nicht getäuscht hatte; als die Messe zu Ende war und ich mich Ljuba, der Pawlin gerade ihre Oberkleider reichte, näherte, erreichte der Zustand ihrer Gespanntheit seine äußerste Höhe. Sie nickte mir nur leicht mit dem Kopfe zu und beeilte sich, in den Mantel zu schlüpfen, aber ihr Arm wollte den Ärmel nicht finden, dagegen schimmerte auf den gesenkten Wimpern ihrer niedergeschlagenen Augen eine große Träne, – allein es war keine Träne der Rührung, keine gute Träne, sondern eine Träne der Erbitterung, eine Träne des Zornes. Zweifellos litt Ljuba darunter, daß ich sie in Begleitung eines Lakais sah, in einer Lage also, in der die Anwesenheit eines Lakais der menschlichen Eitelkeit keineswegs schmeichelhaft sein konnte. Pawlin war nichts anzumerken, aber ich war davon überzeugt, daß er alles sehr wohl sah und einzuschätzen wußte; er ließ sich jedoch augenscheinlich hierdurch nicht stören und tat unbekümmert, was er tun mußte, und zwar ganz so genau und akkurat wie immer, er zog Ljuba an und richtete ihre Kleidung mit der Aufmerksamkeit eines Bedienten, aber auch das schien Ljuba noch zuviel zu sein: sie übersah ihn sozusagen und rückte von ihm ab, wie ein Täubchen zur Seite rückt, wenn sich eine Krähe neben ihm hinpflanzt.

Alte Erinnerungen stiegen in mir auf, ich mußte an den Respekt denken, den meine Tante vor diesem unnachsichtlichen Erfüller seiner Pflicht empfunden hatte, – und ich ärgerte mich über Ljuba: ich reichte ihr meine rechte Hand, meine linke jedoch Pawlin und redete ihn mit der größten Liebenswürdigkeit an: »Ich bin sehr erfreut, daß ich Sie wieder einmal sehe, Pawlin Petrowitsch, – verzeihen Sie, daß ich Ihnen die linke Hand gebe, sie kommt von Herzen.«

Er drückte mir die Hand mit kräftigem Druck und mir schien, daß auch in seinen Augen eine Träne schimmerte, obwohl es eine andere sein mochte, als die von Ljuba. Dieser Umstand entging Ljubas Aufmerksamkeit nicht und sie schlug die bislang gesenkten Augen auf: es war, als freute sie sich darüber, daß mit einemmal eine Art Gleichheit uns drei verband und strahlte deswegen. Pawlin dagegen war äußerlich ganz wie immer, und doch war auch in ihm ein Etwas, das wie eine verschwiegene und verhaltene Genugtuung aussah.

»Was sagen Sie zu Ljubowj Andrejewna?« fragte er, als wir die Kirche verlassen hatten, »... sie ist schon ganz erwachsen …«

»Ja, sie ist erwachsen und ist …« eigentlich wollte ich hinzufügen, wie schön sie geworden sei, aber ich überlegte, daß es vielleicht nicht recht sei, ihr das zu sagen und fügte hinzu, daß ich sie kaum wiedererkannt hätte.

»Freilich,« meinte Pawlin, »erinnern Sie sich nur … als sie damals zu mir kam … war sie noch ein ganzes Kind – und jetzt sind wir schon im fünfzehnten Jahr.«

Ich wunderte mich recht unangebracht darüber, daß es schon zehn Jahre her sei, daß Ljuba verwaist war. Damit war es für diesmal zu Ende, aber am nächsten Sonntage begegnete ich Pawlin und Ljuba aufs neue in der gleichen Kirche und nun sahen wir uns immer häufiger, bis ich endlich eines Tages Pawlin in der Kirche ohne Ljuba antraf und mich erkundigte, was das zu bedeuten hätte?

»Ljubotschka … ist nicht ganz gesund,« entgegnete mir der Portier, der Ljuba, wenn sie anwesend war, nie anders als Ljubowj Andrejewna nannte.

Ich fragte, was denn mit ihr geschehen sei?

Pawlin dachte ein wenig nach und sagte darauf mit einer unentschiedenen Handbewegung nicht eben gern:

»Vermutlich eine Einbildung …«

»Ist denn«, fragte ich, »ist denn Ljuba so?«

»Nein, Sie meinen vielleicht, daß sie Angst vor Krankheiten hätte, das ist es nicht, davor hat sie keine Angst, daran denkt sie nie, sogar im Gegenteil … sie schont sich nicht, aber … sonst nämlich … in ihrem Charakter steckt etwas … sowas nämlich …«

Und wieder trennten wir uns, allein diesmal sahen wir uns lange nicht mehr wieder, bis plötzlich Pawlin an einem Herbstabend völlig unverhofft zu mir kam und mir in aufgeregtem Tone die Mitteilung machte, daß Ljuba erkrankt sei.

»Vorigen Samstag«, erzählte er, »kam sie zu mir auf einen Sprung und wurde uns plötzlich krank, was alle sehr erschreckte. Anna Lwowna schickte mir ihren Hausarzt und kam sogar selber und auch der junge Herr kam … Jetzt geht es ihr aber etwas besser: sie hat ein wenig geschlafen und meinte, als sie aufwachte: ›Wie gerne würde ich etwas von meiner Mama hören!‹ Seien Sie bitte so gut und bemühen Sie sich zu uns. Sie hat nämlich auch an Sie gedacht, und möchte, wie gesagt, zu gerne über ihre Kindheit sprechen, und Sie haben ja ihre Mutter noch gekannt. Sie können der Kranken dadurch einen großen Liebesdienst erweisen.«

Ich erhob mich und folgte ihm.

»Aber, wissen Sie, wenn sie zuviel fragen sollte, erzählen Sie ihr nicht alles,« flüsterte Pawlin, als er sich anschickte, mich durch die verbotene Türe in seine Portiersbehausung zu führen.

Das Zimmer, das ich jetzt zum ersten Male zu Gesichte bekam, war sehr klein, aber sehr sauber und gemütlich; schon beim ersten Anblick erinnerte es an eines jener hübschen Kästchen, in denen die hübschen sächsischen Püppchen liegen: das Püppchen war die fünfzehnjährige Ljuba.


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