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Neuntes Kapitel

In heller Schar liefen wir in das kleine Gasthauszimmer, das Sascha bewohnt hatte, und mußten dort ein entsetzliches Bild wahrnehmen: mitten im Zimmer, das nur von einer heruntergebrannten Kerze erhellt wurde, stand Saschas blasser und erschreckter Bursche und hielt den Körper in seinen Armen, während Saschas Kopf auf seiner Schulter lag. Die Arme hingen leblos herunter, die im Knie gebeugten Beine aber machten jene krampfhaften Bewegungen, als kitzele man ihn und als lache er.

Vergessen war die ganze Geldgeschichte, die dazu geführt, oder zum mindesten beigetragen hatte, die Ursächlichkeit des Erscheinens der »Hippokratischen Züge« auf dem jugendlichen Antlitz des armen Sascha zu begründen … Die Angst vor dem Skandal war ebenfalls Gott weiß wohin verschwunden, – alles lief, alles eilte, der Verwundete wurde aufs Bett gelegt, Ärzte wurden geholt und man tat alles Erdenkliche, um ihm zu helfen, obwohl er schon längst jenseits all der Mittel, mit denen ihm hätte geholfen werden können, war … Man versuchte, das Blut zu stillen, das reichlich aus der Wunde quoll, die die große Kugel, welche mitten ins Herz getroffen, verursacht hatte, man rief ihn beim Namen und schrie ihm ins Ohr: »Sascha! Sascha! lieber Sascha! …« Aber es war nur zu offenbar, daß er nichts mehr hörte, – er losch aus. Immer kälter wurde er und es war noch keine Minute vergangen, da streckte er sich lang auf seinem Bett aus.

Viele weinten und auch der Diener schluchzte laut … Der Zimmerkellner Marko drängte sich durch die Schar an den Leichnam heran und sagte leise, seine fromme Gesinnung verratend:

»Meine Herren, es ist nicht gut zu weinen, wenn eine Seele sich vom Körper trennt. Besser ist es, zu beten,« und bei diesen Worten schob er uns ein wenig auseinander, um Platz zu machen und stellte eine tiefe Schale mit reinem Wasser auf den Tisch.

»Was ist das?« fragten wir Marko.

»Wasser,« entgegnete er.

»Und wozu?«

»Damit seine Seele darin untertauche und sich darin bade.«

Marko legte den Selbstmörder zurecht, so daß er jetzt auf dem Rücken lag, und drückte ihm die Augenlider zu …

Wir bekreuzigten uns und weinten, der Bursche stürzte auf die Knie und schlug mit der Stirn auf den Boden, und zwar so heftig, daß man es hören konnte.

Gleich darauf kamen auch die zwei Ärzte gelaufen, – unser Regimentsarzt und der Polizeiarzt, – und mußten beide das »Faktum des Todes konstatieren«, wie man sich neuerdings auszudrücken pflegt.

Sascha war tot.

Warum nur? weswegen hatte er sich getötet? Und wo war das Geld und wo der Dieb, der es gestohlen? Und wie sollte diese Geschichte weitergehen, die wie der Inhalt eines Daunenkissens in alle vier Winde geflogen und an jedem von uns hängengeblieben war?

Alles das war überaus verwirrt, die Köpfe gingen kunterbunt durcheinander, aber ein Leichnam versteht es trotzdem, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und dafür zu sorgen, daß man vor allem sich um ihn bekümmere.

In Saschas Zimmer erschien nach und nach die Polizei, gefolgt von Ärzten und den Feldschern, und es wurde das Protokoll aufgenommen. Wir waren hierbei überflüssig und wurden gebeten, uns zu entfernen. Man entkleidete ihn und schritt zur Besichtigung seiner Gegenstände, wobei nur wenige Personen als Zeugen von der Polizei zugelassen wurden, unter ihnen befand sich der Zimmerkellner Marko, unser Regimentsarzt und endlich in der Rolle eines Deputierten einer von uns Offizieren. Und versteht sich, das Geld wurde nicht gefunden.

Die Pistole fand man unter dem Tisch, auf dem Tisch hingegen ein Blatt Papier, auf welchem Sascha schnell und hastig hingekritzelt hatte: »Papa und Mama, lebt wohl, ich bin unschuldig.«

Um das hinzuschreiben, brauchte er natürlich nicht mehr als zwei Sekunden.

Der Bursche, der ja Augenzeuge von Saschas Tod war, sagte aus, der Verstorbene wäre hereingelaufen und hätte, ohne sich erst zu setzen, diese Zeilen hingeschrieben und sich dann stehend in die Brust geschossen, wonach er ihm in die Arme gesunken wäre.

Und mehrere Male wiederholte der Soldat diese Erzählung und immer in der gleichen Fassung und zwar vor jedem, der ihn danach fragte; er stand sehr ruhig und zwinkerte nur heftig mit den Augen; als aber Awgust Matwejewitsch nach einiger Zeit an ihn herantrat, um ihn genauer auszufragen und ihm fest ins Auge blickte, da wendete sich der Diener ab und bat den Rittmeister:

»Euer Hochwohlgeboren wollen mir gestatten, hinauszugehen, um mich zu waschen, denn an meinen Händen klebt christliches Blut.«

Und natürlich gestattete man ihm, hinauszugehen, denn er war in der Tat arg mit Blut bespritzt, was auf uns alle naturgemäß einen schweren und grauenhaften Eindruck machte.

All das geschah um die Zeit der Dämmerung; die Morgenröte war noch kaum hervorgekrochen, doch schon drang ein blasses Zwielicht durch das Fenster.

In den Zimmern, die die Offiziere bewohnten, standen die Korridortüren weit offen und überall brannten noch die Kerzen. Und in zwei oder drei dieser Zimmer saßen die Offiziere und ließen Hände und Köpfe sinken. Sie sahen alle mehr oder minder jetzt wie Mumien aus und fast gar nicht wie lebende Menschen. Der Qualm der Trunkenheit hatte sich wie ein Nebel verzogen und keine Spur hinterlassen  … Und all die Gesichter drückten Verzweiflung und Kummer aus …

Armer Sascha, wenn sein Geist noch Interesse am Irdischen gehabt hätte, welchen Trost hätte er darin finden können, zu sehen, wie sehr ihn alle gern hatten und wie bitter es allen ums Herz war, daß sie ihn, den Jugendlichen, den Blühenden, den so von Leben erfüllten, überdauern mußten!

Aber noch immer lastete auf ihm ein Verdacht … ein fürchterlicher, ein abscheulicher Verdacht. Aber keiner hatte gewagt, vor diesen Schnauzbärten, deren Gesichter zu Boden hingen und aus deren Augen Tränen strömten, jetzt von diesem Verdacht zu sprechen.

»Sascha! Sascha! Armer junger Sascha! was hast du dir angetan?« flüsterten die Lippen und das Herz hielt mit einem Ruck still und vor einem jeden von ihnen stieg die Frage auf: »Und du, trägst du nicht selber ebenfalls Schuld daran? Sahst du denn nicht, wie er war? Hieltest du etwa die anderen zurück, als sie ihn unentwegt quälten? Hast du etwa gesagt, daß du ihm glaubst, und die Unverletzbarkeit seines Geheimnisses anerkennst? Sascha! Armer Sascha! Und was das wohl für ein Geheimnis gewesen sein mag, das er mit sich in jene andere Welt genommen, in der er jetzt eben mit der Enthüllung eben dieses Rätsels angelangt ist … Oh, und natürlich ist er rein, rein ist er von diesem ungeheuerlichen Verdacht und … und Verdammnis dem, der ihn zu diesem Schritt getrieben!

Wer aber war es, der ihn dazu getrieben?


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